ATOMSCHWADEN ÜBER DEUTSCHLAND
SPIEGEL: Herr Professor, radioaktive Schwaden umrunden den Erdball. Die Wolken, die mit den Spaltprodukten der sowjetischen Superbomben befrachtet sind, erreichen in diesen Tagen die Bundesrepublik. Was steht uns bevor?
HOLTHUSEN: Die Radioaktivität in der Luft und in den Niederschlägen hat sich in der Bundesrepublik bereits erheblich erhöht. Und es ist wahrscheinlich, daß diese Radioaktivität noch weiter ansteigen wird.
SPIEGEL: Der Zeitungsleser, der sich in den letzten Wochen in der Bundesrepublik zu informieren suchte, mußte mitunter den Eindruck haben, daß eine Art weltweites Hiroshima droht. Typische Schlagzeilen lauteten: Warnung vor radioaktivem Aschenregen - »Schwere radioaktive Niederschläge im konmmenden Frühjahr«. - Die Luftveseuchung kennt keine Grenzen« - Der Tod regnet aus den Wolken«. Manche Zeitungen berechneten die Schäden, die durch diese Atomversuche entstehen könnten, bis ins Jahr 4962 - »bis ins hundertste Glied«, wie es hieß.
HOLTHUSEN: An allen diesen Äußerungen, wurde ich sagen, ist ein Fünkchen Wahrheit. Aber um sie im Rahmen des Ganzen zu beurteilen und vor allen Dingen die Gefährdung, die daraus für den einzelnen erwächst, sachlich beurteilen zu können, sollte man meiner Ansicht nach die Dinge in den richtigen Proportionen sehen.
SPIEGEL: Was sind die richtigen Proportionen?
HOLTHUSEN: Wir haben doch schon in den Jahren 1957 und 58 eine Reihe von Atomexplosionen in verschiedenen Teilen der Welt gehabt, und der radioaktive Staub, der bei diesen Explosionen entstanden ist, ist auch zu uns in die Bundesrepublik gekommen. Nach allem, was man weiß, werden die Bombentests, die augenblicklich von den Russen gemacht werden, sich doch in der Größenordnung der damaligen Testexplosionen halten.
SPIEGEL: Aber allein die letzte sowjetische Bombe, die 50-Megatonnen -Bombe, die möglicherweise noch größer gewesen ist, soll soviel radioaktive Substanzen - Spaltprodukte nennt man das ja wohl - erzeugt haben wie ein Drittel der seit Kriegsende bis 1958 ausgeführten Tests insgesamt.
HOLTHUSEN: So habe ich auch gerechnet. Aber die kleineren Bomben der jetzigen sowjetischen Testserie erzeugten sehr viel weniger Spaltprodukte.
SPIEGEL: Der Leiter der Forschungsstelle für Radioaktivität des US-Wetteramtes, Robert List, hat erklärt, daß rund 98 Prozent der radioaktiven Spaltprodukte der sowjetischen Superbombe in die Stratosphäre gelangt seien. Sie würden im kommenden Frühjahr mit den Niederschlägen, vor allem in regenreichen Gebieten der Welt - also auch besonders hier in Deutschland - herabkommen. Was heißt das nun: 98 Prozent der radioaktiven Spaltprodukte? Wieviel Strahlungsstoff erzeugt so eine Bombe!
HOLTHUSEN: Nach den Berechnungen der amerikanischen Atomkommission werden bei 100 Megatonnen - nehmen wir an, daß das die Größenordnung der russischen Superbombentests ist - etwa zehn Millionen Curie allein der radioaktiven Substanz »Strontium 90« freigesetzt**.
SPIEGEL: Das ist natürlich ...
HOLTHUSEN: Also zehn Millionen Curie ist natürlich eine ganz ungeheure Menge - wenn Sie zum Beispiel daran denken, daß bis vor kurzer Zeit für den Gebrauch in der Medizin ein Curie Radium, was die Radioaktivität betrifft, bereits eine sehr erhebliche Menge darstellte, die für ihre Verwendung und Aufbewahrung erhebliche Schutzeinrichtungen erforderlich machte. Auch heute, wo wir nun die künstlichen radioaktiven Substanzen in beliebiger Menge zur Verfügung haben - zum Beispiel in den großen Kobaltkanonen, die in den Krankenhäusern für die Behandlung von Krebsgeschwülsten verwendet werden -, kommen Mengen von höchstens 3000 bis allerhöchstens 7000 Curie in Betracht.
SPIEGEL: Nach Berechnungen von Wissenschaftlern schwebten schon 1957, als erst wenige Atombomben explodiert waren, schätzungsweise 2,6 Millionen Curie »Strontium 90« in der Atmosphäre. Es hieß aber auch, daß schon 1,7 Millionen Curie »Strontium 90« bei entsprechender Verteilung genügen würden, die Menschheit auszurotten. Schwebt jetzt nicht eine viel größere Menge »Strontium 90« in der Atmosphäre?
HOLTHUSEN: Glücklicherweise kommt das Radiostrontium nur nach und nach auf die Erdoberfläche und gelangt zum großen Teil ins Meer, wo es sich sehr rasch verteilt. Zudem ist die Erde außerordentlich groß. Die Konzentration der radioaktiven Stoffe nimmt ja auch mit der Entfernung vom Explosionsort ab.
SPIEGEL: Wie stark ist denn nun überhaupt die Radioaktivität in der Luft oder im Trinkwasser, die durch die strahlenden Staubwolken der Bombentests verursacht wurde?
HOLTHUSEN: Sehr gering. Die durch Bombentests verursachte Radioaktivität in einem Kubikmeter Luft oder in einem Liter Trinkwasser zum Beispiel ist so gering, daß sie gar nicht in Curie, auch nicht in tausendstel Curie, sondern in millionstel Curie gemessen werden muß. Sie ist überhaupt unserer Messung nur dadurch zugänglich, daß es außerordentlich empfindliche Meßinstrumente gibt.
SPIEGEL: Auf der anderen Seite heißt es, daß selbst ungemein geringe Mengen radioaktiver Substanzen äußerst schädliche Wirkungen auslösen können.
HOLTHUSEN: Sicher. Es ist gar keine Frage, daß unter Umständen schon sehr geringe Mengen große Wirkungen hervorrufen können.
SPIEGEL: Wie kann diese schädliche Wirkung hervorgerufen werden?
HOLTHUSEN: Bevor die radioaktiven Stoffe vom Menschen aufgenommen werden, befinden sie sich in der Luft oder sind mit Regen und Schnee auf den Erdboden niedergeschlagen. Daraus rührt eine Strahlung her, die von außen auf den Menschen einwirkt. Das ist die eine Quelle, aus der der Körper Strahlung empfängt. Wesentlicher ist die Strahlung, die von den radioaktiven Stoffen herrührt, die mit der Atemluft, mit dem Trinkwasser und vor allem mit den Nahrungsmitteln in den Körper gelangt sind.
SPIEGEL: Stimmt es, daß die jüngsten sowjetischen Atomtests den Pegel der radioaktiven Substanzen in der Milch stark erhöht haben?
HOLTHUSEN: Ja. Das kommt daher, daß sich unter den radioaktiven Substanzen, die in die Milch gelangen, auch einige sehr kurzlebige befinden, zum Beispiel radioaktives Jod.
SPIEGEL: Was heißt kurzlebig, bitte?
HOLTHUSEN: Kurzlebig? Das heißt: Die radioaktive Substanz verliert ihre Radioaktivität sehr schnell. Wir messen die Lang- oder Kurzlebigkeit mit der Angabe der Zeit, in der von einer vorhandenen Menge die Hälfte ihre Radioaktivität verloren hat, also keine Strahlung mehr aussendet. Man nennt das Halbwertszeit. Die Halbwertszeit von radioaktivem Jod beträgt acht Tage.
SPIEGEL: Also in acht Tagen zerstrahlt die Hälfte einer x-beliebigen Menge radioaktiven Jods?
HOLTHUSEN: Ja. Aber beim »Strontium 90« zum Beispiel - dem gefährlichsten Bestandteil der Atombombenwolken - ist diese Zeit sehr viel länger: Sie beträgt 28 Jahre. Beim »Caesium 137«, das auch in den Schwaden enthalten ist, beträgt die Halbwertszeit 30 Jahre. Und wenn alle diese radioaktiven Elemente längst umgewandelt sind und keine Strahlung mehr aussenden, dann bleibt noch der radioaktive Kohlenstoff übrig, der trotz seiner im Vergleich zu den anderen radioaktiven Elementen geringen Aktivität nicht ganz vernachlässigt werden darf, denn seine Halbwertszeit beträgt über 5000 Jahre.
SPIEGEL: Alle diese Stoffe sind in den radioaktiven Schwaden einer Atombombe enthalten?
HOLTHUSEN: Ja, und sogar natürlich noch viel mehr. Das sind dann aber Stoffe, die zu den kurzlebigen radioaktiven Elementen gehören, im Körper nicht lange verweilen und nicht angereichert werden. Sie kommen deswegen als Quelle der Gefährdung nicht in Betracht.
SPIEGEL: Die langlebigen Substanzen gelangen also in den Körper und bleiben dort. Welchen Schaden können sie anrichten?
HOLTHUSEN: Durch Strahlen können Sie jede lebendige Zelle vernichten, aber es kommt natürlich auf die Höhe der Dosis an.
SPIEGEL: Welche Dosis ist tödlich?
HOLTHUSEN: Wenn der gesamte Körper 700 Röntgen auf einmal empfängt, stirbt der Mensch fast immer*. Aber die Dosen, die durch die Atombombenwolken in den menschlichen Körper gelangen, sind sehr klein. Sie liegen bei einigen Milliröntgen pro Jahr. Da kommen nur Wirkungen in Betracht, die im unteren Grenzbereich überhaupt möglicher Strahlenwirkungen liegen.
SPIEGEL: Es gibt amerikanische Berichte, die unterstellen, daß selbst kleine Strahlungsdosen Leukämie oder Krebs auslösen können, wenn auch nach Jahrzehnten**. Nehmen wir den Lungenkrebs; ist etwa damit zu rechnen, daß durch die eingeatmeten radioaktiven Partikel Lungenkrebs ausgelöst werden könnte?
HOLTHUSEN: Ja, wissen Sie, da gibt es die sogenannten heißen Partikel, das sind verhältnismäßig sehr kleine Teilchen mit Durchmessern von weniger als einem tausendstel Millimeter, aber mit einer vergleichsweise sehr hohen Aktivität. Sie können mit der Atemluft aufgenommen werden und können, wenn sie nicht, wie es mit dem übrigen eingeatmeten Staub in der Regel geschieht, schließlich in den Magen gelangen, von den Lymphbahnen aufgenommen und in den Lymphknoten an der Lungenwurzel abgelagert werden. Man hat berechnet - aber diese Berechnungen sind natürlich nur Näherungswerte -, daß durch solche Partikelchen unter gegebenen Umständen etwa tausend Zellen zugrunde gehen können.
SPIEGEL: Ist das gefährlich?
HOLTHUSEN: Wenn man sich überlegt, daß täglich im menschlichen Körper millionenmal so viele Zellen zugrunde gehen und neu gebildet werden, so kann das kaum eine Gefahr bedeuten.
SPIEGEL: Aber liegt nicht in der Umgebung der zugrunde gehenden Zellen ein Bereich von Zellen, die - ohne abzusterben - eine verhältnismäßig hohe Dosis bekommen? Könnte das nicht die Möglichkeit einer Krebsbildung in sich schließen?
HOLTHUSEN: Bei der Seltenheit, mit der diese Voraussetzungen überhaupt gegeben sind, kann diese Gefahr nicht groß sein. Sowohl die Engländer wie auch wir in unserem Sonderausschuß Radioaktivität in der Bundesrepublik beurteilen diese Dinge verhältnismäßig gleichmütig. Immerhin liegt hier noch ein gewisser Unsicherheitsfaktor.
SPIEGEL: Wie hoch ist die Dosis überhaupt, der der Mensch infolge der Atombombenversuche ausgesetzt ist?
HOLTHUSEN: Da gibt es eine sehr interessante englische Ziffer. Die Engländer haben einmal berechnet, wie groß die Dosis sein würde oder gewesen wäre für den Fall, daß die Testexplosionen, die Ende 1958 gestoppt wurden, in demselben Umfange fortgesetzt worden wären. Dann hätte sich nämlich allmählich ein Gleichgewichtszustand ausgebildet zwischen der laufend hinzukommenden Aktivität aus den fortgesetzten Explosionen und dem Abklingen der Aktivität. Und unter dieser Voraussetzung haben die Engländer berechnet, daß die Strahlendosis im Knochenmark dann jährlich im Mittel etwa 21 Milliröntgen betragen würde und die jährliche Dosis in den Keimdrüsen 14 Milliröntgen.
SPIEGEL: Ist das wenig oder viel?
HOLTHUSEN: Herr Professor Hug in München hat folgendes berechnet: Für einen Menschen, der einer Strahlenintensität von jährlich 25 Milliröntgen dauernd ausgesetzt ist, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, an Leukämie zu erkranken, um ungefähr ein halbes Prozent.
SPIEGEL: Das ist ein sehr kleines Risiko - jedenfalls, wenn man an die alarmierenden Schlagzeilen der Zeitungen denkt. Das ist ja nur noch statistisch erfaßbar.
HOLTHUSEN: Ja. Besonders müssen Sie berücksichtigen, daß die Leukämie eine relativ seltene Krankheit ist, bei der nach den heutigen Statistiken jährlich im Mittel 50 Erkrankungen auf eine Million Einwohner kommen.
SPIEGEL: Man kann also von einer erhöhten Gefährdung durch die Bombentests, die für den einzelnen meßbar wäre, bei einer so seltenen Erkrankung überhaupt nicht sprechen?
HOLTHUSEN: Für den einzelnen überhaupt nicht. Auf der anderen Seite kann man natürlich bei einer Erdbevölkerung von fast drei Milliarden eine große Zahl von solchen Leukämiefällen herausrechnen, aber, wie gesagt, immer unter der Voraussetzung ...
SPIEGEL: ... daß die Bombenversuche pausenlos weiter stattfinden.
HOLTHUSEN: Einmal das. Zweitens kommt man zu solch hohen Zahlen künftiger Leukämiefälle nur, wenn man von einer Voraussetzung ausgeht, die keineswegs bewiesen ist: daß man nämlich von den Erfahrungen, die man nach der Einwirkung von großen und in kurzer Zeitspanne verabfolgten Strahlendosen gemacht hat, auf die Wirkung von Dosen schließen kann, die außerordentlich klein sind und über eine sehr lange Zeitspanne einwirken. Man muß sich sogar fragen, ob sehr kleine Dosen, selbst wenn sie lange Zeit ständig einwirken, überhaupt Leukämie auslösen können.
SPIEGEL: Herr Professor, Sie sprachen vorhin von der Verwendung radioaktiver Substanzen in der Medizin. Wie stark ist eigentlich die Strahlenbelastung des Bundesbürgers im Durchschnitt?
HOLTHUSEN: Es ist ganz gut, daß Sie einmal auf den Vergleich mit der medizinischen Strahlenanwendung zielen. Wir haben ja gerade in Hamburg kürzlich eine statistische Erhebung abgeschlossen. Solche Erhebungen sind auch in anderen Ländern vorgenommen worden. Dabei hat sich ziemlich übereinstimmend ergeben, daß aus der medizinischen Strahlenanwendung der einzelne in der Bevölkerung hochentwickelter Staaten, die ja auch viel geröntgt wird, im Durchschnitt ungefähr 20 Milliröntgen im Jahr erhält.
SPIEGEL: 20 Milliröntgen, hm. Wie groß ist denn nun zum Vergleich die Strahlenbelastung aus den Atombombenschwaden im Durchschnitt?
HOLTHUSEN: Da ergeben die in der Bundesrepublik vorgenommenen Messungen, die von dem Sonderausschuß Radioaktivität gesammelt wurden, daß ein Jahr nach dem Stopp der Atombomben, also im Herbst 1959, die bis dahin von der Bevölkerung aufgenommene Radioaktivität die Keimdrüsen einer Dosis von etwa fünf Milliröntgen pro Person und Jahr aussetzte.
SPIEGEL: Nun gibt es ja auch eine sogenannte natürliche radioaktive Strahlung aus dem Gestein und aus dem Weltall, der wir alle ausgesetzt sind. Wie hoch ist denn die?
HOLTHUSEN: Die Dosis, die das menschliche Körpergewebe durch die natürliche Strahlung empfängt, beträgt in der Bundesrepublik im Durchschnitt etwa 100 Milliröntgen pro Jahr. Die Strahlung ist vom Untergrund und von der Umgebung abhängig und nimmt mit der Höhe zu. Die Menschen also, die etwa in Arosa in der Schweiz wohnen, erhalten aus der Höhenstrahlung schon 17 Milliröntgen mehr als wir, die wir in der Ebene leben.
SPIEGEL: Das heißt also, die Strahlung aus den Schwaden der Atombomben macht nur einen kleinen Bruchteil dessen aus, was Natur und Medizin uns verabreichen. Wenn man die Zahlen aneinanderreiht, wird das ganz deutlich: fünf Milliröntgen durch Atombomben, 20 durch die Medizin und 100 durch die Natur. Wie hoch ist überhaupt die Dosis, der nach Auffassung der Strahlenforscher ein Mensch im Jahr ausgesetzt sein darf?
HOLTHUSEN: Nach den Empfehlungen der Internationalen Kommission für Strahlenschutz und den Grundnormen der Europäischen Atomgemeinschaft sind für die berufsmäßig mit Strahlen Beschäftigten, also vorzugsweise für Personen, die in ärztlichen Instituten, Laboratorien und in Reaktor -Stationen arbeiten, im Durchschnitt 5000 Milliröntgen jährlich zugelassen.
SPIEGEL: Das gilt nur für die Leute, die beruflich mit Strahlen zu tun haben, also für einen relativ kleinen Bevölkerungskreis. Welcher Dosis darf sich der Normalbürger aussetzen?
HOLTHUSEN: Diese Frage ist in vielen Gremien, darunter in erster Linie der Internationalen Strahlenschutzkommission, eingehend durchdiskutiert worden. Nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnis nimmt man an, daß etwa ein Dreißigstel der Dosen, die für Angehörige von Strahlenberufen als zulässig gelten, für den Durchschnitt der Gesamtbevölkerung ein annehmbares Risiko ist. Man hat also die zulässige Strahlendosis, der die Bevölkerung ausgesetzt werden darf, auf fünf Röntgen in 30 Jahren oder etwa 150 Milliröntgen pro Jahr festgelegt. Dabei sind allerdings die natürliche und die medizinische Strahlung außer acht gelassen. Die bleiben bei dieser Festsetzung unberücksichtigt.
SPIEGEL: Und was ist, wenn diese Dosis von 150 Milliröntgen überschritten wird?
HOLTHUSEN: Wie ich Ihnen sagte, hat man bei der »Bevölkerungsdosis« bevölkerungsstatistische Gesichtspunkte im Auge gehabt. Man wollte, daß die möglicherweise auftretenden Spätfolgen auf alle Fälle sehr gering bleiben. Die zulässige Bevölkerungsdosis stellt daher für den einzelnen keinerlei Gefahrengrenze dar. Sie kann sehr erheblich überschritten werden, ohne daß für den einzelnen eine gesundheitliche Gefährdung zu befürchten wäre. Sonst könnte man doch auch die ungleich höheren Dosen für Berufstätige niemals verantworten.
SPIEGEL: Gilt das auch für die genetische Gefährdung, also für Schädigungen des Erbgutes?
HOLTHUSEN: Die Vorstellungen, die sich die Wissenschaftler vom Ablauf der Erbvorgänge machen, sprechen entscheidend für die Annahme, daß auch beliebig kleine Dosen nicht völlig wirkungslos sind. Aber es ist noch nicht möglich, einigermaßen zuverlässige Beziehungen zwischen Strahlendosis und Ausmaß der Schädigung herzustellen. Das wäre beim Menschen erst nach vielen Generationen möglich, so daß man einstweilen auf Tierversuche angewiesen ist, die noch im Fluß sind und sich auch nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragen lassen.
SPIEGEL: Die Proportionen, die sich vor dem Zeitungsleser auftun, sind aber recht verwirrend. Er konnte in den letzten Wochen etwa erfahren, daß die Radioaktivität in Kanada, wie es einmal hieß, »1000 Prozent über normal« gemessen worden sei, in Japan »800 mal stärker als normal«; aus Bayern wurde gemeldet, daß die Radioaktivität des Regenwassers um das 220fache gestiegen sei, und von Schweden heißt es, daß die Radioaktivität der Luft das Doppelte dessen betrage, was ein Mensch über eine längere Zeitspanne hinweg ertragen könne.
HOLTHUSEN: Zunächst muß man ja fragen, von wo da ausgegangen wird. Wenn irgendwo die Radioaktivität außerordentlich klein ist, dann ist das 200fache auch noch eine sehr kleine Menge. Aber konkret ist ja die schwedische Angabe, daß da die Radioaktivität der Luft das Doppelte der für Daueraufnahme - sehen Sie, da ist das sehr richtig gesagt - zugelassenen Aktivität einmal bei einer Messung betragen habe. Daß die höchstzugelassene Aktivität für Daueraufnahme in der gegenwärtigen Situation örtlich - Nordschweden liegt ja dem Zentrum der gegenwärtigen Testexplosionen verhältnismäßig nahe - sogar erheblich überschritten wird, damit ist zu rechnen. Das bedeutet aber so lange nicht viel, als es sich nicht um Dauereinwirkungen handelt. Es wird ja nicht 70 Jahre lang so sein, während der gesamten Lebensspanne eines Menschen. Wir wollen es wenigstens nicht hoffen.
SPIEGEL: Sie meinen, daß diese Radioaktivitäten rasch abklingen?
HOLTHUSEN: Ja, natürlich. Denn gegenwärtig überwiegen die kurzlebigen radioaktiven Stoffe. Und das ist ein Grund mehr anzunehmen, daß - wenn Überschreitungen vorkommen - sie nur vorübergehend sind und die mittlere Jahresdosis nicht übersteigen.
SPIEGEL: Also könnte zum Beispiel passieren, daß - wie mitunter gemeldet wurde - das Wasser in manchen schleswig-holsteinischen Zisternen die zulässige Dosis überschreitet, ohne daß das sehr gefährlich ist?
HOLTHUSEN: Gerade wenn Sie von den Zisternen sprechen: Zunächst beziehen sich ja die laufend veröffentlichten Radioaktivitäten auf das Wasser in den Niederschlägen. Aber das Wasser, wie es in Niederschlägen ist, dient ja normalerweise nicht als Trinkwasser. Für die Gesamtbevölkerung ist das Trinkwasser einstweilen so gut wie nicht radioaktiv.
SPIEGEL: Das kann sich ändern.
HOLTHUSEN: Das wird sich voraussichtlich nicht so leicht ändern, soweit das Trinkwasser aus Grundwasser besteht. Da, wo dem Trinkwasser aufbereitetes Flußwasser beigemengt ist oder es nur aus Flußwasser besteht, kann mit der Zeit Radioaktivität auftreten, die aber stets erheblich unter der Radioaktivität der Niederschläge bleiben wird. Aber Sie haben recht: In den Zisternen ist es anders. Wenn die Zisterne leer ist, und da läuft gerade einmal dieses radioaktive Regenwasser hinein, na gut, dann erhält sie eine Aktivität ...
SPIEGEL: ... die die höchstzulässigen Werte überschreitet.
HOLTHUSEN: Ja, aber ob sie sie im Jahresdurchschnitt überschreitet, das ist noch eine zweite Frage. Außerdem: Wenn Sie ein Jahr lang ein solches Wasser mit erhöhter Radioaktivität trinken - ja, die höchstzulässigen Konzentrationen sind angegeben für dauernde Einwirkung, Einwirkung während des ganzen Lebens. Ein Jahr lang können Sie vielleicht sogar auch den Jahresdurchschnitt überschreiten.
SPIEGEL: Dürfen wir unser Gespräch so resümieren, daß eine unmittelbare Gefahr für die Bevölkerung in der Bundesrepublik zur Zeit nicht besteht?
HOLTHUSEN: Ich möchte so resümieren: Für den einzelnen kann man, solange sich die jetzt wiederaufgenommenen Versuchsexplosionen in der Größenordnung der Testexplosionen der Jahre 1957 und 1958 halten, von einer Gefährdung überhaupt nicht sprechen. Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens körperlicher Spätschäden - etwa von Leukämie - ist für den einzelnen so gering, daß sie für ihn kein greifbares Risiko bedeutet. Ganz anders steht es mit der Frage nach der Erhöhung der absoluten Zahl von körperlichen Spätschäden und Erbschäden. Obwohl sie für den einzelnen mit keinem greifbaren Risiko verbunden sind, könnte ihre absolute Zahl in großen Bevölkerungen doch beträchtlich sein.
SPIEGEL: Herr Professor, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
** Curie ist die Maßeinheit für die Radioaktivität eines Stoffes. Ein Curie entspricht der Radioaktivität von einem Gramm Radium. Ein Gramm »Strontium 90« hat eine Radioaktivität von 146 Curie.
* Röntgen ist die Maßeinheit der Bestrahlungsdosis. Milliröntgen - ein tausendstel Röntgen.
** Leukämie (Blutkrebs): Krankhafte Vermehrung der weißen Blutkörperchen, die häufig zum Tode führt.
* Mit Spiegel-Redakteuren Manfred W. Hentschel (l.) und Dr. Erwin Lausch.
* Im Lebensmitteluntersuchungsamt von Gelsenkirchen.