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Atomenergie: »Eine chaotische Entwicklung«

Zwanzig Jahre lang wurden Kernspaltung und Kernfusion als die großen Energiespender der Zukunft gefeiert. Nun plötzlich gerieten die hochsubventionierten Kernkraftwerke teurer, gefährlicher und anfälliger als vermutet. Und schlimmer noch: Die Förderung der Atomenergie blockierte bis jetzt fast jede andere neue Energietechnik.
aus DER SPIEGEL 1/1977

Polizei-Kräder flankieren den Transport. Einsatzwagen der Feuerwehr und des Grenzschutzes rollen vorne und hinten. Die Straßen sind gesperrt, Geheimdienstleute observieren das Volk dies- und jenseits des großen Trecks.

Dann biegt die Kolonne, einen schweren Tieflader in der Mitte, auf das Gelände der Raketenstation, denn zwei Stunden später ist Countdown für gefährliche Fracht: 150 Tonnen Atommüll aus der Umgehung, in Glas gegossenes, auf Jahrtausende radioaktives Plutonium fliegen der Sonne entgegen.

In Science-fiction-Visionen solcher Güte bewegen sich Zukunftsplaner schon heute, wenn sie über den tödlichen Müll aus Kernkraftwerken nachdenken. Weltraumlastwagen und Milliardensummen werden anvisiert, um eine Technologie zu sichern, die vielleicht nur ein großer Irrtum war: Strom aus Kernkraft. Elektrizität aus dem Atom.

15 Millionen Dollar, 100 000 Dollar je Tonne Nutzlast, kalkuliert Dietrich E. Koelle, Chefdenker im Ottobrunner Luft-, Raumfahrt- und Rüstungskonzern Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB), kostet ein einziger Schuß mit dem Raumtransporter der Zukunft.

Mit fünf Milliarden Dollar aber hätten schon vorher Entwicklung und Produktion der Lastkapsel zu Buche gestanden, rund hundert Milliarden Dollar wurden schon jetzt in die Atomkraft investiert, mehr als in jede andere Technologie seit dem Aufbruch des Kapitalismus.

Aber für 1990 wird der Kernkraftanteil am Weltverbrauch von Primärenergie mit nur 13 Prozent angegeben. Selbst kühnste Pläne der Energiepolitiker enden für das Jahr 2000 bei einem Atomanteil von 20 Prozent der Weltversorgung. Denn anderes als Elektrizität -- zu 13 Prozent am Energieverbrauch beteiligt -- kann die Kernkraft vorerst kaum schaffen.

Doch die Stromerzeugung wurde -- Absicht oder nicht -- zum Maßstab allen Wohlstands genommen. Und die Kernkraft bot sich -- Zufall oder nicht -- als Retterin des Abendlandes vor dem Abgrund schwindender Ölreserven an: Atomenergie, so ihre Propagandisten, sei die einzige Alternative zu Kohle, Öl und Erdgas, mithin die einzige Bewahrerin des Wohlstands der Massen.

Hastig übernahmen die Politiker das Credo von der Kernkraft und fertigten ihre großen Programme daraus. »Denn ohne Kernkraft«, tönte jüngst selbst Forschungsminister Hans Matthofer noch, »gehen bei uns die Lichter aus.«

Eine schon Ende der siebziger Jahre »mit Sicherheit auf uns zukommende Energieverknappung« signalisierte Esso-Chef Wolfgang Oehme den politischen Freunden. Auf Kernenergie, so der deutsche Statthalter des tief im Uran- und Brennstäbegeschäfts steckenden Ölmultis Exxon, könne die Welt »keineswegs« verzichten.

Bundeskanzler Helmut Schmidt, Oehmes Studienkollege aus Hamburger Volkswirtschaftsseminaren, widmete in seiner Regierungserklärung vom 16. Dezember der Atomkraft eine zwielichtige Passage. Aber »Kernenergie«. verkündete auch der Kanzler gequält, »bleibt zur Deckung des vorhersehbaren Strombedarfs notwendig und unerläßlich«.

Schmidts Kabinettskollege Hans Friderichs findet, daß es »keine realistische Alternative für den verstärkten Einsatz der Kernenergie« gebe. Denn Kernkraft, so wissen die Bonner aus ihren nahtlosen Kontakten mit den Managern der Stromversorgungsunternehmen, ist billig und sauberer als alles andere und befreie die Republik von der Importabhängigkeit für Energie.

Vor allem Heinrich Mandel. Vorstandsmitglied des mächtigen Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerks (RWE), profilierte sich als industrieller Atomprediger. In Einzelgesprächen und Lichtbildervorträgen. auf Vorstands- und Aufsichtsratssitzungen rechnete der Professor. inzwischen auch Präsident des Deutschen Atomforums, dem Publikum unablässig die Vorzüge des Atomstroms vor.

Um mindestens drei Pfennig je Kilowattstunde sei der Strom aus dem Reaktor billiger als Elektrizität etwa aus Kohlekraftwerken. Daß allein die Bundesrepublik Deutschland bis jetzt 19 Milliarden Mark in die Entwicklung der Kernkraftwerke vorgeschossen hat, geht in die Rechnungen des RWE-Mannes nicht ein.

Auch über Maß oder Unmaß der Folgekosten, die auf den Steuerzahler fallen. schwiegen sieh die Atomophilen weitgehend aus. Atomare Wiederaufbereitungsanlagen kosten vier Milliarden Mark, die Entsorgungsschächte im Lande Niedersachsen wohl noch einmal das gleiche. Auf 50 Milliarden Mark, so rechneten Beamte der US-Atomenergiebehörde Erda aus, werden die Kosten für die Lagerung des amerikanischen Atommülls bis zum Jahre 2000 auflaufen. Vor solchem Hintergrund werden selbst sorgfältige Rentabilitätsrechnungen der Stromerzeuger Illusion.

Ausgerechnet Horst-Ludwig Riemer, Parteifreund des Ministers Friderichs und Wirtschaftsminister in Mandels Nordrhein-Westfalen, machte am 20. Dezember die Gegenrechnung auf. Die Kosten der Endlagerung von Atommüll und der Wiederaufbereitung von Plutonium eingeschlossen, sei Elektrizität aus Ruhrkohle schon jetzt billiger als Atomstrom.

Riemers Rechnung steht nicht allein. »In jeder Phase der chaotischen Entwicklung der Nuklear-Industrie haben technische Schwierigkeiten zu unerwarteten wirtschaftlichen Problemen geführt«, höhnt der US-Professor Barry Commoner, Direktor des Center for the Biology of Natural Systems der Washington University in St. Louis.

Noch 1960 setzte die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) die Rentabilitätsschwelle der Atomkraftwerke bei 150 Megawatt Leistung an. Sechs Jahre später rechnete die gleiche Behörde mit 600 Megawatt, und noch einmal sechs Jahre später sollte unter 1200

* Sonntagsfahrverbot in der Ölkrise Anfang 1974

Megawatt überhaupt nichts mehr gehen.

Allein zwischen 1971 und 1975 erhöhte sich der Investitionsaufwand für ein neues Atomkraftwerk um 60 Prozent. Zwischen 1965 und 1975 waren es gar 244 Prozent. Von 1972 bis 1985, so das renommierte Massachusetts Institute of Technology (MIT), werden die Investitionskosten für eine Kilowattstunde Strom aus Kernkraft noch einmal von 300 auf 1135 Dollar klettern.

Daß gleichzeitig auch die Preise des Betriebsstoffs Uran von 30 auf 100 Dollar pro Pfund steigen, ist bei einer so verfahrenen Entwicklung kaum noch von Bedeutung. Die Kapitalkosten erreichen -- einmalig bei industrieller Produktion -- 80 Prozent der Gesamtkosten.

Die große Wachstums-Saga.

Unter dem Eindruck solcher Zahlen zuckte nun auch Bundeswirtschaftsminister Friderichs zurück. Schon 1981, verkündeten seine Beamten jetzt. sei Strom aus Steinkohle um zwei Pfennig je Kilowattstunde billiger als Atomstrom: Die Rentabilitätsrechnung hat sich umgekehrt.

Ausgespart blieb bei manchen Kalkulationen, daß Kernkraftwerke zuweilen ausfallen. So lag etwa das westdeutsche 1145-Megawatt-Kraftwerk Biblis allein im vergangenen Jahr viereinhalb Monate lang still, weil mechanische Teile, die mit der Kernkraft selber gar nichts zu tun hatten, repariert werden mußten.

Sobald ein solcher Riesen-Reaktor abgestellt ist, aber bleibt eine große Region ohne sichere Stromversorgung. Um Ersatzstrom zu produzieren, müssen sich die Elektrizitätsgesellschaften konventionelle Kraftwerke halten, die sie nach Bedarf, wie bei einer Schnauferl-Rallye, wieder anwerfen. Auch das erhöht die Kosten der Kernkraft.

Rechner wie die Manager des Chemie-Multis BASF haben ihre Kernkraftpläne denn auch wieder aufgegeben. Für das in der Nähe von Ludwigshafen geplante eigene

780-Megawatt-Kraftwerk der Chemiefabrik lagen die Kosten-Voranschläge 1969 bei 500 Millionen, jetzt liegen sie bei 2,1 Milliarden Mark -- mehr als das Vierfache.

Ähnlich brüchig wie die Ideologie von der so sehr überlegenen Rentabilität der Kernkraftwerke aber ist auch die zweite Behauptung der Kernkraft-Verteidiger: daß es nämlich schon jetzt ohne Atomstrom nicht gehe.

Bereits 1972 sagten Energiefachleute auf dem Atomforum in Hamburg für die Zeit ab 1976 den großen Blackout voraus. Heute propagieren die Elektrizitätsgesellschaften Nachtstromheizungen und elektrische Küchengeräte, um die

Kraftwerks-Kapazitäten besser auszulasten.

Experten der Shell-Gruppe, deren Muttergesellschaft immerhin selber am

großen Atomgeschäft teilnimmt, haben ausgerechnet, daß die in Deutschland vorhandenen Überschußmengen an Steinkohle und schwerem Heizöl genügen würden, sogar im Jahre 1980 noch jedes Megawatt Atomstrom konventionell zu ersetzen. Erst 1985, behaupten die Experten nun, werde es ernst.

Dennoch konnte Wirtschaftsminister Hans Friderichs, der die Atomkraft zum Kernpunkt seines Energieprogramms hochstilisiert hatte, an den Projektionen für 1985 grobe Abstriche anbringen.

Statt den vorher veranschlagten 45 000 Megawatt aus Kernkraftwerken schrieb der Minister nur noch 35 000 ins neue Programm -- vorausgesetzt, die Entsorgung gehe klar. Shell-Chef Johannes Welbergen: »Mit den Energieprogrammen geht es bei uns wie mit einem Jo-Jo-Spiel.«

Das Spiel hat Tradition. Noch nie in der Menschheitsgeschichte ist eine so teure und gefährliche Technologie unter so windigen Voraussetzungen entstanden. Noch nie machte die Logik der Münzwürfe so viele Milliarden locker wie die für das Atomprogramm, und noch nie hat die Menschheit -- von Rüstungsausgaben abgesehen -- soviel Geld für eine Entwicklung ausgegeben, die nach den Gesetzen der Vernunft eine Fehlentwicklung sein muß.

Die Unvernunft begann 1953 mit einer Katerstimmung des Generals Eisenhower, der zum Präsidenten der USA gewählt worden war. Der General-Präsident, Nachfolger des Harry Truman, der 1945 den Abwurf der beiden Atombomben über Hiroshima und Nagasaki befohlen hatte, propagierte aus schlechtem Gewissen sein »Atoms for peace«-Programm. Die Bombe sollte gezähmt werden und Energie für die Menschheit spenden.

Damit war ein Datum gesetzt, über dessen emotionale Seite kein Yankee hinwegkam. Die US-Atomwissenschaftler formten ein nahtloses Dreistufenprogramm für die Energieversorgung der Menschheit.

Stufe eins sollte der Leichtwasser-Reaktor sein, der durch Kernspaltung mit Natururan fast zweitausend Grad Hitze erreicht und mit dieser Energie Dampfturbinen antreibt -- der Reaktor heutigen Typs.

* Auf einer Versuchsanlage bei Grevenbroich, wo landwirtschaftliche Fläche mit Abwärme aus einem Kraftwerk beheizt wird.

Stufe zwei sollte der Schnelle Brüter sein, der durch ein besonderes Verfahren mehr spaltbares Material hinterläßt, als er verbraucht -- freilich nicht mit sämtlichen Beigaben, die er zur eigenen Energieerzeugung benötigt. Als Stufe drei war dann die gezähmte Wasserstoffbombe vorgesehen, die Energie aus der Fusion von Wasserstoffatomen.

In den sechziger Jahren übernahmen die Euratom-Europäer begeistert das Rezept der Amerikaner und versuchten, das große Vorbild zu überholen. Und immer mehr setzte sich in der Energiepolitik die Überzeugung durch, nur die Kernkraft könne die Industriegesellschaften retten. Öl, Kohle, Erdgas, alle endlichen Energieträger wären sonst in schon absehbarer Zeit aufgebraucht. Allerdings -- auch die Uranvorräte halten nicht länger als ein halbes Jahrhundert.

Den inneren Zwang zur Kernkraft leiteten die Energieplaner des vergangenen Jahrzehnts von zwei nur statistischen Voraussetzungen ab:

* daß sich das wirtschaftliche Wachstum der Industrieländer im Stil der sechziger Jahre fortsetze,

* daß es einen festen Zusammenhang zwischen

Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch gebe.

Beides erklärten die Energieplaner zu einer Art Naturgesetz, obwohl es keins ist. In Wirklichkeit sind die Atompropheten von damals nur einem dritten Phänomen aufgesessen, das viel eher den Rang des Naturgesetzes erfüllt: daß nämlich Überfluß zu Verschwendung führt. Im Überfluß war das Erdöl da. Die neuen Funde am Persischen Golf hatten den Ölpreis angehalten. Von 1942 bis 1952 war er noch um 100 Prozent gestiegen, von 1952 bis 1957 nur noch um elf Prozent und von 1957 bis 1971 überhaupt nicht mehr.

Auf der Woge billigen Öls stießen die Industriestaaten zu immer höheren Wachstumsziffern vor. Und del niedrige Preis des Öls animierte sie zum sorglosen Umgang mit Energie: Wirtschaftswachstum hieß Energiewachstum. Allein in der Bundesrepublik Deutschland verzehnfachte sich der Ölverbrauch zwischen 1955 und 1970. Der Weltenergieverbrauch verdoppelte sich von 1960 bis 1974.

Geblendet schrieben die Energieplaner solche Wachstumsraten fort. Als Regel galt ihnen schon bald die Verdoppelung des Stromverbrauchs in jeweils zehn Jahren. Folglich rechnete die Montan-Union 1965 mit einer Verneunfachung bis zur Jahrtausendwende. Und zwei Drittel des elektrischen Stroms, ein Viertel der Welt-Energie, sollten im Jahre 2000 aus dem Atom kommen.

Die abrupte Vervierfachung des Ölpreises warf alle Prognosen über den Haufen. Das vermeintliche Naturgesetz des Wachstums ist seit 1973 weltweit außer Kraft gesetzt. Aber die Milliardenprogramme liefen, und neue, mächtigere Interessenten übernahmen nun den Part der Atom-Propagandisten. Elektrokonzerne, die Kraftwerke bauen, Maschinenbaufirmen, die Aggregate dazu liefern, Versorgungsunternehmen, die subventionierte Kernkraftwerke kaufen, und Ölmultis, die sich an der Urangewinnung beteiligen.

Siemens, Krupp, RWE und Esso, um nur einige zu nennen, wurden zur mächtigsten Lobby der Atomkraft. Milliardenumsätze, die Arbeitsplätze von Zehntausenden hochqualifizierter Techniker und das Prestige der Energieplaner stehen auf dem Spiel, wenn es gegen die Kernkraft geht. Und leicht konnten die Eierköpfe der Industrie bisher noch jeden Einwand gegen die Atomenergie vom Tisch fegen. Sie wußten mehr -- und sie standen mit ihrer ganzen Existenz dahinter.

Einmal auf dem Trip, störte es kaum noch jemand, daß immer mehr Voraussetzungen für den eiligen Ausbau der Kernenergie dahingingen. Das Wirtschaftswachstum ist dauerhaft gebremst. Die Uranvorräte sind schneller verbraucht als das Erdöl. Die Zeitpläne, das Atomsystem perfekt einzuführen, wurden nicht eingehalten, die Reaktoren selbst sind zu teuer -- nichts stimmte mehr, aber weitergemacht wurde dennoch.

Eine stete Folge von Pannen führte obendrein zu hohen Ausfallzeiten, und Banalitäten brachten immer wieder Unsicherheit in die Energieplanung. Durchmuddeln ist alles.

1975 steckte ein Arbeiter mit einer Kerze die Isoliermassen des US-Reaktors Brown's Ferry in Brand. Die Anlage lag monatelang still, der Schaden bei 300 Millionen Dollar.

Schon 1969 hatte die US-Atomenergie-Kommission gemeldet, daß bei einem anderen Reaktor eine Leitung mit radioaktiven Abwässern an die Trinkwasserleitung der Belegschaft angeschlossen war. Auch dieser Schaden geriet gerade noch rechtzeitig unter Kontrolle.

Die Schnellen Brüter erwiesen sich durch ihre Plutonium-Überproduktion erst recht als so tödliche Gefahr, daß die USA nun die Brüterentwicklung einschränken wollen.

Die Amerikaner verfügen auch bereits über eine berüchtigte Forschungsruine: 1966 brachte ein Brand den Kern (Core) des Brüter-Reaktors Enrico Fermi zum Schmelzen. Die Anlage wurde stillgelegt -- der Unfall galt vorher für theoretisch undenkbar.

Total im Ungewissen leben die Atomtechniker, wenn sie mit der Kernfusion spielen. Bei der Wasserstoffbombe, der einzigen funktionierenden Kernfusion, war eine komplette Uran-Atombombe als Zünder vorgeschaltet worden, um die notwendige Fusionstemperatur von einigen hundert Millionen Grad zu erzeugen. Noch mindestens dreißig Jahre soll es nun dauern, bis solche Temperaturen im Reaktor entstehen können -- aber sicher ist nicht einmal das.

Die Regierungen des Westens, die jetzt zwanzig Jahre lang einzig auf die Kernkraft gesetzt haben, könnten eines Tages dann ganz leer dastehen: Die Uran-Reaktoren fallen aus, weil die Uranvorräte der Erde verbraucht sind, die Brüter, weil sie zu gefährlich sind, und die Kernfusion, weil sie nicht geht.

Kein Plan weit und breit aber wurde entwickelt, auch jenseits der Kernkraft noch Energien zu sichern. Im Gegenteil. Der konzentrierte Milliarden-Einsatz für die Atomenergie blockierte rund um die Welt den Ausbau irgendeiner anderen modernen Energieform. Und schon jetzt ist es so weit, daß die ganz banale Reaktortechnik der ersten Stufe für eine Übergangszeit nötig ist, weil sie sich selber notwendig gemacht hat. Die Atomlobby hat auf der ganzen Linie gesiegt.

Dabei hätten die Regierungen viel tun können, das zu verhindern, denn die Energiereserven der Erde und die Möglichkeiten der Energieeinsparung sind groß. So halten die mit rund 100 Milliarden (Weltverbrauch 1976: 2,3 Milliarden) Tonnen angegebenen Ölreserven der Welt knapp fünfzig Jahre. Das Erdgas hält dreißig Jahre, und noch nicht bestätigte Ölreserven -- auf 1000 Milliarden Tonnen geschätzt können die Ölzeit um mehr als nur ein Jahrhundert dehnen.

Reserven für mindestens weitere fünfzig Jahre stecken in den ausgedehnten Teersänden Kanadas und Venezuelas -- doch die Produktionskosten liegen um mindestens 50 Prozent über dem Weltmarktpreis für Opec-Öl. Kaum ein Privatunternehmer wagt sich an die Ölsände -- und weder Kanada noch Venezuela bieten ausreichend Subventionen für ihre Ausbeute.

Reserven für einige tausend Jahre -- 43 000 Milliarden Tonnen Öl -- ruhen in den Ölschiefergebirgen der USA, Brasiliens und der Sowjet-Union. Aber mit gegenwärtiger Technik lassen sich davon nur 30 Milliarden Tonnen, der Weltbedarf für zehn Jahre, ausbeuteil -- und die Kosten liegen weit über denen des Öls aus Teersänden.

Für nahezu tausend Jahre reichen die Welt-Vorkommen an Kohle. Zumindest die Stromkraftwerke der Industrieländer könnten mit Kohle betrieben werden, ohne daß für überschaubare Zeiten Raubbau an den Weitreserven nötig wäre.

Aber für Kohle sind zuwenig Arbeitskräfte und Transportmittel da. Und Kohlevergasung, die in das gegenwärtige Transportsystem paßt, kostet doppelt soviel wie Erdgas -- sie setzt im übrigen Prozeßwärme voraus, die billig wieder nur ein atomarer Hochtemperaturreaktor bieten kann.

Eine Harmonisierung all dieser Techniken -- etwa durch Steuerpolitik -- hat bislang noch jede westliche Regierung versäumt. »Wir kommen«, sagt Shell-Vorstand Hans Carsten Runge, »in eine Zeit des muddle through.«

Wären im vergangenen Vierteljahrhundert jene Milliarden, die allein der Kernkraft geopfert wurden, in andere Entwicklungen geflossen -- und sei es nur in Energiesparprogramme -, wären Atomkraftwerke der heutigen Generation wohl überflüssig.

Schon kleine Tricks können da Großes bewirken. So verbrauchen, wie eine neue Studie der University of California zeigt, die Schweden pro Kopf weniger als zwei Drittel der Energie, die ein Amerikaner verschwendet, weil sie weniger Benzin verplempern und intelligenter heizen. Der Lebensstandard beider Völker aber ist gleich.

Würden 100 Millionen jener US-Straßenkreuzer. die über 20 Liter Sprit auf 100 Kilometer verbrauchen, durch europäische Mittelklassewagen oder Dieselfahrzeuge ersetzt, ließe sich der Ölverbrauch der USA um ein Fünftel reduzieren -- um den gesamten Ölverbrauch der Bundesrepublik Deutschland.

Aus dem 1973 pompös verkündeten Independence-Programm der Amerikaner aber wurde bis heute nichts. Im Gegenteil: Hell leuchten Amerikas Bürohäuser, auch wenn sie unbenutzt sind. Es könnten, so Chicagos Commonwealth Edison Co., sonst die Einbrecher kommen. Sonne contra Atom?

Die Ableitung industrieller Prozeßwärme in private Heizungsleitungen könnten Ballungsgebiete wie das Ruhrgebiet voll mit Fernwärme versorgen. Heizöl oder elektrische Wärme aus Kraftwerken wären überflüssig. Aber keine Behörde erzwang dafür irgendwelche Auflagen.

Die totale Verwertung von Pflanzenabfall -- oder eigens dafür entwickelte Pflanzen -- könnte in der Bundesrepublik das Autobenzin ersetzen, wenn es von der Energiebilanz her sinnvoll wäre: Aus Pflanzengärung gewonnenes Methanol treibt schon jetzt eine Versuchsflotte von Fahrzeugen aus dem VW-Konzern. Einziger technischer Nachteil des Methanolbetriebs: Die Autotanks müßten etwa doppelt so groß sein wie heute. Einziger wirtschaftlicher Nachteil: Methanol ist doppelt so teuer wie Benzin.

Aber diese Differenz wäre schon durch Korrekturen an der Treibstoffsteuer, die 52 Pfennig am Benzinpreis schluckt, auszugleichen. Nur -- kein Energieplaner schlägt so etwas vor.

Mit Tricks solcher Art aber ist weit

mehr Energie einzusparen, als die Atomkraft selbst im Jahre 2000 und selbst nach Meinung ihrer Propagandisten liefern kann. Aber sie würden eine langwierige Umrüstung der Industrieländer voraussetzen, die Jahrzehnte dauert. Und diese Jahrzehnte müssen überlebt werden -- mit Atomenergie.

Das gleiche gilt auch für die Nutzung von Energieträgern, die aus dem Touropa-Prospekt stammen könnten: Wind, Sonne und Wasser.

1850, so rechneten Wissenschaftler des amerikanischen Twentieth Century Fund aus, haben Windmühlen 14 Prozent des Energiebedarfs der USA gedeckt. Durch Kohle, Öl, durch elektrische Energie wurden sie verdrängt.

Würden heute die günstig nutzbaren Winde der Welt durch von der Nasa erprobte große Windrotoren eingefangen, ließen sich 20 Millionen Megawatt risikolose Leistung erbringen -- das Zehnfache der gegenwärtigen Kernkraft-Kapazität.

An mindestens 50 Plätzen der Erde herrscht ein Gezeitenhub von durchschnittlich sechs Metern. Aber nur an einem dieser Plätze -- in der Rance-Mündung bei St. Malo -- steht ein modernes Gezeitenkraftwerk, das 240 Megawatt leistet.

Rund 60 Millionen Dollar wendet die Erde dieses Jahr für die Entwicklung der Sonnenwärmenutzung auf. In Frankreich arbeitet schon heute ein großer »Sonnenofen«. In Ludwig Bölkows Ottobrunner Denkfabrik (MBB »Ludwigsburg") und im Elektrokonzern BBC sitzen kleine, aber feine Teams, um sich etwas über die Nutzung der Sonnenenergie einfallen zu lassen.

Mit dem bayrischen Genossenschaftsunternehmen Baywa haben die MBB-Techniker ein Haus entwickelt, dessen Dach aus Solarzellen besteht. Sonnenenergie liefert hier rund die Hälfte der jährlichen Heizungswärme einschließlich Warmwasserversorgung. Aufpreis für die Solartechnik: 10 000 Mark. Aufpreis für ihren Einbau in vorhandene Häuser: 20 000 Mark. * Erprobungsfahrzeug, das dem sowjetischen Automobilminister zur Verfügung gestellt wurde.

Bereits in drei Jahren wollen die MBB-Techniker (Koelle: »Wir sind in der Systemerprobung") Sonnenheizungen entwickelt haben, die selbst in Deutschland Einfamilienhäuser übers Jahr voll heizen können.

Die Solartechniker nämlich fanden heraus, daß diffuses Licht, das durch eine Wolkendecke aufs Land fällt, weit mehr Wärme abstrahlt, als bislang vermutet. Bis zum Jahre 2000, so die MBB-Leute, könnten acht Prozent der deutschen Wohnungen mit Sonne geheizt werden.

Mehr geht nicht, weil auch hier wieder die alte Infrastruktur besteht, weil die meisten Wohnhäuser stehen und die Kapazitäten einer künftigen Solarindustrie so rasch nicht wachsen.

In visionäre Großtechnologie geht Amerikas Luft- und Raumfahrtkonzern Boeing. Lloyd T. Goodmanson, der Jules Verne des Unternehmens, will quadratkilometergroße Weltraumstationen auf 37 Kilometer Höhe ansiedeln, die dort Sonnenwärme einfangen und sie als gebündelten Strahl in jeden beliebigen Teil der Welt funken.

Die Einsatzmöglichkeiten so exotischer Energien setzen Fachleute irgendwo zwischen den Jahren 2000 und 2100 an. Sie benötigen nämlich nicht nur Spitzentechnik, sondern auch eine Art Weltstaat.

Aber das ist wohl Utopie. Nicht einmal die Nationalstaaten von heute haben sich bislang in der Lage gesehen, Energiepolitik anders zu betreiben als in Form einer Datensammlung, die von der Industrie aufgegeben wurde. Nicht einmal die Ölkrise von 1973 brachte die Regenten des Westens dazu, sich über langfristige Energiepolitik zu einigen -- sie verließen sich lieber auf die Expertisen der Ölmultis, die sämtlich auch im großen Atomgeschäft stecken.

Sie verließen sich vor allem auf Versicherungen der Techniker, daß der große Reaktorunfall, der Hunderttausende von Menschenleben fordern würde, mit Sicherheit nicht kommen würde, aber eines Tages kann er dennoch geschehen. Die Regierungen verließen sich bei Kernkraftwerken und Entsorgungseinrichtungen auf sehr konventionelle Sicherheitsvorkehrungen gegen Terroristen und hatten dabei nichts anderes im Sinn als Gangsterstücke in einer ansonsten funktionierenden Gesellschaft.

Aber keine Gesellschaft, kein Staat leben so lange, wie Plutonium strahlt. Was in weltgeschichtlichen Krisen passiert, daran hat, so Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker, keiner gedacht. Schon heute ist bei dem dringendsten aller Probleme, dem der Energieversorgung, die pluralistische Welt unregierbar geworden, versagen den Staatenlenkern ihre Visionen.

Nur wenige Jahrzehnte Kernkraft für alle heißt auf lange Zeiten Kernwaffen für viele. Der Preis der Kilowattstunde, aufgerechnet gegen den Preis für die Sicherung des Friedens?

Zwar, Amerikas künftiger Präsident Carter hat einen scharfsinnigen Mann, den einstigen Verteidigungsminister Arthur Schlesinger, zum Energieberater bestimmt. Frankreich verzichtet freiwillig auf den Export von atomaren Wiederaufbereitungsanlagen, Großbritannien vorerst gar auf deren Bau.

In der Bundesrepublik, deren Atomindustrie mächtig ist, aber drückt Forschungsminister Matthöfer nur noch den Zwiespalt der Nation aus. »Das Problem ist, den Schaden möglichst klein zu halten.«

Was ist das: Möglichst klein?

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