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Atomenergie - Einstieg in den Ausstieg?

Weitermachen oder umsteigen? Tschernobyl stürzte die Bundesrepublik in einen Streit über die Atomenergie, der tiefer geht als alles Vorangegangene. Die Reaktor-Katastrophe könnte zur Wendemarke werden: weg vom technischen Gigantismus der Atomkraft, hin zu einer Energie-Politik mit menschlichem Maß. _____« Die ägyptische Hochkultur baute Pyramiden, das » _____« Mittelalter die herrlichen Kathedralen, und die Neuzeit » _____« baute große Schlösser. Heute scheinen es Atomstädte und » _____« Raketenstationen zu sein, die am zwingendsten das Wollen » _____« und Können eines modernen Industriestaats darstellen. » _____« Wolf Häfele, deutscher Kernenergie-Professor, 1963 » *
aus DER SPIEGEL 21/1986

Als der Reaktor verglühte, war es um die Unschuld der Atomindustrie geschehen.

Fassungslos und stumm registrierten die Manager der westdeutschen Stromfabriken, daß auf den TV-Kanälen die Strontium- und Jod-Werte in deutscher Luft und deutscher Erde aufgesagt wurden wie ein Wetterbericht.

Verkniffen und verbiestert mußten sie zusehen, wie Kindern der Sandkasten, Vegetariern das Feldgemüse und Gesundheitsaposteln die Milch verboten wurde.

Fachleute für Strahlenkunde und Provinzpolitiker, die sich etwas angelesen hatten, traten bitterernst in Radio und Fernsehen auf, um dem verschreckten Volk Anweisungen für strahlungssicheres Leben zu geben. Einem Motorradfahrer, der oft im Regen fuhr, wurde empfohlen, seine Kluft abzuduschen.

Mit zunehmendem Mißtrauen beobachteten die nuklearen Milliarden-Jongleure von RWE und der Siemens-Tochter KWU, von BBC und PreußenElektra, daß es zwischen Hamburg und München bei vollem Ernst so ablief wie in einem Schock-Szenario von Wolfgang Menge.

Auf der Straße und in Meinungsumfragen bekam die Sache Gewicht: Ausstieg aus der Kernenergie hieß plötzlich die Parole. Alle Sicherheit und technische Qualität, die neueren deutschen Kernreaktoren anhaftet, alle Ernsthaftigkeit ihrer Manager haben nichts mehr genutzt. Das grenzüberschreitende Menetekel erwischte auch sie.

Einstieg in den Ausstieg aus der Kernenergie, forderte der schleswig-holsteinische

Oppositionsführer Björn Engholm, der sein Brokdorf nicht ans Netz lassen will und einen SPD-Parteitagsbeschluß von 1984 aus der Tasche zieht.

Die Risiken der Kernenergie, befand Kanzlerkandidat Johannes Rau plötzlich sehr konkret, seien »auf die Dauer zu groß«. Sein nordrhein-westfälischer CDU-Konkurrent Kurt Biedenkopf, zum Entsetzen seiner Bonner Parteigenossen, schwenkte gleichfalls ein.

Die alten Recken von der Rechten, ob in Regierung oder Gewerkschaft, sie sehen es anders. »Nicht wanken«, empfahl Volkskanzler Kohl von Tokio aus, als ihm die neuesten Meinungsumfragen noch fremd waren. Kohls Verstärker Friedhelm Ost holte den alten Kram von den gefährdeten Arbeitsplätzen und der gefährdeten Wettbewerbsfähigkeit wieder hervor, um die Kernkraft zu retten. Ost: »Wir haben keinen Anlaß, den Bau weiterer Kernkraftwerke zu stoppen«

Wollen doch mal sehen. Forschungsminister Heinz Riesenhuber, sonst eher von der differenzierteren Sorte, verteidigte das Nukleare mit dem Hinweis auf sichere Einkommensverluste nach einem Abschalten der Kernkraftwerke.

Das Geld in den Taschen der Kollegen hatte Chemie-Gewerkschaftsführer Hermann Rappe im Sinn, als er seine sozialdemokratischen Parteifreunde vor »Purzelbäumen« warnte und »keinen Grund« zum Ausstieg aus der Kernenergie sah.

Für Kohls obersten Geißler kommt der Ausstieg aus der Kernkraft schon gar nicht in Frage. Alles, was geschehen ist, wollte er zunächst dem verkorksten sowjetischen System anlasten und die Sozialdemokraten mit ihren Ausstiegsideen gleich mit in die russische Ecke manövrieren.

Doch je mehr Zeit verstrich, desto deutlicher erkannte Geißler, wie schlecht die Union mit den naßforschen Durchhalteparolen der ersten Stunde ankam. »Es wäre ein Fehler«, so der CDU General plötzlich, »wenn wir jetzt mit aufgesetzter Nußknackermiene die Sache verdrängen« Wie Biedenkopf setzte

er plötzlich auf sanfte Technik und Sparen. Wahlkämpfer Geißler: »Man muß den jungen Leuten eine Perspektive bieten.« Die CDU müsse sagen: »Wir machen alle Anstrengungen, um euch eine Alternative zu schaffen.« Unversehens ist Geißler gar »optimistischer als viele andere«, daß da Musik drin ist.

Das politische Geschäft mit der Atomenergie wird nun so schwer wie nie zuvor. Grünen-Vormann Joschka Fischer kündigte vorigen Mittwoch in einer langen Bundestagsdebatte über Tschernobyl an, man erwäge eine Verfassungsklage. Die Atomkraft könne »elementare Rechte« der Menschen verletzen.

Im Wahlkampf zu Niedersachsen, wo dem Kernkraftfreund und Wendland-Bewacher Ernst Albrecht in der Person des SPD-Manns Gerhard Schröder ein unangenehmer Herausforderer gegenübersteht, hat das Unglück von Tschernobyl seinen Stellenwert: Die ohnehin schon verbiesterten Bauern mußten ihr Gemüse wegschmeißen, ihren Kohl unterpflügen. Ihren Albrecht - mögen sie ihn noch?

Seit die Kernkraft als Stromquelle erkannt worden war, gab es zwischen den großen Parteien stets den Konsens über ihren Ausbau. Als SPD-Kanzler Helmut Schmidt aus dem Amt verschwunden war, haben die Sozialdemokraten sich vorsichtig distanziert. Den Brüter von Kalkar und die Wiederaufarbeitung von Wackersdorf wollten sie nun nicht mehr.

Im Präsidium gingen die Genossen am Montag voriger Woche einen Schritt weiter. Dem SPIEGEL hatten sie entnommen, daß offenkundig nur noch eine Minderheit für den Atomstrom sei. Die SPD müsse nun konkret werden und den Ausstieg planen, argumentierte Fraktionschef Hans-Jochen Vogel. Zaudernd billigte Kanzlerkandidat Johannes Rau den Beschluß.

Der NRW-Ministerpräsident sei doch, ermunterten ihn Präsidiumsmitglieder, in einer glänzenden Lage. Rau könne über die Abwendung von der Kernenergie reden und gleichzeitig, am Beispiel des Schnellen Brüters in Kalkar, die Ernsthaftigkeit seiner Pläne belegen. So wird es geschehen.

Im Juni oder Juli will die nordrheinwestfälische Regierung verkünden, sie könne keine Genehmigung zum Beladen des Brüterkerns geben, bevor nicht weitere, zeitraubende Sicherheitsauflagen erfüllt seien.

Faktisch sei der Brüter von Kalkar damit erledigt, war die einhellige Genossen-Meinung.

Gleichzeitig droht auch dem anderen Test-Meiler in dem seit einigen Monaten arbeitenden Hochtemperaturreaktor in Schmehausen bei Hamm das Ende. An diesem Kraftwerk hängen viele Sozialdemokraten an Rhein und Ruhr, weil sie auf die Kohlevergasung mit Hilfe atomarer Prozeßwärme gehofft hatten. Damit wird es wohl nichts. Man könne schließlich, erkannten die Genossen, nicht den Ausstieg aus der Atomwirtschaft betreiben und gleichzeitig diese Reaktorlinie weiter verfolgen.

Seit Tschernobyl jedenfalls sind die Fronten klar: Kohls CDU will die Atomkraft ausbauen, Raus SPD will sie abbauen, und die Grünen sind überhaupt dagegen.

Sie stehen in guter Gesellschaft. Denn die großen alten Männer von Wissenschaft und Technik sind auch dagegen.

Carl Friedrich von Weizsäcker Physiker und Bruder des Bundespräsidenten, legte sich »gegen die Entscheidung für Kernenergie als Hauptenergiequelle« fest.

Luft- und Raumfahrt-Pionier Ludwig Bölkow, Gründer des Technologie-Konzerns MBB, geht noch einen Schritt weiter. Weil er der Hochtemperatur-Technik ganz allgemein mißtraut, entwickelte er schon Ende der 70er Jahre ein Szenario für das Jahr 2030, in dem Atomkraft und fossile Brennstoffe wie Kohle und Öl nicht mehr vorkommen.

Und Olof Palme, der ermordete Ministerpräsident Schwedens, hämmerte der Jugend seines Landes mit dem Blick auf das Atom ein: »Ihr seid die erste Generation

der Menschheitsgeschichte, die sich keinen Fehler mehr erlauben darf.«

Aber der Fehler, er war schon geschehen: Mit der Entscheidung, Kernkraft für friedliche Zwecke zu nutzen, war der Weg frei in die existentielle Gefährdung der Menschheit ohne Krieg. Tschernobyl, in dem die zweitausendfache Radioaktivität einer Hiroschima-Bombe steckt, hat es gezeigt. Was theoretisch denkbar gewesen ist, das geschah. Murphy''s Law. Nur: Wenige hatten erwartet, daß es so früh kommt.

Der Weg in die Kernkraft war ja kein Fehler aus Torheit, Ignoranz oder Interessenklüngelei. Es war ein Fehler der reinen Vernunft. »Meiner wissenschaftlichen Herkunft nach«, bekennt Carl Friedrich von Weizsäcker jetzt, »war ich bis zum Anfang der siebziger Jahre ein spontaner Befürworter der Kernenergie.« Und ein so eloquenter Kernkraftgegner wie Klaus Traube hat seinen Weg zur Erkenntnis gar als Manager des Brüter-Projekts von Kalkar begonnen.

Ignoranz, Torheit und Interessenklüngelei - die kamen erst dazu, als das Votum für die Kernkraft sich in industrielle Milliarden-Umsätze verwandelt hatte. Als die Gelder für den Ausbau der Nuklear-Energie die Entwicklung jeder anderen Energietechnik blockierten. Als die große Verdrängung da war.

»Ohne Kernkraft gehen die Lichter aus, hatte die Atompartei dem Volk einzuhämmern versucht. »Wir brauchen die Kernenergie« beschied der technokratische SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt die Genossen noch auf ihrem Parteitag von 1977.

Ein Jahr später setzte Nachfolger Helmut Kohl, damals noch Oppositionsführer, einen drauf: »Die Gegner der Atomenergie sind Reaktionäre. Sie wenden sich gegen den Fortschritt«

Der Fortschritt barst schon 1979, als der Three-Mile-Island-Reaktor von Harrisburg in USA bis zur Kernschmelze geriet und der nukleare Super-GAU wie in einem Horror-Film um gerade 20 Minuten verhindert wurde.

Der Fortschritt hatte etwas abbekommen, seit in den USA durch das bloße Heraufschrauben der Sicherheitskriterien die Wettbewerbsfähigkeit der Atomenergie dahinsiechte. Seit 1978 wurden in den Vereinigten Staaten keine Kernkraftwerke mehr geordert. Seit Ronald Reagan 1983 mit seinem Plan scheiterte, die von Vorgänger Jimmy Carter gestoppte Schnellbrüter-Entwicklung wieder in Gang zu bringen, ist ein Stopp der Kernkraft keine Frage sogenannter Träumer mehr. Er ist real.

Auch in Deutschland?

Der Kernkraftanteil an der westdeutschen Stromerzeugung aus öffentlichen Kraftwerken hat 1985 runde 36 Prozent erreicht. Die 1984 und 1985 in Betrieb genommenen Atommeiler von Gundremmingen. Grohnde und Philippsburg hatten noch einmal über 5000 Megawatt elektrischer Leistung zusätzlich gebracht.

Gegenwärtig arbeiten in der Bundesrepublik 19 Kernkraftwerke mit einer Leistung von über 16000 Megawatt. Noch in diesem Jahrzehnt sollen sieben weitere mit fast 7000 Megawatt dazukommen, darunter der Schnelle Brüter von Kalkar.

Mit fast 23000 Megawatt Kapazität wird die Kernenergie dann über 50 Prozent des westdeutschen Stromverbrauchs decken. Schon 1985 hat sie Braun- und Steinkohle bei der Herstellung von Strom überholt.

Atomenergie hat in der Bundesrepublik die Herstellung der gesamten Grundlast-Energie übernommen - jener Stromverbrauchsmenge, die zu keiner Zeit des Jahres unterschritten wird. So sind Hamburg. Schleswig-Holstein und Niedersachsen zu rund 70 Prozent von Nuklear-Energie abhängig.

Am gesamten Energieverbrauch der Bundesrepublik Deutschland, zu dem auch Öl und Gas für Heizungen, Sprit für Automobile und Flugzeuge zählen, ist die Kernkraft inzwischen mit über zehn Prozent beteiligt. Ein völliger Ausfall, das müssen auch die Atomkritiker zugeben, wäre nur durch drastische Sparmaßnahmen und Anwerfen schon längst stillgelegter Kohlekraftwerke zu bewältigen.

Hat Kernkraft noch eine Alternative? Bleibt den Deutschen nach Tschernobyl nur noch die Wahl zwischen Blackout und Fallout?

Für kurze Zeit könnte es so sein. Das System der großen Leichtwasser-Reaktoren ist gegenwärtig in Westdeutschland so perfekt ausgebaut, daß es rasch funktionsfähigen Ersatz dafür ohne soziale und ökonomische Verwerfungen nicht gibt.

In Frankreich und Belgien steht es noch schlimmer. Dort ist die Atomenergie an der Stromversorgung bereits zu über 60 Prozent beteiligt. Abhängigkeiten wider die politische Vernunft, Expansion wider die kaufmännische Rentabilität.

Aber Atomenergie, wollen auch die Manager in den großen deutschen Stromfabriken wie RWE und Preußen-Elektra den Verbrauchern klarmachen sei die sauberste und billigste Energie überhaupt: sie sei folglich lebensnotwendig im Wettbewerb der Nationen. 26 dieser Nationen betreiben bereits 361 Kernkraftwerke. 175 weitere sind in Bau.

Doch sauber ist Kernkraft nur solange nichts passiert. Und billig bleibt sie nur, solange allein von der Produktionseinheit Kernkraftwerk geredet wird statt vom ganzen Atomsystem.

Zum Atomsystem gehört außer dem Kernkraftwerk aber noch die Entsorgungswirtschaft und die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit.

Verglichen mit anderen Technologien ist die Kernkraft deshalb mit so vielen Absonderlichkeiten behaftet, daß sie in das System der industriellen Wettbewerbswirtschaft mit hoher Flexibilität nicht hineinpaßt. Es sei denn, ihr technisches Grundkonzept wird verändert.

Das atomare System ist beim gegenwärtigen Stand der Technik monopolistisch, zentralistisch und unflexibel. Es belastet die Gesellschaft mit zunehmenden und nicht mehr meßbaren Sozialkosten bis hin zu Polizeigewalt und einer latenten Lebensbedrohung für den Bürger. Es ist eine Apparatur, die eher zu totalitären Zentralverwaltungssystemen paßt als zu einer freiheitlich organisierten Marktwirtschaft.

»Kernenergie ist die einzige Technologie«, überlegte schon am 26. April 1978 ein US-Kongreßbericht, »bei der hohe Kapitalkosten sowohl durch den Beginn als auch durch das Ende des Brennstoff-Kreislaufs verursacht werden«

Während nämlich von den üblichen Fabriken der Schrott beim Abbruch meistbietend an einen Händler verhökert wird, müssen beim Management des Atomschrotts noch einmal hohe Investitionen aufgebracht werden, die noch einmal hohe laufende Kosten verursachen.

Die Abbruch-Investitionen können nach der zwanzig- bis dreißigjährigen Betriebszeit eines Kernkraftwerks mehr zu Buche schlagen als die Investition bei seinem Bau. Heraus aber kommt für einen Teil der Anlage weder Abbruch noch Recycling: Sie wird einfach dichtbetoniert und als »Hünengrab« (PreußenElektra-Chef Hermann Krämer) in der Landschaft stehen - Denkmal einer vermessenen Zeit.

Die Stromversorgungsgesellschaften stellen zwar in ihren Bilanzen inzwischen Milliardenbeträge für Entsorgung und Abbruch zurück. Aber niemand weiß, was wirklich ausgegeben werden muß - und die Finanzämter wollen steuermindernde Rückstellungen bei den Stromfabriken möglichst klein halten.

Neben dieser Absonderlichkeit ist Kernkraft auch die einzige technische Innovation der Industriegeschichte, die nicht impulsiv von unten her durchgesetzt wurde, sondern aufgrund eines Beschlusses der Industriestaaten ganz von oben: Sie ist eine politisch oktroyierte Technik, und keine spontane.

Wären vorsichtig kalkulierende Unternehmer zuerst am Werk gewesen und nicht eine riesenhafte Kriegsmaschinerie, gäbe es die gegenwärtige Form des kostentreibenden atomaren Gigantismus vermutlich nicht. Er ist eine Folge der Propaganda »Atome für den Frieden«, die bei Staaten und Gelehrten den Hiroschima-Komplex verdrängen sollte.

Mit dem komplizierten Aufbau des Atomsystems stellt die Kernkraft normale industrielle Ablaufgesetze gelegentlich sogar auf den Kopf. So wurde sie zur einzigen Technologie, die das Gesetz der Massenproduktion, von dem der Wohlstand stammt, umkehrte.

Je mehr Kernkraftwerke gebaut werden, desto schwerer schlagen die gesellschaftlichen Zusatzkosten wie polizeiliche Sicherung und die betrieblichen Zusatzkosten wie Entsorgung oder Wiederaufarbeitung zu Buche. Denn beides wird um so aufwendiger gesichert werden müssen, je mehr strahlendes Material kommt.

Die gegenwärtigen Preise für Nuklear-Strom, die so niedrig und so bequem sind, decken dies alles nicht in voller Höhe ab. Sie decken nur die Kosten voll, die im Atomkraftwerk selbst entstehen. Ebenfalls nicht ausgewiesen ist der Aufwand für eine große Zahl konventioneller Kraftwerke, die nur deswegen betriebsbereit gehalten werden müssen. weil Kernkraftwerke einmal ausfallen können. Ihre Kosten werden dem konventionellen Teil der Energieversorgung zugerechnet.

Ganz und gar undeutlich wird die Kostenlage bei der Risikoabsicherung. Denn Kernkraft ist eines jener Systeme,

bei dem Tod und Gesundheitsbedrohung mit dem Ende eines Unfalls nicht vorbei sind, sondern erst beginnen.

Wenn ein Flugzeug abstürzt oder ein Dampfkessel platzt, ist mit dem Aufprall der Trümmer der Schaden übersehbar. Wenn ein Kernkraftwerk zu Bruch geht fangen die Hauptschäden erst lange danach an. Für Versicherungen ein unmögliches Risiko, für die menschliche Gesellschaft eine Damokles-Vorstellung: vernichtete Ernten, dauerhafte medizinische Behandlung, evakuierte und auf Jahrzehnte unbewohnbare Regionen riesigen Ausmaßes, Tote, Krüppel, internationale Verwicklungen.

Die Versicherungsunternehmen hatten denn auch bei Kernkraftwerken bis zum vergangenen Jahr enge Risikobegrenzungen durchgesetzt, auf die sie ihre Prämien gründen. Das nicht mehr Kalkulierbare des Super-GAU trägt die öffentliche Hand, mithin der Steuerzahler, falls er überlebt hat.

Im Nebel liegen noch die betrieblichen und gesellschaftlichen Kosten der atomaren Entsorgung. Denn zu den Eigenarten der Kernenergie gehört es, daß ihr System nicht mehr im Rahmen menschheitsgeschichtlicher, sondern erdgeschichtlicher Zeiträume zu kalkulieren ist. Besonders bei der durch den Schnellen Brüter von Kalkar symbolisierten Plutoniumwirtschaft sind solche Dimensionen üblich.

Plutonium 239 hat eine Halbwertzeit - die Hälfte der Strahlungsintensität ist dann weg - von 24360 Jahren. Es gibt aber auch Halbwertzeiten von mehr als zehnfacher Länge. Selbst aus den vom Sowjet-Reaktor freigesetzten Stoffen wie Strontium 90, Cäsium 137 und Krypton 85 können sich Strahlungszeiten von bis zu 700 Jahren ergeben.

700 Jahre - was ist das? Vor 700 Jahren drangen die Mongolen nach Polen vor. Vor 24600 Jahren schmückten Höhlenmenschen ihre Behausungen mit farbigen Zeichnungen. Vor 250000 Jahren schließlich lebte der erste intelligente Mensch.

Vermessen, für solche Zeiträume eine Entsorgungswirtschaft zu konzipieren. Idiotisch, die gegenwärtig praktizierten Verkapselungen des Atommülls und die Salzstöcke für alle Zeiten sicher zu finden. Und abenteuerlich die atomaren Schuttmengen.

Nach früheren Berechnungen der US-Umweltbehörde würde der radioaktive Abfall allein der US-Kernkraftwerke bis zum Jahre 2000 eine vierspurige Autobahn quer über den 4500 Kilometer breiten US-Kontinent 30 Zentimeter hoch eindecken. Wie stellt sich die Atomindustrie eine Endlagerung nach hundert Jahren bei ständig wachsender Atomwirtschaft vor?

Die als so billig und sauber gepriesene Kernkraft kann also sehr teuer und unsauber werden. Die Herren der Nuklear-Industrie tanzen auf dem Vulkan, und sie wissen es. Noch ein Unfall oder zwei von der Tschernobyl-Art, und die große Hysterie bricht aus: abschalten aller Atomkraftwerke der verletzlichen Typen. Blackout oder Fallout, das ist dann wirklich die Frage.

Wer immer sich mit ehrlichem Gemüt in die Entwicklung der Kernenergie geworfen hatte, der müßte sie nun mit gleicher Ehrlichkeit wieder abschaffen. Auch wenn damit seine Lebensaufgabe abgeschafft wäre.

Wer immer das einstige Atomkonzept vom Leichtwasser-Reaktor über den Schnellen Brüter bis hin zum Fusionsreaktor entworfen hat, müßte es nun widerrufen.

Mit dem Schnellen Brüter gibt es Schiffbruch, weil er nur noch für die Fertigung von Plutonium zum Zwecke der Bombe seinen perversen Sinn macht. Jeder andere Sinn dieser »Uran-Super-Maschine« (Traube) ging verloren, seit sich die Vorräte an Natur-Uran als ausreichend für Jahrhunderte erwiesen haben.

Mit dem Fusionsreaktor, den Christdemokrat Biedenkopf jetzt als Alternative empfiehlt, gibt es erst recht Schiffbruch, weil die feurigen Millionen-Grad-Celsius-Temperaturen einer Wasserstoff-Fusion mit vernünftigem Aufwand nicht zu bändigen sind. Und es gibt Schiffbruch, weil so unendliche Mengen kostbarer Metall-Legierungen wie der Fusionsreaktor sie braucht, auf die Dauer nicht produzierbar wären. Schlimmer noch: weil ihre Wiederverwendbarkeit wegen höchster Radioaktivität eingeschränkt bleibt.

Vor solchen Aspekten können die gegenwärtigen Vorteile des Atomstroms leicht verblassen. Ex-Atommanager Klaus Traube behauptet, das sei längst der Fall. Die Atompartei sei trotz höllischer Propaganda-Blasen auf dem Rückzug. Schon Mitte der siebziger Jahre, so Traube, sei die Kernkraftwerkskonjunktur, von den USA ausgehend, zusammengebrochen.

Der Zusammenbruch habe weniger konjunkturelle Gründe gehabt, weit mehr habe die Kostenexplosion beim Bau der Nuklear-Kraftwerke die Euphorie gebremst. Nach dem sowjetischen Super-GAU werden die Kosten weiter steigen. Überall auf der Welt werden sich die Sicherheitsanforderungen für Kernkraftwerke verschärfen.

In einem ohnehin schon schrumpfenden Gewerbe fällt es nicht mehr so schwer, den schrittweisen Ausstieg zu proben. Johannes Rau und die Seinen fordern lautstark, was es im Grunde schon gibt. Die Frage heißt nicht mehr, ob ein Ausstieg aus der Kernenergie möglich ist, sondern wie.

Die Sache mit der Energie ist kein Kurzzeitgeschäft. Die Folgen eines Wandels gehen in die Jahrzehnte. Können andere Energieträger die Kernkraft da noch ersetzen? Können alternative Energien so viel Strom erzeugen, wie die abgeschalteten Kernkraftwerke geliefert haben? Können die Staaten ihr technisches System so ändern, daß die Nuklear-Energie in Kraftwerken überflüssig wäre, obwohl es immer weniger Öl und immer weniger Kohle gäbe?

Die Antwort ist jein.

Jein, weil eine klarere Antwort erst möglich ist, wenn politische Entscheidungen fallen, wenn Regierungsstellen Daten setzen, mit denen das gegenwärtige Energieversorgungssystem auf die Anforderungen einer Nach-Atomzeit getrimmt wird.

Daß diese Umstrukturierung nicht von der Energiewirtschaft selbst organisiert werden kann, zeigen die Erfahrungen des letzten Jahrzehnts. Trotz aller Energiespar-Appelle setzten die sieben großen Verbundunternehmen, die die Energiepolitik mehr oder weniger unter sich ausmachen, auf Expansion. Statt zu sparen, bauten sie neue Kraftwerksblöcke und drängten in neue Absatzmärkte wie den Wärmemarkt - auch wenn sich beides als krasses Gegenteil rationeller Energienutzung erwies.

Keines der oligopolistischen Energieversorgungsunternehmen versuchte von sich aus, den Energieverbrauch zu drosseln und Sparwillen durch entsprechende Verbrauchstarife zu fördern. Keines der mit Technikern überreichlich ausgestatteten Großunternehmen bemühte sich, das Verhältnis zwischen Energieerzeugung und Energieverbrauch so zu verändern, daß kostbare Energierohstoffe wie Kohle, Öl und Gas, die für Hochtemperaturprozesse einsetzbar sind, nicht für Raumheizung und Wasserkochen verschwendet werden.

Wer immer die Stromhersteller an ihre Pflicht erinnerte, wirtschaftlich zu produzieren, erhielt von ihnen die standardisierte Antwort: An erster Stelle steht die Sicherheit ausreichender Stromversorgung. Und das hieß für die Strom-Mogule immer: im Überfluß schwimmen.

»Niemand kann bestreiten«, so Ludwig Bölkow am 9. November 1984 auf der Mitgliederversammlung der Vereinigung Industrielle Kraftwirtschaft e.V., »daß hier noch viel ungenutztes Potential zur rationellen Energieverwendung liegt, das technische Kreativität herausfordert«

Wenn die Hälfte so wertvoller Brennstoffe wie Gas, Kohle und Öl, vom Uran zu schweigen, in der Raumheizung und der Warmwasserbereitung, also in einem anspruchslosen Niedrigtemperaturbereich, verballert wird, dann stimmt das Energiesystem nicht: Die ökologisch gefährlichen fossilen Brennstoffe und die faustische Atomkraft mit ihrem schleichenden Vernichtungspotential sind bei der Hälfte ihrer Anwendungen fehl am Platze, mithin überflüssig: Nicht der Verbraucher ist der Verschwender, sondern das Energiesystem selbst.

In diesem Verschwendungssystem ist die Kernkraft zum integralen Bestandteil

geworden. Wer sie sofort abschaffen will, wie die Grünen, knackt das System an. Wer sie allmählich abschaffen will. wie neuerdings die SPD (Regierungssprecher Ost: »Verantwortungslos"), verändert es schleichend. Wer auf dem Atomkurs bleibt, wie Bundeskanzler Kohl, verpaßt und verpatzt die Wende zu einem sinnvolleren und sicheren Energiesystem.

Ein sinnvolles Energiesystem muß den Einsatz ökologisch gefährlicher Rohstoffe wie Kohle, Öl und teils Erdgas so weit mindern wie möglich und das nicht mehr Vermeidbare streng abfiltern: Katalysator beim Auto, Filter auf den Kraftwerksschloten, Wirbelschichtfeuerung in den Brennkammern.

Ein sinnvolles Energiesystem muß dahin kommen, daß für die Heizung von Wohnungen und die Erzeugung von warmem Wasser keine hochwertigen Energierohstoffe mehr verwendet werden, sondern Abfallenergien. Solarkraft und Industrieabwärme.

Die attraktivsten Abfallenergien sind Abwärme aus der Stromproduktion und Abwärmeaus industriellen Fertigungsprozessen: In beiden Fällen wird die eingesetzte Energie zweimal verwendet - einmal für die Produktion von Elektrizität oder Gebrauchsgütern, zum anderen für die Raumheizung. Technisch wird dies Kraft-Wärme-Koppelung genannt.

Bei raffiniertem Einsatz der Abwärme durch Heizkraftwerke und Wärmetauschanlagen, bei zusätzlicher Verwendung von Solar- und Windanlagen, bei verbesserter Raumisolierung ist anstelle zentraler Versorgungsanlagen ein dezentrales System denkbar, mit dem sich ohne zusätzlichen Einsatz von Öl, Gas, Kohle und Strom heizen läßt. Der einzige Einsatz sind Investitionen.

Darüber hinaus läßt sich bei sämtlichen Prozessen Jahr für Jahr noch zusätzliche Energie einsparen. Automobile des nächsten Jahrzehnts können mit drei bis sechs Liter Sprit auskommen, Elektrogeräte der nächsten Generation mit zwei Drittel ihres bisherigen Strombedarfs. Da die Bevölkerung in der Bundesrepublik sinkt, neue sparsame technische Geräte sich im Zyklus von zehn Jahren durchsetzen und die digitale Steuerungstechnik sich verbessern wird, haben die Deutschen bis zum Jahr 2000 bei steigendem Lebensstandard einen geringeren Energieverbrauch zu erwarten.

Jede Ausweitung des gegenwärtigen Systems ist mithin eine Fehlinvestition.

In einer neuen Untersuchung über die »Grenzen der Atomwirtschaft« hat ein Team unter Führung des gegenwärtig in Hamburg als Wissenschaftssenator arbeitenden Professors Klaus Michael Meyer-Abich das mittelfristige Sparpotential ausgerechnet. _(Klaus Michael Meyer-Abich, Bertram ) _(Schefold: »Die Grenzen der ) _(Atomwirtschaft«. Verlag C.H. Beck; 332 ) _(Seiten; 28 Mark. )

Die Wissenschaftler, voran Rolf Bauerschmidt, gehen dabei von zwei Vergleichskonzepten aus, dem »Fall K«, hinter dem das Kernkraftkonzept steht, und dem Fall »S«, der Sonnenenergie und Sparen bedeuten Öl. Die Untersuchung knüpft an ähnliche Versuche, die der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Reinhard Ueberhorst in seiner Enquete-Kommission »Zukünftige Kernenergiepolitik« gestartet hat, in der sogar vier verschiedene Energiekonzepte verglichen wurden. Sie ähnelt außerdem Untersuchungen des Freiburger Öko-Instituts.

Die Meyer-Abich-Crew vergleicht dabei die Energieverhältnisse in den Jahren 1982, 2000 und 2030 (siehe Graphik). Schon für das Jahr 2000 schlagen die hohen Umwandlungsverluste negativ zu Buche, die besonders bei der Stromgewinnung entstehen. Statt weniger wird beim Atomkonzept mehr Primärenergie verbraucht als 1982. Bei Modell S dagegen sinkt der Primärenergieeinsatz leicht, der Einsatz umweltschädlicher Stoffe deutlich.

Für das Jahr 2030 errechnet die Untersuchung beim Fall K einen Energieverbrauch von 546 Millionen Tonnen SKE _(SKE = Steinkohleeinheit, Kennziffer ) _(für die Umrechnung des Energiegehalts ) _(verschiedener Brennstoffe. )

, davon allein 225 in Gestalt der Kernenergie. Beim Modell S werden - gleicher Lebensstandard vorausgesetzt - 133 Millionen Tonnen SKE gespart. Von den verbrauchten 347 Millionen Tonnen SKE stammen dann schon 57 Millionen Tonnen aus umweltfreundlichen, regenerierbaren Quellen wie Sonne, Wind und Wasserkraft. »Längerfristig«, so der Bericht,führt der K-Weg in eine Plutoniumwirtschaft, wohingegen auf dem S-Weg vor allem Photozellen und Speicherungsmöglichkeiten« dominieren. Ganz entscheidend aber: Die Raumheizung ist durch Solarenergie, Wind und Heizkraftwerke von den konventionellen Energieträgern abgekoppelt.

Ein ähnliches Konzept hat der einstige Luft- und Raumfahrt-Monomane Ludwig Bölkow im Auge, seit er sich aus der von ihm gegründeten Technologiefirma MBB verabschiedet hat. Bölkow hält die Zeit für reif, sich grundsätzlich für eine solare und auf Spartechniken gebaute Energiewirtschaft zu entscheiden, die zunehmend auch fossile Treibstoffe wie Öl und Benzin durch Wasserstoff ersetzt.

Probleme bereiten gegenwärtig noch die Kosten. Sie lassen sich durch technische Durchbrüche, zum anderen aber auch durch Massenproduktion senken. Als Flächenbedarf für seine Solar- und Wasserstoff-Welt rechnet Bölkow in Deutschland mit 3000 Quadratkilometern. »Diese Fläche«, so der MBB-Gründer, »liegt leicht über der Fläche der landwirtschaftlichen Sozialbranche in der Bundesrepublik«

Bölkow rechnet vor, daß Sonnenenergie den größten Teil der Stromversorgung bringen kann, wenn sie raffiniert eingesetzt wird. Überdies glaubt der 73jährige Raumfahrt-Pionier, daß Verbrennungsmotoren gegenwärtigen Zuschnitts durch ähnlich konstruierte Wasserstoff-Motoren ersetzt werden können - im Auto wie im Flugzeug.

Für die Produktion von Wasserstoff und Wasserstoff-Gas sind hohe Prozeß-Temperaturen nötig. Sie lassen sich durch Solarenergie herstellen. Beim

Verbrennen von Wasserstoff in den Motoren entstehen keine schädlichen Rückstände. Heikel an der solaren Wasserstoff-Welt ist die politische Seite: Die großen Produktionsanlagen müßten weit weg von den gegenwärtigen Industriezentren stehen. Die Gewichte auf der Nord-Süd-Achse verschieben sich. Doch die sanfte Technik hat auch menschlicheres Maß - niemand wird überfordert. Die Atompartei dagegen fordert den Neuen Menschen und stattet sich mit gott-ähnlichen Schöpfungsansprüchen aus.

Weil die Umsteuerung eines Energiesystems lange dauert, müssen die Regenten der Industrieländer sich rasch entscheiden, wenn sie die Atomkraft bändigen wollen. Aber einstweilen wollen sie nicht. Nicht einmal in Ansätzen haben die Bundesregenten und ihre atomgläubigen Kollegen in der französischen und ostdeutschen Nachbarschaft die Ingenieurszunft auf andere Pfade geleitet. Der amtliche Pfad in Ost und West ist immer noch der harte. Die Planzahlen und das Weltniveau drüben, die Strom-Konzerne, die Elektrokonzerne und die Kraftwerk Union von hüben, sie sollen leben. Und ihr Sprachrohr. »Bild«, schreit: »Wenn wir auf Atomkraft verzichten, sterben die Bäume schneller«

Allerdings sind die Spartechniken in der Bundesrepublik weniger unter dem Einfluß der Atomlobby als unter dem des niedrigeren Ölpreises versackt. Doch kein Verantwortlicher zu Bonn hat daraus die Verpflichtung abgeleitet, das gesparte Geld für künftige Energietechniken zu nutzen.

Zwar gibt es in Westdeutschland längst sogenannte Nullenergiehäuser, die sich ohne harte Brennstoffe selbst versorgen. Zwar gibt es in Chicago einen Büroturm, in dem Außenwärme und die Prozeßwärme der elektrischen Büromaschinen über einen Speicher so gesteuert werden, daß keine Heizung mehr nötig ist. Zwar gibt es die schleswig-holsteinische Küstenstadt Flensburg, in der neun von zehn Wohnungen preiswert aus der Abwärme des Elektrizitätswerks der Stadt geheizt werden. Aber trotz eines Ausnutzungsgrades der eingesetzten Energie von über 80 Prozent haben es die großen Energieversorgungsunternehmen (EVU) stets verhindern, daß solche Lösungen Allgemeingut werden. Im Gegenteil: Durch ein raffiniertes

Rabatt-System fördern die EVUs jeden, der Strom verschwendet. Durch eine expansive Verkaufsstrategie suchen sie immer größere Mengen wertvoller Elektrizität im Niedrig-Temperaturmarkt zu verpulvern. Durch zielstrebigen Aufkauf kommunaler Stromversorgungs-Gesellschaften wurden sie zu zentralistischen Gesellschaften, die dezentrale Wärmekraftwerke wie in Flensburg gar nicht erst wieder aufkommen ließen.

Mit dem Aufbau riesiger Kernkraftwerke hatten sieh die EVUs ohnehin schon auf eine Überproduktion eingelassen. Bölkow 1984: »Der Strommarkt leidet, obwohl dies von den Stromerzeugern bestritten wird, unter Überkapazitäten. 50 Prozent Kapazitätsreserve sind in der Tat schwierig zu begründen. Die EVUs drängen daher in den Wärmemarkt« Für die Grünen sind diese 50 Prozent Überkapazität der Anlaß, die augenblickliche Stillegung der Kernkraftwerke zu fordern. Kein V erbraucher, sagen sie, werde das merken.

So einfach, allerdings, ist das nicht. Beim Abstellen von Atommeilern mit noch frischen Brennstäben tauchen zusätzliche Entsorgungsprobleme auf. Wer sie vermeiden will, kann die Reaktoren erst abstellen, wenn die Stäbe abgebrannt sind. Doch nützt es der Bundesrepublik, wenn sie als einziges Land Mitteleuropas ihre Atomkraftwerke stillegt? Für die Sicherheit ihrer Einwohner wäre, so Forschungsminister Riesenhuber, dann wenig erreicht.

Rund um den westdeutschen Staat, in Belgien, Frankreich und der DDR, stehen massive Kernkraftwerksblöcke, die den Qualitätsstandard der Westdeutschen oft nicht erreichen. Könnte eine Bundesregierung verlangen, daß die anderen deshalb zuerst abschalten?

Die anderen werden es nicht tun. Dennoch ist politisches Handeln gefragt - freilich nicht nach den Kriterien der Wahltermine.

Das Kernkraftproblem ist säkular geworden. Die Atomenergie, einst entwickelt, um die nur begrenzt vorhandenen fossilen Energierohstoffe wie Öl, Gas und Kohle zu ersetzen, kann diese Aufgabe nicht erfüllen. Sie beschränkt sich auf Stromherstellung in großen Blöcken und wird auf die Dauer sehr teuer.

Der Ausstieg aus den Atomsystemen ist damit nicht nur eine Frage der physischen Sicherheit, wie sie durch Tschernobyl gestellt wird, sondern auch eine der Versorgungssicherheit und der Ökonomie. Gigantische Zentraleinheiten bringen dabei angesichts fortschreitender Digitalisierung der Technik nicht mehr den einst enormen Vorsprung in der Wirtschaftlichkeit; Kleinanlagen arbeiten plötzlich effektiver. IBM ist der Verderber von KWU. Dezentrale Versorgung mit Feinsteuerung ist der praktischere und billigere Weg.

Ob die Kernkraftwerke heute oder in zwei Jahren, ob sie stufenweise oder en bloc abgeschaltet werden sollen, hängt davon ab, für wie sicher man sie hält. Die durch die Überkapazitäten gegebene Chance, veraltete oder unsichere Meiler dichtzumachen und so das atomare Risiko zu mindern, darf aber wohl nicht ungenutzt bleiben.

Den endgültigen Ausstieg aus der Kernenergie möglich zu machen ist Aufgabe der nächsten Jahre und Jahrzehnte. Die Industriestaaten mit Gespür für Wirtschaftlichkeit müssen ein nach-atomares Energiesystem entwickeln, das die großen Nachmacher im Osten übernehmen können, weil auch ihnen nach Tschernobyl das Atomproblem über den Kopf wächst.

Bis zum Jahre 1986 haben die Deutschen Strompolitik mit Überkapazitäten betrieben. Die Folgen waren Verschwendungswirtschaft und falsche Verbrauchsstrukturen. Wenn eine Industriegesellschaft das Gegenteil beschließt, werden ihre Bürger auch das honorieren. Sie werden, wie einst beim Ölschock, rationeller denken.

Der Stromverbrauch einer Überflußgesellschaft ist weder ein Naturereignis noch die blanke Notwendigkeit. Er ist die Folge einer riskanten Verführung, die tödlich sein kann. Ludwig Bölkow: »Wir dürfen unseren Nachfahren keine zerstörten Wälder und keine strahlenden Endlager hinterlassen.«

Die ägyptische Hochkultur baute Pyramiden, das Mittelalter die

herrlichen Kathedralen, und die Neuzeit baute große Schlösser. Heute

scheinen es Atomstädte und Raketenstationen zu sein, die am

zwingendsten das Wollen und Können eines modernen Industriestaats

darstellen. Wolf Häfele, deutscher Kernenergie-Professor, 1963

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WELT DER ATOMKRAFT Zahl der in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke HÖHERER VERBRAUCH MIT ATOMKRAFT Modelle für die Entwicklung des Energieverbrauchs in Millionen Tonnen SKE Quelle Meyer-Abich, Schefold, Die Grenzen der Atomwirtschaft Primärenergie insgesamt Umwandlungsverluste nichtenergetischer Verbrauch Endenergie darunter erneuerbare Energiequellen Energieeinsparungen Beisspiele für die Annahmen bei Modell K (Ausbau der Kernenergie) Längerfristig keine starken Anstrengungen zum Energie-Einsparen; »Erneuerbare Energiequellen« werden nicht über das gegenwärtige Maß hinaus genutzt Umgebungsenergie nur mit elektrisch betriebenen Wärmepumpen (statt Gas) Modell S (Sonnenenergie/Energieeinsparung) Keine weitere Ausweitung der Grundstoffindustrie nach dem Jahr 2000 Verlagerung von privaten PKW zu öffentlichen Verkehrsmitteln Kopplung Stromerzeugung/Fernwärme

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Klaus Michael Meyer-Abich, Bertram Schefold: »Die Grenzen derAtomwirtschaft«. Verlag C.H. Beck; 332 Seiten; 28 Mark.SKE = Steinkohleeinheit, Kennziffer für die Umrechnung desEnergiegehalts verschiedener Brennstoffe.

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