»Arbeitslose: »So knüppeldick war's noch nie«
Die Experten waren einer Meinung. »Schwieriger denn je Zuvor« und »bislang nicht erlebte Ungewißheit« schrieben Beamte der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit in einer vertraulichen Studie über den westdeutschen Arbeitsmarkt 1974.
Ihr »Alternativen-Tableau« enthält Voraussagen, die -- unter verschiedenen Annahmen gemacht -- allesamt wenig Gutes verheißen: 385 000 Arbeitslose im günstigsten, eine Million oder mehr im ungünstigsten Fall.
Abwärtsgang ·der Konjunktur und Ölkrise bescherten den Wirtschaftspolitikern ein brisantes Gemisch. Konnten sich Bonns Regierende bislang gegenüber den Inflationsvorwürfen stets mit dem Argument entlasten, in der Bundesrepublik sei die Zahl der Arbeitslosen gering wie in kaum einem anderen Land, so droht jetzt der westdeutschen Volkswirtschaft die Anpassung an ame-
* Protest-Demonstrationen gegen Entlassungen bei den Deutschen Edelstahlwerken in Bochum.
rikanische und englische Zustände. Dort grassiert seit Jahren schon die Stagnation: Arbeitslosen-Quoten zwischen zwei und fünf Prozent bei Preissteigerungsraten von bis zu zehn Prozent.
Auch der Kanzler möchte seine alte Arbeitsplatz-Garantie nicht mehr in reiner Form aufrechterhalten: Vor dem Bundestag ließ er das Volk wissen, es habe nicht mehr jeder Deutsche Anspruch auf »seinen« Arbeitsplatz, sondern nur noch auf »einen«.
Helmut Schmidt verbreitete im Kreis seiner Beamten offen seine Befürchtung, im kommenden Jahr könnte der Bund mehr als je zuvor genötigt sein, durch Schuldenaufnahme und zusätzliche Aufträge an die Wirtschaft Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
Beruhigende Erklärungen aus Bonn wechseln mit ersten Maßnahmen, die Konjunktur und Beschäftigung zu stützen. Anwerbe-Stopp für Gastarbeiter, Wiedereinführung des Bauherren-Steuerparagraphen 7b, Aufhebung der Investitionsteuer und zusätzliche Ausgaben-Programme von Bahn und Post wurden verordnet oder stehen kurz bevor.
Das Bild von Amts wegen gespielter Gelassenheit störten am vergangenen Donnerstag 8000 buhende und pfeifende Arbeitnehmer der Textil- und Bekleidungsindustrie, die mit Transparenten »Das Zins-Niveau macht uns und »Brandt & Co -- Textil-Mörder« auf den Bonner Marktplatz zogen. Dem Protest-Redner Karl Buschmann, Vorsitzender der Gewerkschaft Textil -- Bekleidung, lief es »eiskalt über den Rücken": Seine Gewerkschaft werde es nicht zulassen, »daß die Arbeitnehmer auf dem Altar einer dogmatischen Wirtschafts- und Stabilitätspolitik geopfert werden«.
Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Heinz Oskar Vetter, wütete, die Regierung betätige sich in der Wirtschaftspolitik mit der »globalen Holzhammer-Methode« und lasse sich »von der Bundesbank manipulieren«.
Der für die Hochzinsen zuständigen Frankfurter Notenbank bescheinigte Vetter, ihr gehöre »der Marsch geblasen«. Mit dem Wirtschaftsminister Friderichs rechnete er ab, seine Politik erzeuge statt der versprochenen Stabilität »höhere Arbeitslosigkeit bei andauernder Preissteigerung«.
Vetters Befürchtung teilen offenbar auch die Rechner der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit. In ihrem internen Gutachten heißt es, »daß die Ölkrise die kurzfristig ohnehin vorhandenen kontraktiven Entwicklungstendenzen der Konjunktur verstärkt« -- daß also der durch das Bonner Stabilitäts-Programm vom Mai eingeleitete Abschwung der Wirtschaft wegen der Energieverknappung rasanter verläuft, als die Konjunkturlenker planten.
Im November waren 332 000 Bundesbürger ohne Job -- das sind 1,5 Prozent aller abhängig Beschäftigten (November 1972: 1,1 Prozent). Diese bislang nicht bedrohliche und im internationalen Vergleich niedrige Arbeitslosenquote könnte rasch anwachsen. Schon jetzt ist die Tendenz ungünstig: Von August bis November wuchs die Zahl der Arbeitslosen über das saisonal Übliche hinaus, um 50 Prozent, die Zahl der Kurzarbeiter schnellte gar um das Achtfache in die Höhe, von 11 300 auf 105 200.
Seit langem auch überstieg die Zahl der Kurzarbeiter und Stempler erstmals das Angebot an offenen Stellen. Finanzminister Helmut Schmidts Konjunktur-Staatssekretär Karl Otto Pöhl sah eine böse Parallele: »Das ist vergleichbar mit der Zeit vor der Wirtschaftskrise von 1966/67.«
Im nächsten Jahr könnte die Arbeitslosenquote nach Schätzung der Nürnberger Bundesanstalt im schlimmsten Fall auf 4,8 Prozent der abhängig Erwerbstätigen steigen. Dann wären in der Bundesrepublik mehr als doppelt so viele Bürger arbeitslos wie im bislang schwersten Krisenjahr 1967.
Das große Risiko für Beschäftigte wie Konjunkturpolitiker liegt in dem Umstand, daß die sich anbahnende und seit Monaten sichtbare leichte Rezession durch die parallel laufende Ölkrise zu schwer durchschaubaren Komplikationen führt: Denn durch sie kann sowohl der programmierte Nachfragerückgang verschärft, etwa bei Automobilen, und gleichzeitig die Güterproduktion beschränkt werden, etwa bei Faserprodukten und Plastiktüten.
»Das ist ein ganz neues Spiel«, klagt Schmidts Konjunktur-Beamter Dieter Hiß. Nie zuvor standen die Bonner Ökonomen vor so heiklen wirtschaftspolitischen Problemen wie gegenwärtig.
Hatten die Konjunkturlenker bislang entweder gegen eine zu geringe Nachfrage anzugehen (etwa in der Rezession von 1966/67) oder mit einem zu geringen Angebot fertigzuwerden (etwa beim jüngsten Boom), so müssen sie nun eine Nachfrage- und Angebotsschwächung zur gleichen Zeit bekämpfen.
Die mangelnde Konsum- und Investitionslust, die Arbeitslosigkeit hervorruft, müßte durch Staatsaufträge und billiges Geld bekämpft werden. Die geschrumpfte und mangels Energie nicht zu steigernde Güterproduktion aber könnte, weil sie die Preise nach oben treibt, weitere Nachfragebremsen erforderlich machen -- eine paradoxe Situation, in der alle herkömmlichen Rezepte versagen müssen.
»Wir haben alles mögliche schon gehabt«, konstatierte Hans-Jürgen Schmahl vom Hamburger Wirtschafts-Institut HWWA, »aber das hat es noch nicht gegeben. Diese Mixtur haut einen ja um.« Die Deutsche Volkswirtschaftliche Gesellschaft in Köln spricht von einer »konjunkturellen Horror-Kombination«.
Der Rückgang der Konjunktur und vor allem die Ölkrise treffen nach Schätzungen der Experten vor allem die Automobilbauer, die Eisen- und Stahlgießereien, die Kautschuk- und Asbest-Industrie, den Maschinenbau und den Eisenerz-Bergbau.
Während den Automobilfabriken die Käufer wegbleiben, wird für die Chemie allmählich der Rohstoff knapp. Im Bonner Wirtschaftsministerium erfuhren vorige Woche Abgesandte der chemischen Industrie von Repräsentanten der Mineralölwirtschaft, daß im ersten Halbjahr 1974 die Leichtbenzin-Lieferungen für die Petrochemie um 15 Prozent schrumpfen werden.
Folge: Die Chemiekonzerne müssen ihre Verkäufe an die Kunststoff-Verarbeiter so drosseln, daß es in Einzelfällen zu 40prozentigen Produktionskürzungen kommt. Um böse Sekundärfolgen zu verhindern, wollen die Chemiker eine Clearingstelle einrichten, die den Rohstoff optimal auf die einzelnen Fabriken verteilt,
Eine Beschäftigungskatastrophe bei Textil.
Aber auch jene Branchen, die zu den notorischen Notleidern im Lande zählen und ohnedies bereits durch die Kreditsperren und das Bonner Stabilitätsprogramm in Konkurs und Arbeitslosigkeit getrieben wurden, könnten im nächsten Jahr noch weitere Beschäftigungseinbußen erleiden. Das Baugewerbe müßte nach den Nürnberger Schätzungen noch einmal ein Beschäftigungs-Minus, die ohnedies notleidende Textilindustrie eine weitere Schrumpfung hinnehmen.
Schon bevor die Ölsperre wirksam wurde, litten gefährdete Regionen am westdeutschen Wohlstandsrand, etwa in Südbayern, der Westpfalz, Ostfriesland und der Westküste Schleswig-Holsteins Konjunkturnot. In Passau lag die Arbeitslosenquote schon im November bei 4,1 Prozent, im pfälzischen Pirmasens bei 4,2, im niedersächsischen Leer bei 4,5, in Emden gar bei 5,3 Prozent. Auch im als fein und nobel geltenden Westerland zog Not ein: 4,4 Prozent der Inselbewohner, die über kein arbeitsloses Einkommen verfügen, sind derzeit joblos -- doppelt soviel wie in der vergangenen Herbstsaison.
Eine »Beschäftigungskatastrophe« sagte der Gewerkschaftsvorstand Karl Buschmann für die Textilindustrie voraus: 42 000 Arbeitnehmer mußten in den vergangenen zwölf Monaten ihren Job aufgeben, insgesamt 20 000 sind derzeit ohne Arbeit.
200 Betriebe der Branche, die über asiatische und osteuropäische Billigpreis-Konkurrenz und den modischen Lumpen-Look klagt, steckten 1973 auf.
Bis zur vergangenen Woche stieg die Zahl der Kurzarbeiter auf 100 000. Willi Werner, Bezirksleiter der Gewerkschaft Textil in Baden-Württemberg, resignierte: »In der Textilindustrie kommt jetzt alles auf einmal, Importdruck, Stabilitätspolitik, Hochzinspolitik, verändertes Verbraucher-Verhalten -- ist ja alles Mode heute, mit jedem Gelump kann man rumlaufen -- und dann noch die Ölkrise. So knüppeldick war"s noch nie.
Nicht besser ergeht es Deutschlands Fabrikanten der Herren- und Knabenkonfektion. Allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres wurden in der Bundesrepublik 13,8 Prozent weniger Sakkos, 6,1 Prozent weniger Anzüge und 5,9 Prozent weniger Herrenmäntel verkauft als im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres. Bis zum Jahresende rechnet die Haka (Herren- und Knabenoberbekleidungsindustrie) gegenüber 1972 gar mit einem Umsatzrückgang von rund 20 Prozent.
»Die Situation war noch nie so gefährlich.«
Die Zurückhaltung der Käufer bescherte den 300 westdeutschen Konfektionsbetrieben, die im vergangenen Jahr Waren im Werte von vier Milliarden Mark produzierten, freudlose Zeiten: Von den 90 000 Beschäftigten der Haka-Zunft verloren rund 10 000 Zuschneider und Näherinnen ihren Arbeitsplatz, weitere 40 000 wurden auf Kurzarbeit gesetzt. In einigen Betrieben sind die Aufträge so zusammengeschrumpft, daß die Belegschaften nur einen Tag in der Woche arbeiten dürfen. Andere Firmen legten Betriebspausen bis zu 14 Tagen ein.
Selbst die Großen der Branche mußten schwere Einbußen hinnehmen. Die Odermark-Werke in Goslar zum Beispiel waren gezwungen, für ihre 2600 Beschäftigten »wochenweise Kurzarbeit einzulegen«. Denn allein im November sackte ihr Umsatz um 20 Prozent gegenüber dem gleichen Monat des Vorjahres. Odermark-Geschäftsführer Hermann Scheps: »Dabei haben wir versucht, die Krise mit qualitativ hochwertigen Sonderangeboten zu überwinden. Leider mit geringem Erfolg.«
Nach einer Erhebung des Kölner Haka-Verbandes gaben bereits 13 Firmen ganz auf, weitere »12 Betriebsstätten« wurden stillgelegt. Für die nächste Zeit erwarten die Verbandsfunktionäre eine mindestens ebenso große Zahl von Stillegungen.
In einem offenen Brief an »Herrn Willy Brandt« forderte der Haka-Verband, die Konjunkturbremsen zu lockern: »Wenn Sie nicht schnellstens eingreifen und von Ihrer Kompetenz, die Richtlinien der Politik zu bestimmen, Gebrauch machen, tragen Sie und die Bundesregierung die alleinige Verantwortung für diese katastrophale Entwicklung.«
Nicht viel anders sieht es in der Schuhindustrie aus, die im notleidenden Bezirk Pirmasens ihr Dasein fristet und das Mirakel beklagt, daß beispielsweise italienische Fabriken mehr Chic für weniger Geld liefern: »Für uns war die Situation noch nie so gefährlich«, klagt der Leder-Gewerkschaftsführer Adolf Mirkes im Akkord mit den Fabrikanten -- derzeit werden sechs von zehn Paar Schuhen in der Bundesrepublik importiert.
Die Spinner, Weber, Kleider- und Schuhmacher gehören freilich zu einer Branche, der der Kieler Nationalökonom Professor Herbert Giersch keine Träne nachweint, weil dieser Wirtschaftszweig seine Konkurrenzfähigkeit unwiederbringlich verloren hat. Giersch warnt davor, die marode Branche künstlich durch Subventionen und Einfuhrstopps zu konservieren: »Dann würde man mit viel Geld Arbeitsplätze hier erhalten und in den Entwicklungsländern vernichten.«
Auflassung der Zins- und Kreditsperren verlangen unterdes auch die Bauunternehmer. »Der jetzigen sehr kritischen Phase wird im Januar die Krise folgen, wenn es so weitergeht«, urteilt Wolfgang Barke, Hauptgeschäftsführer des Zentralverbandes des Deutschen Baugewerbes. Barke: »Kein Zweifel, die Lage ist besorgniserregend, durchaus schlecht im Wohnungsbau, schlecht im allgemeinen Hochbau, sehr schlecht im Tiefbau.«
Das Bauhauptgewerbe hat einen Auftragsbestand, der die Branche nur noch für zwei Monate auslastet -- das niedrigste Niveau seit 25 Jahren. Aus dem Gewerbe sind nach den Unterlagen des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie in Frankfurt in diesem Jahr etwa 70 000 Beschäftigte abgewandert, 30 000 stempeln.
Die Bauindustrie schätzt, daß nach einem harten Winter im ersten Quartal 1974 die Beschäftigungszahl um weitere 200 000 zurückgeht. Die Hälfte davon wird nach bisherigen Erfahrungen von anderen Branchen aufgesogen, so daß mit 100 000 Arbeitslosen zu rechnen ist.
Kurzarbeit als Beschäftigungspuffer in diesem Gewerbe war bislang kaum bekannt. Hermann Wütherich, vom baden-württembergischen Bauverband, stellte fest: »Ich beobachte die Branche seit 20 Jahren und habe mich zum erstenmal mit Anfragen unserer angeschlossenen Firmen zu beschäftigen, ob man mit Kurzarbeit Arbeitnehmer halten kann. Uns fehlt aber jede Erfahrung.«
Die Verbände schätzen, daß im nächsten Jahr -- auch bei staatlichen Hilfsmaßnahmen wie der bereits beschlossenen Förderung von zusätzlichen 50 000 Sozialwohnungen -- die Aufträge im Wohnungsbau um 25 Prozent sinken. Heinz Flieger von der Bauindustrie: »Der Wohnungsmarkt ist ruiniert, und nur im öffentlichen Bau gibt es Hoffnung.«
»VW hat vorerst noch keine Bauchschmerzen.«
Die Bauwirtschaft hätte die Krise indes auch ohne die Energieknappheit voll getroffen, die Autoindustrie dagegen verdankt den Rückschlag im Inlandsgeschäft vor allem der Rache Arabiens. Die fatale Situation von Konjunkturabschwung und Energienotstand entlarvte die Brüchigkeit jener Säulen, auf denen in den letzten Jahren die hohen Wachstumsraten der westdeutschen Wirtschaft basierten: auf den Automobilbauern und der chemischen Industrie.
Kaum hatte Wirtschaftsminister Friderichs das Sonntagsfahrverbot auf Deutschlands Straßen verkündet, kaum hatte Bonn auf den Autobahnen Tempo 100 verfügt, da sackte der Auftragseingang in der an große Stückzahlen gewohnten Autobranche um fast 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr ab. Über 350 000 Autos, mehr als eine Monatsproduktion, stehen auf Werkswiesen. Gebrauchte Fahrzeuge, in früheren Krisenzeiten gern gekauft, lagern im Rost.
Allein die Opel-Werke in Rüsselsheim mußten im November rund 30 000 Neuwagen, vornehmlich der Hubraum-Klasse ab 1,7 Liter, erstmals wegstellen. Bei Ford liegen nach Branchen-Schätzungen noch einige Tausend Mobile mehr auf dem Neuwagen-Friedhof.
Ford-Einkaufschef Alfred Langer tröstete sich über Absatznöte des Kölner Werks, das freilich schon vor der Ölkrise mit seinen klobigen Modellreihen »Consul« und »Granada« an den Kunden vorbeifuhr: »Wir befinden uns mit Daimler und BMW in bester Gesellschaft, die können ihre großen Modelle auch nicht mehr verkaufen.«
Dies ist nur insoweit richtig, als Daimler-Benz im Inlandsgeschäft nach Aussagen eines Firmensprechers »eine gewisse Zurückhaltung« spürt. Dank der wie stets mächtigen Lieferfristen von teilweise über einem Jahr aber droht dem Stuttgarter Unternehmen noch lange keine Gefahr, zumal das Exportgeschäft ungebrochen ist.
Auch das VW-Werk hat, so der niedersächsische Wirtschaftsminister und VW-Aufsichtsrat Helmut Greulich, »vorerst keine Bauchschmerzen, im Moment brauchen die noch weitere Arbeitskräfte«. Grund: In den USA geht das VW-Geschäft nicht trotz, sondern wegen der Ölkrise gut. In diesem Jahr werden die Wolfsburger rund 465 000 ihrer benzinsparenden Fahrzeuge in den USA absetzen, fast ebenso viele wie 1972 ungeachtet exportmindernder Mark-Aufwertung und viermaliger Preiserhöhung während zwölf Monaten.
Kurzarbeit traf denn auch beinahe ausschließlich Opel und Ford. Opel verschrieb 40 000 seiner 57 000 Beschäftigten in dieser und in der dritten Januarwoche Zwangsurlaub. Ford begann mit der Kurzarbeit bereits Anfang Dezember, 8000 Autowerker, davon 5000 Türken, arbeiten weniger. Durchschnittlicher Verdienstausfall je Woche: 15 bis 35 Prozent.
Die armen Regionen trifft es besonders hart,
Der Autobranche, der die Konjunktur-Auguren ohnedies für das nächste Jahr ein Absatz-Minus von fünf Prozent prophezeit hatten, wird, falls eine anhaltende Energiekrise die Kauflust der Westdeutschen noch weiter dämpft. nach den. neuesten Schätzungen sogar über 10 Prozent weniger Wagen produzieren als in diesem Jahr.
Konjunkturforscher Schmahl meint. daß den Automobilfabriken und ihren Arbeitnehmern auch gar nicht zu helfen sei: »Da nützt keine allgemeine Beschäftigungspolitik mehr, das Autogeschäft kriegt man mit Globalmaßnahmen nicht wieder hoch, da kann nur noch die Bundeswehr etwas mehr Lkw und Reifen kaufen«
Die neue Krisenmischung trifft jene armen Bezirke der Republik, die ohnedies, wie etwa der pfälzische Landkreis Kusel, mit einem Brutto-Inlandsprodukt von 4760 Mark pro Kopf nicht viel reicher sind als die offiziell ärmsten EG-Europäer in Italiens Provinz Kalabrien. Eine ölbedingte Produktionsstockung an Montagebändern und in Destillationen könnte leicht in den Regionen, denen Wirtschaftspolitiker in Bonn und in den Landeshauptstädten durch staatlich geförderte Industrieansiedlungen helfen wollten., die Arbeitslosenrate weiter nach oben treiben.
Vor Jahren hatte beispielsweise Daimler-Benz in der ländlichen Südpfalz eine Lkw-Fabrik gebaut, Opel in Kaiserslautern Fertigungsstätten für Zubehör. VW schließlich hatte im nordhessischen Baunatal die Getriebefertigung aufgenommen und die Illusion zukunftssicherer Produktion geweckt. Bei flauem Absatz kann dort nun leicht die Anfälligkeit industrieller Monostrukturen zutage treten. Denn eine Krise schlägt an der Peripherie meist härter durch als in den Zentren mit vielschichtiger Wirtschaftsstruktur.
Ärger noch als den Regionen, in die Struktur- und Regionalpolitiker Fabriken verpflanzt haben, ergeht es jenen Armutsgebieten, in denen die überkommenen kleingewerblichen Betriebe die Haupteinkommensquelle sind.
Schon im Dezember kündigten Unternehmer in Niedersachsen, wo die Arbeitslosenquote derzeit schon 2,1 Prozent erreicht und 10 000 Beschäftigte kurzarbeiten (2500 im September), vorsorglich für weitere 11 565 Beschäftigte Kurzarbeit an. »Nach der augenblicklichen Lage«, sorgt sich Niedersachsens Wirtschaftsminister Helmut Greulich, »müssen wir davon ausgehen, daß diese Zahlen noch steigen.«
Schleswig-Holsteins SPD-Chef Jochen Steffen ließ ausrechnen, wie bundesweite Arbeitslosigkeit zwischen Husum und Flensburg einschlägt: »Bei drei Prozent im Bundesdurchschnitt haben wir 15 bis 20 Prozent im nördlichen Schleswig-Holstein.« Steffens Trost: »Die Hälfte der Bevölkerung weiß es noch gar nicht.«
Bis zu welcher Marke die Zahl der Arbeitslosen in den nächsten Monaten wirklich steigt, darüber kann derzeit niemand Verläßliches sagen. Denn beinahe alle relevanten Bezugsgrößen sind unbekannt, beispielsweise
* das Ausmaß der arabischen Ölkürzungen ebenso wie die Möglichkeiten, Öl durch andere Energien zu ersetzen;
* die Beziehungen zwischen gesamtwirtschaftlichem Wachstum und der Ölmenge;
* die Veränderung der Arbeitsproduktivität unter dem Einfluß der Öl- und Wirtschaftsflaute.
Ohne die 15 bis 20 Prozent Ölsperre, so hatten die Konjunktur-Sachverständigen bei der Bundesregierung in ihrem jüngsten Jahresgutachten vorausgesagt, würde das reale Bruttosozialprodukt (Summe aller Güter und Dienstleistungen zu konstanten Preisen) 1974 um 2,5 Prozent wachsen. Bei einer ebenfalls angenommenen Steigerung der Arbeitsproduktivität von vier Prozent wären mi kommenden Jahr durchschnittlich 385 000 Bundesbürger und Gastarbeiter ohne Job -- etwa ebenso viele wie jetzt.
Eine Prognose, die den möglichen Energiemangel nicht einrechnet, hat freilich nur Papierwert. Bei einem angenommenen 15- bis 20prozentigen Rückgang der Mineralölversorgung ist nach der Schätzung der Institute bestenfalls mit einer Stagnation des Bruttosozialprodukts zu rechnen. Das aber bedeutet bei sonst gleichen Annahmen, so die Nürnberger Untersuchung, 560 000 deutsche und 50000 ausländische Arbeitslose in der Bundesrepublik. Nach dem gleichen Rechenschema sind bei einem Minus-Wachstum sogar mehr als 1,025 Millionen Arbeitslose möglich.
Die Millionen-Rechnung basiert jedoch auf der Annahme, daß die Arbeitnehmer sich durch vermehrte Arbeitsleistung gegenseitig den Arbeitsplatz streitig machen (vier bis fünf Prozent Produktivitätssteigerung, siehe Graphik Seite 26).
Die Konjunkturlenker schalten von stop auf go.
Tatsächlich wird die Produktivitäts-Annahme der Nürnberger Beamten von den Forschern der Wirtschaftsinstitute als zu hoch kritisiert. HWWA-Konjunktur- Analytiker Schmahl etwa glaubt: »Das Typische wird doch sein, daß dann alle 14 Tage mal auf Öl gewartet wird oder auf andere Rohstoffe, die auf Öl basieren.« Gerade solche Friktionen aber würden es unwahrscheinlich machen, daß die Arbeitsleistung derart stiege. Ergebnis: weniger Produktivitätszuwachs und weniger Arbeitslose, als im Nürnberger Modell errechnet. Doch auch diese Perspektiven sind für die SPD-geführte Regierung in jedem Fall unangenehm genug, selbst wenn nur etwa eine halbe Million stempeln gehen muß.
Früher als geplant und noch bevor sie die ersten Erfolge ihres strammen Antiinflations-Programmes verbuchen konnten, glauben die Bonner Konjunkturlenker nun von stop auf go umschalten zu müssen. Dabei befanden sie sich auf dem besten Wege, mit hohen Zinsen, knappem Geld und drastischen Ausgabenkurzungen in den Etats von Bund, Ländern und Gemeinden die seit zwei Jahren anhaltende Geldwert-Erosion aufzuhalten.
In Europa sind die Westdeutschen -- wenn auch mit 6,6 Prozent im Oktober immer noch kräftig dabei -- bereits wieder an das Ende der Inflationsskala gerutscht. Jetzt aber muß Bundesfinanzminister Helmut Schmidt seine Wahlkampfparole »fünf Prozent Preissteigerung sind besser als fünf Prozent Arbeitslosigkeit« auf fatale Weise in praktische Politik umsetzen: Bei Preis-Steigerungsraten von dann wahrscheinlich acht Prozent muß er auch noch Hunderttausende von Arbeitslosen unterstützen.
Ohne Abstimmung mit Bundeswirtschaftsminister Hans Friderichs. der sich gern als liberaler Hüter des Geldwertes hervorgetan hätte, kündigte Schmidt vor Parteifreunden und Mikrophonen ein umfassendes Anstoll-Programm an. An diesem Mittwoch wird das Kabinett zunächst einmal das Stabilitätsprogramm zu Grabe tragen: die Runde wird
* die elfprozentige Steuer auf Investitionen aufheben;
* die Staatshilfen für den Eigenheimbau nach Paragraph 7 b Einkommensteuergesetz wieder zulassen; ist die steuersparende degressive Abschreibung auf Maschinen wieder einführen.
Da allerdings die Bonner Experten nur zu gut wissen, daß sich kaum ein Unternehmer oder ein Bauwilliger durch Steuergeschenke allein verleiten läßt, bei miesen Konjunkturaussichten Geld auszugeben, soll die Bundesbank nach Schmidts Plänen das noch immer sehr teure Geld verbilligen. SPD-Wirtschaftsexperte Herbert Ehrenberg: »Wenn die Bonner Maßnahmen greifen sollen, muß die Kredit-Politik gelockert werden. Ich hoffe, die Bundesbanker begreifen das.«
Vorsorglich reiste daher vergangenen Donnerstag Schmidts Staatssekretär Karl Otto Pröhl zum Frankfurter Zentralbankrat, um die noch auf Stabilitätskurs stehenden Währungshüter, die bei Wirtschaftsminister Friderichs volles Verständnis finden (Friderichs: »Ich bin mit Schmidt nur noch über die Notenbank-Politik uneins"), auf den von Schmidt gewünschten Weg zu bringen bisher vergeblich.
Wie immer, wenn es ums Ankurbeln geht, sind die Gewerkschaften dabei. DGB-Bundesvorstandsmitglied Georg Neemann: »Die Bundesbank muß von ihrer Hochzinspolitik runter, der Kostendruck muß von dort her gesenkt werden.«
Wie einst Karl Schiller, der 1967 mit zwei Eventual-Haushalten aus der Krise steuerte, will Helmut Schmidt überdies die Wirtschaft mit Geld und Aufträgen versorgen. Mit den anderen Ressorts stellten die Schmidt-Beamten in der vorigen Woche bereits eine Spendenliste auf -- vergeben werden darin insgesamt 45 Milliarden Mark aus Haushaltsmitteln. Da ein Teil der Gelder nur als Zuschuß ausgeworfen wird -- für Investitionen, die der Bund gemeinsam mit Ländern, Gemeinden und Privaten finanziert -, entsteht insgesamt eine zusätzliche Nachfrage von sieben Milliarden Mark.
Nach Referenten-Plänen aus dem Verkehrs- und dem Finanzministerium werden davon beispielsweise 200 Millionen Mark für die »Neuanschaffung von Omnibussen zur Erweiterung der Flächenbedienung im Nahverkehr« bereitgestellt werden. Für Investitionen im Steinkohlen-Bergbau sehen die Schmidt-Planer 100 Millionen vor.
Die größten Beträge sollen Bundesbahn und Straßenbau-Unternehmen kassieren. Die Bahn wird, so will es das Verkehrsministerium, schon bald zusätzlich 550 Millionen Mark einstecken -- für die Anschaffung von Loks und Waggons, zur Elektrifizierung und Instandhaltung von Strecken wie auch zum beschleunigten Bau von vier neuen Schnell-Routen. Mit 450 Millionen Mark möchte Verkehrsminister Lauritz Lauritzen zudem das deutsche Fernstraßennetz sicherer machen.
Aber auch bescheidenere Beträge sind vorgesehen: fünf Millionen Mark für »Jugendbegegnungsstätten und Jugendherbergen«, drei Millionen Mark für den »Neubau eines Kasinos« in Hans-Dietrich Genschers Innenministerium und drei Millionen Mark für den Deutschen Wetterdienst.
»Keine deutsche Frau ist mehr in die Fische zu kriegen.«
Besondere Hilfe, »wenn auch nicht zuviel« (Friderichs), will Bonn den Textilmachern zuwenden: Die bundeseigene Kreditanstalt für Wiederaufbau wird angewiesen, den Tuch- und Kleiderfabrikanten zinsgünstige Kredite zu gewähren.
Helmut Schmidts Heizprogramm soll von jenem SPD-Minister abgestützt werden, der von Amts wegen für die Arbeitslosen zuständig ist: Walter Arendt. Seine Beamten bereiten schon für die Kabinettsitzung dieser Woche einen umfangreichen Hilfsplan vor, mit dem das Los der Arbeitnehmer, denen der Verlust ihres Jobs droht, gemildert wird.
So sollen die Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes nicht mehr nur allein für die Zahlung von Arbeitslosengeld, für Kurzarbeiter und Schlechtwetterzulagen herangezogen werden. Künftig will Arendt auch -- gestützt auf das Gesetz -- Hilfen an jene Unternehmen zahlen, die ihre Belegschaften in der Flaute nicht entlassen, sondern sie im Betrieb weiterbilden. Überdies sollen Betriebe, die bereit sind, trotz mangelhafter Auftragslage neue Mitarbeiter auf Reserve zu verpflichten, mit Lohnkosten-Zuschüssen bedacht werden. Insgesamt will der Arbeitsminister bis zu einer halben Milliarde Mark zusätzlich für die Arbeitsbeschaffung ausgeben.
Rund 190000 Türken, Italiener und Jugoslawen, darauf spekulieren die Arbeitsbeschaffer, werden Westdeutsch -- land freiwillig verlassen, wenn sie von ihren deutschen Kollegen, die sie ohnedies oft nur widerwillig duldeten, offen als mißliebige Konkurrenten angefeindet werden. Nach den Schätzungen der Nürnberger Arbeitsforscher müssen bei allgemeinem Beschäftigungsrückgang zwar auch viele Gastarbeiter stempeln oder nach Hause fahren, aber längst nicht alle, denn ein großer Teil der Südländer verrichtet Arbeiten, die Westdeutsche selbst in der tiefsten Not nicht tun mögen: die härtesten und die schmutzigsten wie bei der Müllabfuhr und der Fischverpackung. Theodor Marquard, Direktor des Hamburger Arbeitsamtes: »Es ist keine deutsche Frau mehr in die Fische zu kriegen.«
Um die Unternehmen dazu zu animieren, daß sie im bevorstehenden Beschäftigungstief die Ausländer zuerst feuern, plant die Bundesregierung eine Art Gastarbeiter-Steuer: Für jeden Beschäftigten ohne deutschen Personalausweis will Bonn in Ballungsgebieten monatlich 100 Mark, sonst SO Mark Strafgebühr kassieren.
Ex-Gewerkschaftsführer Arendt käme damit auch den Neigungen seiner früheren Kollegen entgegen, die, verhalten zwar noch, aber deutlich Vorrechte für einheimische Kollegen fordern. »Bei allem«, so IG-Bau-Chef Rudolf Sperner, »was wir aus Solidarität unseren ausländischen Kollegen gegenüber an Verpflichtungen haben, müssen wir die Interessen der deutschen Kollegen vorrangig sehen.«
Der Bonner Katastrophenschutz freilich könnte sich für den möglicherweise anstehenden Ernstfall als ungeeignet erweisen. So hilft billiges Geld den Chemie-Konzernen wenig, wenn sie nicht mehr genug öl bekommen, um Kunstfasern und Plastikrohstoffe produzieren zu können. Auch Verbraucher lassen sich kaum durch kommode Abzahlungskredite zum Autokauf bewegen, wenn Sonntagsfahrverbot, Tempo 100 und hohe Spritpreise die Fahrlust trüben.
Die Politiker, die jetzt mit konventionellen Mitteln -- wie mit Staatsaufträgen und Kreditverbilligung -- allzu krasse Einbrüche der Industrieproduktion zu vermeiden suchen, werden auf längere Sicht nicht umhinkommen, den unabwendbaren Strukturwandel einzurechnen. Denn: Wenn das arabische öl zu kostbar geworden ist, um es durch Auspufftöpfe zu jagen, wird es erforderlich sein, Subventionen nicht für die Auslastung herkömmlicher Produktion herzugeben, sondern für die Umstellung auf neue Produkte.
»Warum«, fragt SPD-MdB Herbert Ehrenberg, »kann Ford eigentlich keine Waggons hauen?« Und auch sein freidemokratischer Kollege Manfred Vohrer fand: »Wir sind jetzt an der Grenze. wo liberales Gedankengut durch stärkere gesellschaftspolitische Bezogenheit ergänzt werden muß«
Im SPD-Vorstand plädierte kürzlich Jochen Steffen dafür, den Bürgern schonungslos klarzumachen, »daß nichts mehr so sein wird, wie es war«, die Leute brauchten »jetzt eine Perspektive und keinen Baldrian«.
Willy Brandts Perspektive ist düster. Der Westen, so prophezeite der Kanzler am letzten Freitag am Rande der EG-Gipfelkonferenz in Kopenhagen, stehe »vor der größten Belastungsprobe seit der Weltwirtschaftskrise«.