Jugend Ost Art Vakuum
Matthias war nie ein auffälliges Kind. Aus der Realschule brachte der hoch aufgeschossene blonde Junge bis vor kurzem gute Noten nach Hause, die Lehrer schätzten seine Hilfsbereitschaft.
Mit den Hehlereien seines älteren Bruders, so glaubten alle, habe der brave Matthias nichts zu tun.
Doch jetzt sitzt der Familienliebling hinter Gittern. Vor drei Wochen hat Matthias, 14, in seinem Heimatort, einer mecklenburgischen Kleinstadt an der Ostsee, einen 26jährigen arbeitslosen Maurer mit einem Messerstich ins Herz getötet. Das Motiv ist noch unklar.
Matthias ist typisch für eine Fehlentwicklung im deutschen Osten: In den Knästen sitzen inzwischen weit mehr Jugendliche ein als im Westen, die meisten wegen brutaler Gewaltdelikte. Insgesamt begehen im Osten 50 Prozent mehr Jugendliche Straftaten als im Altteil der Republik. 1995 gerieten in den neuen Ländern (ohne Ost-Berlin) 145 000 Kinder, Jugendliche und Heranwachsende unter 21 Jahren als Tatverdächtige in die Akten der Polizei.
Allein bei Kindern unter 14 Jahren ist im vergangenen Jahr die Zahl der Straftaten um 21,6 Prozent auf 28 610 Fälle angestiegen, im Westen dagegen nur um 17,3 Prozent auf 65 564 Fälle.
Dramatisch ist der Anstieg schwerer Gewaltverbrechen vor allem bei männlichen Jugendlichen. Oft begehen sie die Taten, weil sie »durch Gewalt beweisen wollen, daß sie etwas darstellen«, sagt Maik, 18, der wegen Totschlags in Berlin einsitzt. In Thüringen ermittelt die Kripo gegen mehr als die Hälfte der Jungkriminellen wegen Raub oder gefährlicher Körperverletzung.
Im Regierungsbezirk Dresden registrierten die Behörden 1995 über 17 000 straffällige Jugendliche und Heranwachsende, 20 Prozent mehr als noch 1994. In Brandenburg waren im vorigen Jahr mehr als 32 000 von über 100 000 Tatverdächtigen jünger als 21.
Die Schläger mit dem Milchgesicht gehen immer brutaler vor. Vor drei Wochen beispielsweise erstach in Cottbus ein 16jähriger einen 58jährigen, den er von gemeinsamen Zechgelagen her kannte. Als Motiv gab er »persönlichen Frust« an.
Anfang Mai versuchten drei zwischen 14 und 16 Jahre alte Jugendliche aus Berlin und Brandenburg zusammen mit einem 21jährigen, in der Hauptstadt einen schlafenden Obdachlosen regelrecht zu steinigen. Sie bewarfen ihr Opfer mit 46 Pflastersteinen. Nur der dicke Schlafsack, den der Mann sich über den Kopf zog, rettete ihn - er überlebte mit einem Nasenbeinbruch und mehreren Platzwunden am Kopf.
Die minderjährigen Brutalos stammen keineswegs immer aus zerrütteten Familien. »Das Täterspektrum«, sagt Uwe Kranz, Chef des Landeskriminalamts (LKA) in Thüringen, »kommt aus allen sozialen Schichten.«
Aus biederen Durchschnittsfamilien etwa rekrutieren sich die Mitglieder einer Clique in Güterfelde bei Potsdam. Vier Mädchen und zwei Jungen im Alter von 13 und 14 Jahren folterten am Güterfelder See zwei Stunden eine 13jährige, weil es ihnen nicht paßte, daß die sich an derselben Badestelle vergnügte.
Sie schleiften das Mädchen nackt durch Brennesseln, tauchten seinen Kopf mehrmals lange unter Wasser, besprühten es mit Reizgas und drückten Zigaretten auf seiner Haut aus. Mit Verbrennungen und einer Halswirbelverletzung wurde das Kind ins Krankenhaus eingeliefert.
Viele Eltern jugendlicher Straftäter sind arbeitslos, doch der Bielefelder Jugendforscher Wilhelm Heitmeyer ist überzeugt, daß »der Anstieg der Jugendkriminalität in den neuen Ländern in weiten Teilen unabhängig von der materiellen Situation in den Familien ist«. Entscheidender sei, daß sich die jungen Ostler als Außenseiter in der Nachwende-Gesellschaft fühlen. Sie nutzten Gewalt als Mittel der Selbstbehauptung und wehrten sich gegen vermeintliche Bedrohungen ihrer Kinderwelt.
»Viele Jugendliche aus dem Osten befinden sich in einer Art Vakuum«, ergänzt LKA-Chef Kranz. »Eltern, selbst durch die Wende verunsichert, und Pädagogen, die sich auf bloße Wissensvermittlung beschränken, bieten ihnen keinen Halt.«
Eltern und Lehrer sind vielfach überfordert. Jahrzehntelang waren sie es gewohnt, alle Verantwortung an den Staat zu delegieren, der schon in der Kinderkrippe die Aufsicht über den sozialistischen Nachwuchs übernahm.
Ratlose Väter und Mütter wenden sich immer häufiger an die Polizei, wenn sie nicht mehr weiter wissen. »Das Anzeigeverhalten hat sich geändert«, sagt Christine Burck, Jugendbeauftragte der Berliner Polizei. Eltern schleppen ihren Nachwuchs aufs Revier, wenn Geld in der Haushaltskasse fehlt, oder sie erstatten Anzeige, wenn Spielkameraden sich gegenseitig vom Klettergerüst stoßen. Jeder Fall geht erst einmal in die Stati- stik ein - von Staatsanwälten und Gerichten werden die Verfahren dann oft eingestellt.
Andere Eltern reagieren auf die plötzlich über sie hereingebrochene Verantwortung mit Härte. Wie die Eltern von Maik aus dem Osten Berlins, der seit zwei Jahren in der Berliner Justizvollzugsanstalt (JVA) Plötzensee einsitzt. Sein Vater ist Bauarbeiter, die Mutter Verkäuferin, mit beiden hat er sich »eigentlich immer gut verstanden«.
Allerdings hätten die Eltern ihm »immer zu viele Vorschriften gemacht«, erzählt Maik. Der Junge mußte jeden Abend schon um zehn zu Hause sein. Als er 16 war, erschlug er, völlig betrunken, auf dem Heimweg von der Disco einen jungen Mann auf der Straße.
»Etwa 60 bis 70 Prozent unserer Insassen haben ein Alkoholproblem«, schätzt Uwe Hinz, Leiter der Justizvollzugsanstalt Zeithain in Sachsen. Sein Kollege Marius Fiedler von der JVA Berlin-Plötzensee glaubt, daß »vor allem systemnahe Eltern mit dem starren Wertesystem der DDR-Eliten ihren Kindern zu wenig Freiraum für eigene Erfahrungen gelassen haben«.Viele seiner ostdeutschen Gefangenen, so Fiedler, kommen aus Quartieren mit einem hohen Anteil an ehemaligen SED-Funktionären wie etwa aus Lichtenberg, wo sich die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit befand.
Die tiefe Unsicherheit der Wendekinder äußert sich nicht nur in Gewalt. Auch die Zahl der von Kids begangenen Diebstähle und Einbrüche steigt rapide. In Thüringen ermittelte die Kripo vergangenes Jahr gegen 3272 Diebe unter 14 Jahren - für LKA-Chef Kranz »ein gesellschaftliches Alarmsignal«.
Um die Entwicklung in den Griff zu bekommen, haben zahlreiche Ost-Städte inzwischen »Kriminalpräventive Räte« eingerichtet, in denen Kommunalpolitiker, Pädagogen, Vereine und Polizei zusammenarbeiten. Bislang kümmern sich die Gremien vor allem darum, wie Polizisten und Lehrer Diebstählen vorbeugen können, beispielsweise durch die Kennzeichnung von Fahrrädern. LKA-Chef Kranz will die Räte auch für soziale Projekte wie den Bau von Abenteuerspielplätzen gewinnen.
Alexander Prechtel, Generalstaatsanwalt in Mecklenburg-Vorpommern, hält von solcher Fürsorge nichts. Der konservative Jurist aus dem Westen denkt statt dessen lieber laut über eine härtere Gangart nach: Die Grenze der Strafmündigkeit, die derzeit bei 14 Jahren liegt, dürfe, so Prechtel, »keine heilige Kuh sein« - Kinder-Knast statt Fürsorge?