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BILDUNG Astronomische Forderungen

Lobbyisten schlagen immer neue Schulfächer vor, von Verbraucherschutz bis Volksmusik - kein Hobby und kein Thema erscheint zu abseitig.
aus DER SPIEGEL 52/2009

Der Unterrichtsstoff ist rund 384 000 Kilometer entfernt, und jedes Jahr kommen 3,8 Zentimeter hinzu. Warum der Mond vor der Erde zu fliehen scheint - Jürgen Röders Schüler müssten es am Ende dieses Schuljahrs genau erklären können.

»Astronomie« steht auf ihrem Stundenplan, alle zwei Wochen eine Doppelstunde in der Sternwarte. Die Zehntklässler aus dem thüringischen Suhl lernen, was es mit dem Erdtrabanten auf sich hat und warum die Astronomie eine wichtige Wissenschaft ist. »Die Themen sind hochaktuell, die Faszination des Weltalls ist riesig«, sagt Röder. Wenn er entscheiden dürfte, würden darum bald nicht nur seine Schüler solche Sternstunden erleben. Der Lehrer unterstützt den jüngsten Aufruf zahlreicher Kosmoskenner, Astronomie in allen weiterführenden Schulen als eigenständiges Pflichtfach einzuführen.

Bis es zu dieser Art der verpflichtenden All-Gemeinbildung kommt, könnten noch Lichtjahre vergehen. Gegen neuere Fächer wie Pädagogik, Informatik oder Ethik hat es auch viel Widerstand gegeben. Doch Lobbyisten und Politiker haben sich stets als erfindungsreich und nimmermüde erwiesen. Trotz geringer Erfolgsaussichten versuchen sie immer wieder, ein Anliegen in ein Schulfach zu verwandeln - mal mit guten, mal mit weniger guten Gründen. Würde jede Forderung umgesetzt, wären die Stundenpläne längst unüberschaubar.

Einzelne Schulen bieten schon jetzt Fächer wie Benehmen oder Glück an. Heino blieb freilich bislang unerhört. Der Schlagersänger wollte »erreichen, dass an deutschen Schulen das Fach Volksmusikkunde eingeführt wird«.

Kein Hobby und kein Thema erscheint zu abseitig, als dass nicht jemand öffentlich eine Änderung des Lehrplans forderte. Manchmal wird gleich ein neues Fach verlangt, möglichst in allen Bundesländern und für alle Schüler. Manchmal begnügen sich die Interessenvertreter, jedenfalls erst einmal, mit dem Ruf nach ein paar zusätzlichen Schulstunden. Verbraucherschützer wollen Verbraucherschutzunterricht, Ernährungsexperten wollen Ernährungsunterricht, Datenschützer wollen Datenschutzunterricht - die Liste ist lang.

Hinter solchen Gedankenspielen steckt häufig ein neuartiges Verständnis von Schule. Sie soll nicht nur Grammatik oder Algebra lehren, sondern den Schülern so etwas wie Lebenstüchtigkeit beibringen. Frei nach dem Motto: Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.

»Ich nenne sie immer die Bindestrich-Fächer: Medien-Erziehung, Gewalt-Prophylaxe, Umwelt-Erziehung«, schimpft Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands. »Wenn wir die alle einführten, könnten wir gleich mit dem Deutsch- und Mathematikunterricht aufhören.« Der Schuldirektor aus Landshut, der auch ein Diplom in Psychologie hat, diagnostiziert eine »Profilneurose der Politiker«. Wenn immer neue Inhalte in den bestehenden Unterricht gepresst würden oder gleich ganz neue Fächer geschaffen werden sollten, führe dies zu einer Überforderung der Schule: »Wir können doch nicht alle Probleme dorthin abwälzen.«

Nicht alle Forderungen nach neuen Fächern zielen freilich auf die großen gesellschaftlichen Probleme. Häufig geht es nur um eine besondere Sprache oder eine Sportart wie Schach oder Segelflug. Zuweilen sind dann nicht nur die Befürworter, sondern auch die Gegner wohlorganisiert. Als in Brandenburg das Bildungsministerium und der Landesanglerverband die Schüler angeln ließen, demonstrierte die Tierschutzorganisation Peta vor einer Schule gegen die Arbeitsgemeinschaften: »Angeln in der Schule - Hölle für Fische«. Die Arbeitsgemeinschaften trügen zur Verrohung der Kinder bei, sagte eine Gegnerin laut einem Zeitungsbericht, »es gibt ja auch keine Fächer wie Wildschweinjagen oder Vogelschießen«.

Noch nicht jedenfalls, doch an Ideen besteht kein Mangel. Die mächtigste Lobby hat wohl das Schulfach Wirtschaft. Zuletzt forderte der Bankenverband ein solches Pflichtfach, für das sich auch schon die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände oder der Deutsche Gewerkschaftsbund starkgemacht haben. Ein fertiges Konzept für den Unterricht von der Grundschule bis zum Gymnasium gibt es bereits.

In diesen Wochen versuchen nun auch die Astronomen, Druck auf die Bildungspolitiker auszuüben, und berufen sich dafür aufs große Ganze: »Die ontologischen Fragen ,Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?' veranlassten die Menschen zu versuchen, durch Himmelsbeobachtungen ihren Platz im Universum zu bestimmen«, heißt es in einem offenen Brief an Bund und Länder. Die Astronomie solle darum am Ende der Mittelstufe zum Pflichtfach werden - wie früher in der DDR und heute in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern.

Am Ende des Briefs schreiben die Astronomen »ein Wort zu anderen Fächerwünschen«. Sie stellen fest: »Mitunter werden Wirtschaft, Rechtskunde und Gesundheitserziehung als eigenständige Unterrichtsfächer gefordert.« Das sei unangemessen, diese Themen rechtfertigten kein eigenes Fach - anders als die Astronomie natürlich. CHARLOTTE KLEIN, MARKUS VERBEET

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