Atomkraft: »Das Ungeheuer ist in uns«
Pennsylvanias »sanfte Höhen«, darin das »verschlafene Middletown« am »behäbigen Susquehanna« -- wer hätte sich im April 79 nicht beglückwünscht, von dieser jählings in die Schlagzeilen geratenen Idylle so erfreulich weit entfernt zu wohnen? Und mancher mochte gar als gerecht empfinden, daß der berüchtigte Preis für den Fortschritt erstmals im fortschrittswütigsten Land abkassiert würde.
Fern hinten in den USA provozierten die klotzigen Kühltürme des Kernkraftwerks »Three Mile Island«, für viele Anwohner bislang Inbegriff zukunftssicherer Prosperität, nun die im Industriezeitalter selten gestellte Frage: »Fängt so der Jüngste Tag an?« Die rationalere »New York Times« vermerkte das drohende Schmelzen des Reaktorkerns als »Schmelzen der Glaubwürdigkeit«. Und in Deutschlands »Bild am Sonntag« menetekelte es:« Schock für die Welt -- Millionen am Rand der Atomkatastrophe.«
Irgendwann einmal, hatten rüstungskritische Zweifler vergangener Jahre gemeint, werde ein hysterischer oder auch nur ein irrender Mensch per Knopfdruck die startbereiten Atomraketen auch fliegen lassen, doch die Dinger blieben in den Silos. Die Systeme waren eben sicher -- glaubte man.
Irgendwann einmal, meinten erdgebundene Spießer' werde ein kühner Astronaut lebenslang im Weltraum kreisen, weil seine Kapsel den Rückkehrbefehl verweigere; doch sie kamen alle wieder runter. Die Systeme waren eben sicher -- glaubte man.
Und irgendwann einmal, prophezeiten die bösen Kernkraftgegner landauf, landab, werde eintreten, was die Techniker phantasievoll zum »Gau« verkürzten, dem »größten anzunehmenden Unfall« in einem Atomreaktor. Zwar waren hier die Systeme erkennbar nicht gar so sicher -- zahlreiche Ausfälle bewiesen es -, doch der Gau sollte nur alle Millionen Reaktorjahre auftreten.
Daß er sich entgegen dieser dubiosen »Wahrscheinlichkeit« auch schon früher hervorwagen könnte, war angesichts der Atom-Plantagen -- weltweit derzeit 460 in Betrieb oder im Bau -- durchaus anzunehmen, wurde aber auch angesprochen: Im Mai 1977 überraschte Professor Alvin Weinberg, Leiter eines US-Instituts, das sich der Erforschung einer »erträglichen nuklearen Zukunft« widmet, seine zum 20. Jubelfest der Internationalen Atombehörde versammelten Kern-Kollegen mit der Prognose, im Jahr 2070 könne es bei anzunehmenden 24 000 Reaktoren einen Gau »alle vier Jahre« geben.
Doch halb so schlimm, denn: »Das Publikum wird radioaktive Strahlung als Teil der üblichen Lebensrisiken akzeptieren.«
Da war es also heraus: der Atomtod zurückgestuft auf das Lebensrisiko im Straßenverkehr oder am Skihang. Doch als dann im Reaktor von Harrisburg jenes hochgiftige Strontium-90 auftrat, das seine Strahlung erst in 27 Jahren um die Hälfte vermindert, als der Reaktorkern zu schmelzen und das Wunderwerk ein künftighin unverwendbares eine Milliarde Dollar teures »Atommausoleum« zu werden drohte, da zeigte sich, daß das Publikum denn doch noch nicht bereit war, derlei Lebensrisiken fröhlich zu bejahen. Warum nicht?
Die profanen, wenn auch noch so elementaren Existenzgefahren -- Feuer, Flut, Krankheit, Krieg -- lassen den Bedrohten zumindest die Illusion, sie hätten dank Flucht, Früherkennung oder Gegenwehr irgendeine Chance, noch davonzukommen. Radioaktive Strahlung, nicht wahrnehmbar, vernichtet diese Illusion, läßt die beinahe transzendente Beklemmung totaler Unentrinnbarkeit aufkeimen.
Deshalb hinterließen Hiroschima und Nagasaki tiefere Einnerungsspuren als die Feuerstürme von Hamburg und Dresden, obschon in diesen mehr Menschen umkamen. Deshalb auch würden wohl alle westdeutschen Kernkraftwerke auf einen Schlag geschlossen, wenn durch den Gau eines einzigen einmal jene 15 000 Menschen sterben würden, die sich alle Jahre auf deutschen Straßen zu Tode bringen.
Wohl, die Erschließung neuer Energiequellen forderte stets Tribute, mit diesem Balsam schmiert rn die Apologeten der Technik ihr Gewissen. Dabei wagte niemand zu behaupten, daß es den Menschen freigestanden habe, per politischen Willensakt auf die Annahme des Feuers zu verzichten oder nach Kohle zu graben.
Und weiter: Bei der Erschließung früherer Energiequellen erlaubte der technische Wissensstand keine präzise Vorausberechnung der Folgen etwaiger Katastrophen. Sie sind aber bei Atomunfällen in unzähligen Untersuchungen festgehalten und fürs Gemüt in Filmen ausgesponnen.
Man weiß also seit langem, was passieren kann, und für die Unwissenden wiederholte »Bild« die Skala der Strahlungsschäden: »Hautrötungen und Blasen .. Geschwüre, die Haare fallen aus, Jahre danach können Blutkrebs, Knochentumoren, Schilddrüsengeschwüre, Hautschäden und Hautkrebs auftreten.« Unvermeidliche Opfer des Fortschritts?
Der französische Schriftsteller Jacques Madaule räumte in » Le Monde« mit diesem Wahn auf: »ln Wahrheit war der aztekische Priester, der mit seinem Steinmesser das schlagende Herz aus einer menschlichen Brust riß und es der Sonne entgegenstreckte, nicht weniger menschlich als wir, wenn wir leichtfertig vom Lösegeld des Fortschritts sprechen.«
Und: »Es ist befremdlich, daß der Mensch seiner Hände Werke mehr achtet als sein eigenes Leben und immer bereit ist, seine Kinder lebend dem Moloch in den Rachen zu werfen. Das Ungeheuer ist in uns.«
Daß solche Grundsatzkritik am menschlichen Versagen gegenüber den paradiesischen Verheißungen des technischen Systems die Zukunftsgläubigen aller Sparten -- Atomwissenschaftler, Energiepolitiker, Gewerkschafter -- nach Harrisburg zu grundsätzlicher Neubesinnung bringt, ist zumindest am Unfallort USA kaum wahrscheinlich. Energieminister Schlesinger gelobte denn auch schon, Atomstrom sei unverzichtbar, und selbst die liberale »Washington Post« mühte sich, die Proportionen zurechtzurücken: »Ein Kohlekraftwerk stellt in der Substanz eine größere Bedrohung für die öffentliche Gesundheit dar als ein Uranreaktor gleicher Größe.«
Glückliches Amerika! Wenn die Indianer angriffen oder das Land knapp wurde, zogen die Siedler weiter gen Westen. Und wenn ein Atomkraftwerk versagte, wie vor Jahren das damals größte auf Erden, »Browns Ferry« in Alabama, trieb der alte Pioniergeist die Elektriker hinein mit dem Befehl »Lecks abdichten im Verteilerraum«.
Niemand wunderte sich, als die Reparateure die Schäden in dem glitzernden Miraculum dann nur mit Primitivmitteln lokalisieren konnten: Das Flackern von Wachskerzen wies ihnen den Weg zu den Lecks.
Während Amerika sich vor den Schockwellen von Harrisburg in neue Sicherheitsvorschriften und halbherziges Energiesparen flüchtet, begann in Europa der ungebremste Wachstums-Optimismus nun doch bei vielen zu wanken, die zuvor nicht gezweifelt hatten, erschienen die Protestler von Brunsbüttel und Gorleben nicht mehr ganz so ausschließlich als blindwütige Anarchisten.
Die Kernkraft-Politik solle grundsätzlich überdacht werden' sagte sogar IG-Metall-Chef Eugen Loderer, und Innenminister Gerhart Baum bekräftigte: ja, das solle sie -- »kritisch, umfassend und konsequent«. Endlich.