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FRANKREICH Atomziel Württemberg?

Frankreichs neue taktische Atomrakete Pluton bedroht in erster Linie die Schweiz und Westdeutschland.
aus DER SPIEGEL 30/1975

»Tous azimuts« -- rundum -- müsse Frankreich verteidigt werden, so hatte einst Charles de Gaulle die nukleare Abschreckungsstrategie definiert, um den einzigen potentiellen Gegner nicht nennen zu müssen: die Sowjet-Union. Heute ist klar, wen Frankreichs atomarer Bannstrahl als erste treffen wird: die befreundeten westlichen Nachbarn Schweiz und Bundesrepublik.

Solange französische Atomsprengköpfe durch Bomben oder Raketen

zumindest theoretisch -- in 3000 Kilometer entfernte Ziele getragen werden konnten, brauchten sich Schweizer und Deutsche nicht sonderlich vor gallischen Atomblitzen zu fürchten. Seit aber Frankreichs zwei neugebildete, mit taktischen Atomraketen ausgerüstete Regimenter, vergangene Woche in Paris vorgeführt, in ihr Einsatzgebiet zwischen den Städten Belfort und Montbéliard einrückten, sind die halbe Schweiz und das Bundesland Baden-Württemberg direkt bedroht. Denn der atomare Raketenwerfer »Pluton« bringt es maximal auf 120 Kilometer Reichweite.

Für vier Milliarden Franc (2,3 Milliarden Mark) haben die Franzosen nach ihrer großen Force de frappe eine kleine entwickelt, die nach ihrer Fertigstellung 1978 aus insgesamt 40 Pluton-Raketen bestehen wird, montiert auf AMX-Panzerfahrgestellen und bestückt mit Sprengköpfen von 10 und 25 Kilotonnen TNT (entsprechend etwa der Hiroshima-Bombe). Hinzu kommen noch mit taktischen Atombomben ausgerüstete Luftgeschwader.

Die ersten beiden Artillerie-Regimenter (mit insgesamt zwölf Plutonraketen) bezogen im Militärcamp Fougerais, an der Vorzugsroute deutscher Spanien-Touristen, Quartier. Zumindest ein Teil der restlichen vier Atom-Regimenter wird im Elsaß stationiert und bedroht damit weitere Teile Baden-Württembergs, aber auch das befreundete Großherzogtum Luxemburg.

»Spektakulär und nutzlos zugleich« nannte das Pariser Wochenblatt »Nouvel Observateur« das neue Waffensystem. Spektakulär ist die Pluton in der Tat: Die zweieinhalb Tonnen schwere Feststoffrakete kann bei jedem Wetter abgefeuert werden, erreicht ihr Ziel mit einer Genauigkeit von etwa 300 Metern und zerstört ein Gebiet von rund zehn Quadratkilometern.

Spektakulär sind auch die Schutzmaßnahmen. Nur wenn zwei direkt der Regierung unterstellte Gendarmen mit ihrem Schlüssel -- den sie Tag und Nacht am Halsband tragen -- das Sicherheitsschloß öffnen und außerdem der Staatspräsident selbst den Feuercode übermittelt, kann die Rakete abzischen. Selbst danach noch kann Frankreichs Staatschef den Atomknall per Funk verhindern -- bis eine Sekunde vor der Zündung. Sollte der Lenkmechanismus nicht funktionieren und die Pluton mehr als 1500 Meter vom programmierten Ziel abweichen, zerstört sie sich -- konventionell -- selbst.

Gerade diese strengen Sicherheitsvorkehrungen, fürchten französische Militärs, verzögern den Pluton-Einsatz dermaßen, daß er sinnlos wird. Wie die Befehlsübermittlung klappt, zeigten die letzten Manöver: Ein Blitztelegramm beispielsweise war 24 Stunden unterwegs. »Wenn unsere Pluton ankommt«, vermutet ein französischer Offizier, »ist der Feind längst weg.«

Die Militärfachzeitschrift »Forces armées françaises« sieht das Risiko, »daß die Regierung das nukleare Feuer nicht zu dem von den militärisch Verantwortlichen gewünschten Zeitpunkt eröffnet«. Deshalb fordert das Armeeblatt, »die Feuerfreigabe zu liberalisieren« -- das heißt, den Frontgeneralen zu überlassen. Und wie die entscheiden würden, verriet, wenn auch verschlüsselt, der Generalstabschef der Streitkräfte, François Maurin: »In einer Situation, in der das Verhältnis der konventionellen Streitkräfte für uns ungünstig wäre, würde die schnelle Anwendung der taktischen Nuklearstreitmacht eine politische und strategische Situation schaffen, die den Angreifer vor neue Verantwortungen stellt.«

Da Frankreichs konventionelle Streitkräfte jedem östlichen Gegner hoffnungslos unterlegen sind, heißt Maurins Doktrin im Klartext: Frankreich muß mit der atomaren Kriegsphase beginnen. Schon fragte das Pariser Wochenmagazin »L'Express": »Bauen wir da nicht eine neue Maginot-Linie -- illusorischer und gefährlicher als die erste?«

Um die Atomkriegsgefahr im Rücken der Bundesrepublik zu bannen, versuchen Nato-Militärs in informellen Gesprächen mit ihren der militärischen Allianz nicht mehr angehörenden französischen Partnern eine gemeinsame Abwehrstrategie zu entwickeln. Zu festen Vereinbarungen freilich kam es bislang nicht. Der Einsatz französischer Streitkräfte »wird daher immer mit einem gewissen Maß an Improvisation verbunden sein«, stellt der frühere deutsche Generalinspekteur Ulrich de Maizière in einer Studie fest.

Auch bei dem kommenden Gipfeltreffen zwischen Staatschef Giscard d'Estaing und Kanzler Schmidt wird das Pluton-Problem vermutlich nur am Rande besprochen werden. Als Verteidigungsminister Georg Leber seinen Dienstherrn fragte, ob er bei den Verhandlungen anwesend sein müsse oder in Urlaub gehen könne, ließ ihn der Kanzler in die Ferien ziehen.

Zwar wäre den Deutschen eine Stationierung der französischen Nukleartruppen beispielsweise an der deutschtschechischen Grenze lieber als im Hinterland, aber die deutschen Unterhändler haben für diesen Fall stets gefordert, was ihnen auch die Amerikaner für die nicht weniger verheerenden US-Atomgranaten zugestanden haben: eine Beteiligung an der Einsatz- und Zielplanung. Die jedoch hat Frankreich bislang stets abgelehnt, weil das einem kaschierten Wiedereintritt in die Nato gleichkäme.

Vor einer Plazierung französischer Atomwaffen in der Bundesrepublik warnten Rußlands Breschnew, Frankreichs Kommunisten, Gaullisten sowie General Binoche, Ex-Stadtkommandant in Berlin. Laut Binoche besteht eine urdeutsche Feindschaft »gegen alles Französische« -- die habe »seit Jahrzehnten nicht einen Augenblick aufgehört, und es bedarf nicht der Lektüre von »Mein Kampf«, um dessen sicher zu sein«.

Nur auf eine Nato-Regel legten sich die Franzosen einseitig fest: Ortschaften von mehr als 5000 Einwohnern nicht atomar zu beschießen. »Nun müssen wir unsere Freunde vom Warschauer Pakt höflich bitten«, flachste ein französischer Offizier, »auch brav übers freie Feld anzumarschieren.«

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