Arnold soll's probieren
In Nordrhein-Westfalen tagte zum erstenmal der frei gewählte Landtag. »Wir haben der Oeffentlichkeit ein recht klägliches Bild von der Demokratie gegeben!« rief Iserlohns Oberbürgermeister Werner Jacob schon am ersten Sitzungstag, und die Galerie applaudierte lebhaft.
Die Wähler des größten Landes der britischen Zone erwarteten, von ihrem gewählten Hause ein Kabinett vorgeführt zu bekommen. Sie wurden bitter enttäuscht. Ebenso die Zeitungsleute des In- und Auslandes, die besonders zahlreich erschienen waren, weil sie eine politische Sensation witterten.
Als sie nach drei Tagen wieder heimwärts fuhren, konnten sie als einziges Ergebnis, wenn man von der ausgezeichneten Verpflegung absieht, mitnehmen, daß die Parteien sich auf Karl Arnold, den Oberbürgermeister der Landeshauptstadt an der Düssel, als Ministerpräsidenten-Anwärter geeinigt hatten. Als Vertreter der stärksten Fraktion (CDU) war der 46jährige Gewerkschaftler und Erzberger-Scholar stellvertretender Ministerpräsident.
»Der Abgeordnete Arnold ist beauftragt worden, eine Regierungsbildung zu versuchen«, stellte der Präsident fest. Max Reimann hatte schon auf einen ähnlichen Lapsus gewartet. Nun meldete er sich stürmisch zur Geschäftsordnung. »Wir haben ihn nicht beauftragt«, rief er, »wir lassen es ihn nur mal versuchen.«
»Die Lage ist heute genau so undurchsichtig wie am 19. April«, sagte einer der SPD-Abgeordneten achselzuckend zu seiner Frau im Zuschauerraum. Nicht nur die Zuschauer waren bestürzt über den Verlauf dieser Sitzung.
In der Zwischenzeit ist Nordrhein-Westfalen kopflos. Es hat eine Regierung und hat wiederum doch keine. Man wollte das auch gerne demonstrieren. Als sich der große Saal des Henkel-Werkes, der schon manches Theater gesehen hat, mit der üblichen Verspätung füllte, blieb die Bühne mit den Regierungstischen leer.
Auch Dr. Lehr, der alte Präsident des Hauses, zeigte sich dort nicht mehr. Die CDU wollte in seine Position ihren zweiten prominenten Gewerkschaftler, Joseph Gockeln bringen, den die SPD vor seiner Wahl zwang, öffentlich sein Amt als Sozialminister niederzulegen. Dann ging er mit der üblichen Rede in seine neue Würde ein.
In der Zwischenzeit hatten sich alle Mitglieder des Kabinetts Amelunxen verstohlen hinter die Regierungstische geschlichen. Sie sind seit dem 26. April nur noch geschäftsführend und beteuern immer wieder, wie gerne sie ihre Bürde niederlegten.
Rudolf Amelunxen selbst saß schweigend und unbeteiligt an seiner Bühnenecke, hinter ihm, allerdings wesentlich geschäftiger, sein persönlicher Referent Dr. Hundt, der unaufhörlich die Trommel für seinen »MP« rührt. So beschäftigt er sich damit, spontane Dank- und Anerkennungsschreiben von Mädchenklassen und Kindergedichte auf Dr. Amelunxen an Zeitungsredaktionen zu versenden. Aber er parierte auch die Angriffe, die von der CDU nach der Wahl gegen den Ministerpräsidenten wegen Amtsmißbrauches erhoben wurden, recht geschickt. Amelunxen schrieb Adenauer einen Brief, in dem er von christlichen Gründen sprach, den heiligen Paulus zitierte und mit »Ihr sehr ergebener« unterzeichnete; Wenn Arnold Erfolg hat, muß Hundt, der ebenfalls Zentrumsfreund ist, mit Amelunxen abdanken. Aber er bleibt Regierungsrat.
Amelunxen hatte bei der Militär-Regierung durchgesetzt, daß der Landtag die Ministerpräsidenten wählen solle. Erst am letzten Tag der Landtagssitzung stellte sich heraus, daß ohne Verfassung dazu keine Handhabe bestand. So einigten sich die Parteien hinter verschlossenen Türen. Aber trotz unverminderter Sympathie nicht auf den Zentrums-Ministerpräsidenten.
Der neue Landtagspräsident erntete beifälliges Lachen, als er um Nachsicht für den stockenden Ablauf der Geschäftsordnung bat. »Wir machen ja hier die ersten Gehversuche des deutschen Parlamentarismus«, meinte er. An drei Tagen trat das Haus insgesamt nur dreieinhalb Stunden zusammen. Die Parteien waren völlig unvorbereitet in die neue Sitzungsperiode gegangen. Der Verwirrungseffekt war groß.
Erst am Mittag des Eröffnungstages nahmen die Parteien ernstlich Fühlung miteinander. Am Ende der vorgesehenen drei Tage stand ein Schritt, mit dem man eigentlich beginnen wollte: Alle Parteien erklärten sich damit einverstanden, der CDU eine Regierungsbildung zu überlassen.
»Kondolieren Sie mir lieber«, sagte der Betroffene zu den Pressevertretern, die ihn beglückwünschen wollten. Trotzdem glaubt Karl Arnold noch fest an die Möglichkeit einer »großen Koalition« »Die ganze Regierungsbildung steht noch völlig im Stadium des Abtastens«, sagte er. Der frühere Lederarbeiter erscheint der CDU als der richtige Mann, die Sozialisierung in gemäßigten Bahnen zu halten.
Max Reimann glaubt nicht an einen Erfolg des Gewerkschaftlers Arnold, der seinerzeit mit seiner Fraktion gegen das Sozialisierungsgesetz gestimmt hat. Die SPD-Fraktion, die energisch bestreitet, über Nacht an der Strippe nach Hannover gehangen zu haben, ist zurückhaltend. Die Aeußerung ihres Wortführers Fritz Henßler bleibt jedoch sehr zu beachten. Er sagte ganz nebenbei, der Sinn der April-Wahlen habe in der Konzentration gelegen - womit er nur die Konzentration der sozialisierungsfreudigen Kräfte gemeint haben kann.
Wie in Niedersachsen ist auch in Nordrhein-Westfalen die FDP nach ihrer strikten Ablehnung der Sozialisierung am weitesten von der Regierungsbeteiligung fern. Aber während Niedersachsen ganz gut ohne FDP-Minister auskommen könnte, ist Franz Blücher, der FDP-Zonenvorsitzende, zugegebenermaßen der einzige Währungsfachmann.
Die Stimme seines Herrn Amelunxens Hundt
Hahn im Korb - Landtagspräsident Gockeln zwischen Christine Teusch und Helene Wessel