Zur Ausgabe
Artikel 48 / 83

EG Armee ohne Befehl

Brüssel beherbergt heute eine der größten Bürokratien der Welt. Lohnt es sich für Beamte, in die EGZentrale zu gehen?
aus DER SPIEGEL 8/1979

Langbeinige Deutsche, adrett gekleidet, glutäugige Italienerinnen, rundliche Däninnen, sommersprossige Engländerinnen -- an jedem Sonnentag an der Brüsseler Rond-Point Robert Schuman das gleiche Bild: Ein bunter Cocktail europäischer Weiblichkeit beginnt seine Mittagspause.

Die Damen sind eine gefährdete Spezies: Bedienstete der Europäischen Gemeinschaft, vulgo Europa-Beamte.

Die aber sind zum Abschuß freigegeben. »Die Hälfte von ihnen sollte man einfach totschlagen«, diese dem vor vier Jahren noch europaunwilligen Kanzler Helmut Schmidt zugeschriebene Äußerung war das Halali.

20 Jahre nach Inkrafttreten der Römischen Verträge, die die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und ihre Institutionen begründeten, stehen allein bei der EG-Kommission, der zentralen Behörde der Neunergemeinschaft, 11 676 Beamte im Sold.

Sie arbeiten als Pseudodiplomaten in den 19 Auslandsvertretungen der Kommission von Washington bis Berlin, als Wissenschaftler in den gemeinsamen Forschungsstätten, im italienischen Ispra und in Karlsruhe, als Statistiker in Luxemburg und vor allem -- 7297 von ihnen -- im vierzackigen Glaspalast der Brüsseler Zentrale.

Besonders hier bilden die von Frankreichs einstmaligem Staatspräsidenten Charles de Gaulle gescholtenen »vaterlandslosen Gesellen« die Eurokratie. Kanzler Schmidt: »Alles, was man sich an Kritik gegenüber einer Bürokratie vorstellen kann, trifft mit Sicherheit auf Brüssel zu.«

Vor allem fehlt es den EG-Beamten an Effektivität, sogar an Karriere-Chancen, weil der Proporz über den Aufstieg bestimmt. Nach dem Proporz aber hat jedes der neun EG-Mitgliedsländer Anspruch auf eine bestimmte Anzahl von A-Posten.

»Eine Durchsetzung des Leistungsgrundsatzes über die nationalen Kontingente hinweg ist bisher nicht versucht worden«, klagt Theodor Holtz, Präsident des Verbandes der EG-Beamten. »Fehlendes Leistungsprinzip und ständige Erstarrung« nannte auch der deutsche EG-Kommissar Guido Brunner eine Folge des Proporzes.

Nationalitätsriegel und ungünstige Altersstruktur -- EG-Generaldirektoren sind selten älter als 50 Jahre -- machen es deswegen wenig wahrscheinlich, daß ein Eurokrat in seiner 25jährigen Laufbahn mehr als dreimal befördert wird. Der Mehrzahl gilt schon der Aufstieg vom Hauptverwaltungsrat der Gruppe A 5 zur Gruppe A 4 -- die berüchtigte Majorsecke der Kommission -als Höhepunkt der Karriere.

Nun sind Beamte gewohnt zu gehorchen. Auch ohne beruflichen Ansporn machen sie weiter und bedienen den Apparat. Und der läuft und läuft.

Jahr für Jahr spuckt die Behörde rund 50 Millionen Blätter Papier aus, heften Sekretärinnen -- in der EG-Hierarchie C-Beamte -- knapp zwei Millionen Büroklammern an und verbrauchen 1250 Flaschen Klebstoff. Jeder Europa-Beamte, egal ob A, B oder C, schreibt so fleißig, daß er pro Jahr 14 Kugelschreiber und drei Bleistifte aus der Verwaltung anfordern muß.

Jährlich vergibt die Kommission für ihre Verordnungen und sonstigen Veröffentlichungen Druckaufträge in Höhe von 40 Millionen Mark. Und so sieht sich denn auch der Bonner Kanzler angesichts der Papierflut aus Brüssel gezwungen, »dreimal mehr Unterschriften zu leisten« als für sein eigenes deutsches Regierungsgeschäft.

Dabei gerät nur ein Bruchteil dessen, was in Brüssel produziert wird, auf den Schreibtisch der Regierungschefs. Nicht notwendigerweise zum Nachteil des europäischen Bürgers, sicher aber zum Verdruß der Europa-Beamten.

Mitleid ist angebracht für jene A-5-Beamten, deren Job vor allem darin besteht, die unterschiedlichen nationalen Normen auf ein europäisches Gleichmaß zu harmonisieren. Und dies auf Teufel komm raus.

So beschäftigte sich ein Beamter jahrelang mit der Formulierung eines Vorschlags zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsländer über Brot. Das »Euro-Brot« sollte in den neun Ländern die lokalen Erzeugnisse -- etwa kerniges deutsches Vollkornbrot -- ersetzen.

Ein anderer machte sich gleichzeitig daran, Europas Biervielfalt zu liquidieren. »Euro-Bier« statt deutschem Pils oder britischem Bitter -- der Mann muß Weintrinker gewesen sein.

Solche und ähnliche Versuche, Europa als synthetisches Einerlei mißzuverstehen, teilen -- Gott sei Dank -- das Schicksal Tausender Vorschläge, die in Brüssel auf Halde liegen. Als politisch nicht durchsetzbar landeten sie im Mülleimer der Geschichte.

Groteske Harmonisierungswut und Haldenproduktion sind denn auch Konstante der nationalen Kritik an Brüssel. Doch sie sind nur eine Seite der Brüsseler Behörden wie auch eine andere, das Selbstmitleid: Die Eurokraten, sagt die EG-Beamtin lieselotte Klein, stünden doch da, schlagbereit »wie eine Armee, aber der Befehl kommt nicht«.

Tatsächlich hat die Kommission mittlerweile so viele Aufgaben der Nationalstaaten an sich gezogen, daß der Argwohn in Bonn, Paris oder London verständlich ist: Die Brüsseler kümmern sich neben Umweltschutz, Verbraucherschutz, Energiepolitik und Regionalpolitik noch um Handelsverträge und die Beziehungen zur Dritten Welt.

Ein weites Feld -- dabei sind just die Abteilungen, in denen aktive Politik gemacht wird, unterbesetzt. So stehen dem Entwicklungs-Kommissar Claude Cheysson knapp 250 Mitarbeiter zur Verfügung, um die Verträge mit 55 Staaten Afrikas. der Karibik und des Pazifikraums auszuhandeln. Um die kollidierenden Energieinteressen der Neun auf einen Nenner zu bringen, kann Kommissar Guido Brunner allenfalls auf 120 Mann zurückgreifen. Und um den großen Ölmultis nach der Ölkrise 1973 unlautere Methoden nachzuweisen, hatte Wettbewerbs-Generaldirektor Willy Schlieder ganze 13 Mann.

Die elitebewußten Spitzenbeamten unterscheiden sich vom Gros. Für Guido Brunner, selbst ehemaliger Beamter im Bonner Außenministerium, sind sie »von der fachlichen Qualifikation die absolute Spitze in Europa«.

Nur diesen wenigen wirklich guten Eurokraten steht in der Heimat eine weitere Karriere offen, wie es das Beispiel des derzeitigen französischen Premierminister Raymond Barre zeigt, der als EG-Kommissar gewirkt hatte, oder des irischen Ex-Kommissars Hillery, der heute Staatspräsident ist.

Der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht war einst als Generaldirektor in Brüssel tätig. Manfred Lahnstein, früher Kabinettchef des EG-Kommissars Wilhelm Haferkamp, ist heute Staatssekretär im Bonner Finanzministerium. Und selbst Brüssel-Kritiker Helmut Schmidt holte sich mit Ministerialdirektor Horst Schulmann einen ehemaligen Eurokraten ins Bundeskanzleramt.

Das Beispiel der wenigen mag auch erklären, warum Brüsseler Posten nach wie vor begehrt sind. Jährlich werden allein in der Brüsseler Kommission etwa 500 Stellen frei, knapp 150 der Laufbahngruppe A müssen mit Universitätsabsolventen besetzt werden.

Nach dem Proporz können sieh demnach höchstens 30 junge deutsche Volkswirte und Juristen Hoffnungen machen. Dennoch melden sich Jahr für Jahr rund 5000 Bewerber zu den Aufnahmeprüfungen, die nach dem Urteil von Kommissar Brunner »im Schwierigkeitsgrad weit über den nationalen Anforderungen liegen«. Ein junger A-7-Beamter verdient denn auch kaum weniger als 6000 Mark bei einem Steuersatz von 7 bis 10 Prozent.

Selbst im schlimmsten aller Fälle, dem Ende der Brüsseler Eurokratie, ist für ihn das berufliche Ende nicht in Sicht: »Bis hier alles abgewickelt ist«, schätzt ein EG-Statistiker die Lage ein, »sind wir längst pensionsreif.«

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 48 / 83
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren