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Artikel 30 / 66

»Auch Christus hätte zum Gewehr gegriffen«

1. Fortsetzung Aufstieg zur Macht
aus DER SPIEGEL 32/1968

Es war in Caracas. Die Armee hatte überraschend die Universität besetzt, die lange eine bewaffnete Bastion der Rebellen war. Dem Militär fielen drei Lastwagen voll Waffen und Munition, darunter ein schweres Flakgeschütz, in die Hände. Ich befand mich mit einer Anzahl Studenten in der Begleitung Boulgars, des kommunistischen Präsidenten des Studentenverbandes.

Boulgar ging an Krücken, denn er war bei dem Angriff auf die Universität schwer verwundet worden. Die Universitäten in Lateinamerika, völlig autonom wie die Sorbonne im Mittelalter, sind Asyle, die von den Kommunisten und allen anderen revolutionären Bewegungen schnell in Stützpunkte des Aufruhrs verwandelt wurden.

Die Rebellen gingen darin sehr weit: Man entdeckte im Universitätsbereich die Leiche eines Polizeichefs, Guerillas in Uniform benutzten die Universität als Operationsbasis. Studenten hörten Vorlesungen über Partisanen-Kampftaktik und übten sich im Schießen. Alle diese Mißbräuche als Vorwand nehmend, machte die Armee der Freiheit und Unabhängigkeit der Universität ein Ende.

Die Frau Boulgars, eine Tochter des Im Gefängnis sitzenden KP-Führers Machado, diente uns als Dolmetscherin. Machado ist in Venezuela so etwas wie ein unabsetzbarer Papst. Als ich abfuhr, rief mir die Tochter Machados

(c) 1968 Bertelsmann Sachbucherlag Reinhard Mohn.

zu: »Wenn du nach Kuba gehst und Fidel Castro siehst, dann frag ihn doch im Namen meines Vaters, des alten Machado, der ihm so viel geholfen hat und noch 20 Jahre Gefängnis absitzen muß: 'Fidel, was hast du mit dem Che gemacht?'«

Ich bin in Kuba gewesen, aber nur eine Woche dort geblieben. Fidel castro, zugleich Ministerpräsident, Oberbefehlshaber der Armee, Generalsekretär der kommunistischen Partei, Leiter des Instituts für Agrarreform, Führer »maxima« und »Orientador« der Revolution, hatte die meisten seiner Techniker und Kader verloren und glich mehr und mehr einem überlasteten Großgrundbesitzer, der alles selber machen möchte.

So konnte keine Ordnung in ein Land gebracht werden, das von Natur aus schon liederlich ist. Die russischen, tschechischen und polnischen Techniker hatten alle mit diesem Tropen-Kommunismus und -Marxismus wenig im Sinn. Dennoch wagten sie nicht allzu offen, dem Regime seinen Personenkult vorzuwerfen.

Es kam auch vor, daß sie sich von Leuten tolpatschig und unfähig nennen lassen mußten, die amerikanische Tüchtigkeit kennengelernt hatten, und daß man ihnen sogar die schlechte Qualität ihrer Produkte vorwarf. Man liebte sie kaum.

Gleichzeitig bemühte sich Castro, in den Augen eines Kontinents als neuer Bolivar zu erscheinen: Befreier, Wiedervereiniger und Prophet in einer Person, Das war schwer, denn er mußte sehr darauf bedacht sein, den immerwachen nationalen Argwohn nicht zu reizen, dem man selbst in den Parteien begegnete, die an ihre internationale Berufung glauben.

Fidel stellte seine Abenteuer in Kubas Sierra Maestra zu sehr als Vorbild hin und wollte, daß alle anderen Länder eine Revolution machten, die der seinen aufs Haar glich. Und weil er spürte, daß man ihm gegenüber wenig herzliche Gefühle hegte, rückte er das Bild des Che Guevara in den Vordergrund.

Die kubanische Revolution begeisterte mich und stieß mich zugleich ab. Ich war überrascht, weil Kuba das erste sozialistische Land war, das nicht nach Trauer und Langeweile roch. Ich war begeistert von der wunderbaren Sorglosigkeit Fidels und der Seinen, die sich eine Luxusrevolution leisteten auf Kosten der vor Staunen starren Russen.

Man baute zum Beispiel, aber nur für einige erwählte Mitglieder der landwirtschaftlichen Genossenschaften, sehr schöne Fünf-Zimmer-Villen, für die man vom anderen Ende der Welt Stahlträger importierte; man vergaß aber, wenn die Kredite ausgingen, die anderen »Campesinos« in ihren jämmerlichen Behausungen.

Die Kinder vom Lande, die in den verlassenen Villen der ausgewanderten reichen Kubaner lebten, waren die Könige und machten mit Genuß das Mobiliar zuschanden, zerfetzten Sofas und stachen in Bilder. Aber diese Kinder waren glücklich und lernten lesen. Der Kampf gegen das Analphabetentum, die Begeisterung, die Unordnung und die Freude, in der er sich abspielte, und auch seine Ergebnisse, gehen auf Fidel Castros Konto.

Der kleine Kreis, der Castro umgab, tat so, als sei er der Mittelpunkt der Welt, wisse alles besser als die anderen, verstehe vom Marxismus genausoviel wie von Wirtschaft, Landwirtschaft oder Guerillakrieg. Obwohl sie ihn duzten und vertraut mit ihm taten, benahmen sich diese Menschen Castro gegenüber wie Höflinge vor einem Monarchen. Es war ein nachsichtiger, freundlicher Monarch, aber ein sehr argwöhnischer, dessen Stimmungen zudem oft schwankten. Ich konnte mir Che in seiner Gesellschaft schlecht vorstellen.

Man riet mir, wenn ich Fidels Gedanken über die Revolution verstehen wolle, ein Buch zu lesen, das Régis Debray gerade veröffentlicht hatte. Es schien glänzend und einleuchtend zu sein, aber es war auch ziemlich naiv und in einer schwer zu verdaueriden Sprache voller »Marxizismen« geschrieben, jener so barbarischen und prätentiösen Wörter, die man in der revolutionären Esoterik für notwendig hält.

Es sollte das Lehrbuch der Guerilla sein, und ich stellte mir den kleinen Guerillaführer vor, wie er sich bemühte, den Genossen die komplizierten Formulierungen zu erklären. Man sagte mir, Régis Debray sei nur die Feder gewesen: Die Gedanken stammten von Fidel. Es fanden sich aber auch wohl Ideen Ches darin.

Ich habe mich auf die Suche nach Régis Debray gemacht. In der französischen Botschaft hatte man ihn seit drei Monaten nicht gesehen. Er hatte nie sein Gehalt abgeholt, denn er war Gastprofessor an der Universität Havana. Unsere Wege sollten sich ein andermal kreuzen, in Bolivien. Wir suchten beide den gleichen: Che Guevara.

Eines Morgens kehrte ich in einem von Flüchtlingen überfüllten Flugzeug nach Mexiko zurück. Vier Monate später wurde in Havana die berühmte Konferenz der revolutionären Bewegung O.L.A.S. eröffnet. Es ging in diesem »Seminar« der Guerilla nicht alles zum besten.

Die Guerillaführer hatten die Thesen Castros annehmen sollen, aber es kam nur einer von ihnen. Die anderen waren unabkömmlich gewesen oder mit Castros Thesen nicht mehr einverstanden. Diese Thesen sind relativ einfach: Die Revolution kann nur durch Gewalt verwirklicht werden. Das leuchtet ein. Daß aus den Guerillas die Männer und Regierungen hervorgehen werden, die Lateinamerika regieren, ist schon schwerer zu glauben.

Die kommunistische Partei Venezuelas war ausgeschlossen worden, weil sie die revolutionären Prinzipien nicht beachtet hatte; Jugoslawien, weil es die vietnamesische Haltung gegenüber der amerikanischen Aggression nicht bedingungslos unterstützte. Die kommunistischen Parteien Argentiniens und Brasiliens nahmen ebenfalls nicht an der Konferenz teil.

Die Kolumbier waren gekommen, nachdem sie alle Arten von Vorbehalten gemacht und den Venezuelanern ihre Solidarität bekundet hatten. Inzwischen haben sie mit Castro gebrochen. Der Führer der KP Chiles, Luis Korvalan, griff in der »Prawda« Castros These einer Guerilla um jeden Preis an.

Der Castrismus versuchte, sich als eigenständige revolutionäre Bewegung in Lateinamerika auszubreiten, und lehnte es ab, sich zu den russischen oder chinesischen Dogmen zu bekennen. Er wollte sich nur von einem einzigen, unter außergewöhnlichen Bedingungen verwirklichten Experiment, dem Fidel Castros, inspirieren lassen.

Was aber dem Sieg Castros gefolgt war, hatte zu seltsamen Resultaten

* Links: Sowjet-Astronaut Belajajew, der mit Castro die Mütze getauscht hat. Rechts: Sowjet-Kosmonaut Leonow, bei einem Empfang in Havana, 1965.

geführt. Alle Revolutionäre mit einigermaßen gesundem Menschenverstand wußten auch, daß die Sowjet-Union sich den Luxus nicht leisten konnte, in einem anderen Land des amerikanischen Kontinents eine weitere, ebenso kostspielige Revolution zu finanzieren.

Fidel Castro, verstrickt in seine Wünsche, Ambitionen, Widersprüche und Bedürfnisse, sah seine Popularität dahinschwinden. Selbst in den Universitäten des Kontinents habe ich festgestellt, daß die Studenten seine Thesen anzweifelten, wenn sie ihn auch weiterhin als eine Art historische Figur betrachteten. Er war nicht mehr Prophet noch Papst, obwohl er exkommunizierte, was das Zeug hielt.

Gefangener seiner Insel und mehr noch seiner Legende, pittoresk, wirrköpfig, geschwätzig, romantisch, sprunghaft, spürte Fidel, daß trotz seines Talents, seiner Verschlagenheit, seiner Großzügigkeit, seiner starken Wirkung auf die Massen und seiner Erfolge sein großer Traum sich Ihm immer mehr entwand.

Für den amerikanischen Kontinent ist Castro heute nur noch der kubanische Revolutionär, dem die Revolution im eigenen Land geglückt ist. Che überragte ihn schon, als man ihn aus Kuba hinausgraulte.

Es war das Phantom des Che, das die Russen am meisten fürchteten, das Phantom dieses geheimnisumwitterten und unbeugsamen Revolutionärs, der sich weigerte, sich den Realitäten anzupassen, dieses Sohns der anarchistischen iberischen Föderationen, der behauptete, alles Große entstehe aus dem Chaos.

Die Russen haben die Mittel, Castro zu beschwichtigen, indem sie ihm zum Beispiel die Ölzufuhr sperren. Und da Kuba über keine andere Energiequelle verfügt, könnte es keine drei Tage überleben. Kein Öl und also kein elektrischer Strom mehr, und das ganze Leben steht still.

Gegen Che dagegen vermochten sie nichts. Ein Mythos braucht kein Öl, ein Guerilla auch nicht. Die Maschinenpistole genügt ihm. Es war jetzt Che Guevara und nicht mehr Castro, der sich in Übereinstimmung befand mit dem Temperament der lateinischen Völker und dem Typ der Erhebung, den sie wünschten. Er war es, dessen gequältes und ironisches Gesicht dem Bolivars am ähnlichsten wurde.

Nach einer Periode scheinbarer Ruhe und revolutionären Konformismus bekannte sich Fidel Castro plötzlich wieder zu den Thesen des argentinischen Arztes, selbst wenn sie schwer zu verwirklichen waren. Er beschloß, das Geld abzuschaffen, zum Tauschhandel zurückzukehren, die Steuern aufzuheben.

Fidel erklärte: »Was bedeuten die Begriffe Kosten und Preis in einer Wirtschaft wie der unseren? Das Gesetz des Wertes hat Sinn in einer kapitalistischen Gesellschaft, in der die Wirtschaft sich auf den Profit gründet. Es hat aber keinen Sinn in einer sozialistischen Gesellschaft.« Man glaubte, Che zu hören: »Man muß die Rentabilität, den individuellen Profit verdammen, um zum sozialistischen Bewußtsein zu gelangen.«

Aber das große Drama Fidel Castros ist es, als Kubaner geboren zu sein. Er gehört nicht wirklich zum lateinamerikanischen Kontinent. Kuba ist von den Amerikanern, die so nahe sind, nicht nur zum Guten, sondern auch zum Schlechten beeinflußt worden. Castro hat sich vom amerikanischen Einfluß befreit, aber um diese Freiheit zu bewahren, hat er sich unter den Schutz der Russen stellen müssen. Er ist von Ihnen abhängig, so wie einst Batista von den Amerikanern,

Der lateinamerikanische Kontinent kann als Führer im Kampf um die Freiheit nicht einen Mann annehmen, der schon an ein anderes Land gebunden und, was noch mehr in die Waagschale fällt, für diesen Kontinent ein Fremder ist.

Che war Argentinier; er war von jeder Bindung frei. Lange vor Castros Erscheinen auf der politischen Bühne hatte er sich von den Sowjets distanziert. Er wollte nicht die Macht. »Ich pfeife auf Ehren«, sagte er eines Tages. Ihn interessierte allein die Revolution.

Ernesto Guevara de la Serna (Serna ist der Name seiner Mutter) wurde 1928 in der Stadt Rosario in Argentinien geboren. Seine Mutter Celia war eine der schönsten und reichsten Erbinnen in Buenos Aires. Sie besaß riesige Güter und große Viehherden.

Celia de la Serna gehörte nicht zur Welt des Geldes oder der Neureichen, sondern zu der einzigen echten Aristokratie des Landes, die mit den ersten Eroberern aus Spanien gekommen war. Einer ihrer Vorfahren war der letzte spanische Vizekönig von Peru gewesen.

Daher erlaubt sie sich, allen Konventionen zu trotzen, an die »die kleinen Leute und die Parvenüs« so sehr gebunden sind. Sie, die »Rebelda«, die Rebellin, lanciert die Mode des Bubikopfes; sie ist die erste Frau, die ein Bankkonto besitzt; ihre Eltern sind tot, und sie hat Anstandsdamen und Vormünder abgelehnt.

Sie erwählt sogar den Mann, der ihr gefällt, einen gewissen Ernesto Guevara Lynch, der sein Architekturstudium abgebrochen hat, weil es ihm keinen Spaß mehr machte. Auch er gehört jener sorglosen, lebenslustigen Aristokratie der tollen Zwanziger Jahre an, die sich zugrunde richtete, ehe sie es merkte.

Seine Mutter ist Irin, und seine Großeltern haben sich am Goldrausch in Kalifornien beteiligt. Aber sie scheinen nicht viel Gold nach Argentinien mitgebracht zu haben. Guevara Lynch ist ein schöner, lässiger junger Mann mit der nötigen Keckheit und bohemischen Lebensart, um die Rebelda zu bezaubern. Die beiden jungen Leute heiraten.

Ihr Leben ist zunächst ein Fest. Sie geben das Geld mit vollen Händen aus, verkaufen Land, eine Herde, wenn zu Ultimo ihre Kasse leer ist. Ein großer Freundeskreis umgibt sie, leider sind es lauter arme Schlucker. Mit Ihren Streichen legen die beiden es darauf an, in Buenos Aires Skandal zu erregen, aber eines Tages stellen sie fest, daß ihr Vermögen beträchtlich zusam-

* Mit einem Freund auf dem Amazonas.

mengeschmolzen ist, und Ernesto Guevara Lynch beschließt, wie einst seine Vorfahren in Kalifornien, sein Glück zu versuchen.

Er wird aber nicht nach Gold schürfen, sondern Mate soll ihn reich machen. Ernesto und Celia nehmen natürlich ihre Freunde mit, und es ist eine fröhliche Schar, die sich wie in ein neues Fest in dieses Abenteuer stürzt. Ernesto will in jenem Dschungel, in dem sich verlauste Landstreicher und Waffen-, Alkohol- und Rauschgiftschmuggler gegenseitig umbringen, weiter das Leben eines Grandseigneurs führen.

Für sich selbst und seine Freunde gründet er ein Dorf, Puerto Guevara, aber er vergißt, die »yerba-mate«-Bündel abzuschicken, so daß sie an Ort und Stelle verfaulen. Aufgebrochen, ein Vermögen zu machen, ruiniert er sich und seine Frau vollends.

Celia erwartet ein Kind. Sie wird in Rosario entbinden, der nächstgelegenen und dennoch in der Luftlinie 1000 Kilometer entfernten Stadt. Das Kind wird 1928 geboren, kurz bevor fast alle Vermögen der »Neuen Welt« bei dem sogenannten Großen Krach verlorengingen.

Es ist ein Junge. Man nennt ihn Ernesto wie seinen Vater, und später wird er den Kosenamen Ernestito oder Tete bekommen. Schon bald nach seiner Geburt beginnt er an so starkem Asthma zu leiden, daß sein Leben ständig gefährdet ist. Er ist außerdem schwächlich, zart, sehr nervös.

Die Guevaras beschließen, Puerto Guevara, den Mate und die Provinz Misiones zu verlassen. Es fehlt hier an Ärzten, das Klima ist besonders ungesund, und sie haben es außerdem satt, die Pioniere zu spielen. Sie ziehen nach Buenos Aires ins Viertel Flores, aber Tete verträgt das Klima dort auch nicht, und so lassen sie sich schließlich in dem sehr vornehmen Kurort Alta Gracia am Fuße der Sierras nieder.

Ernesto Guevara Lynch kann sich, obwohl er fast ganz verarmt ist, nicht dazu aufraffen zu arbeiten. Er verwaltet mit der linken Hand ein paar Häuser, läßt verbreiten, daß er Architekt sei, und eröffnet ein Büro, aber vor allem befaßt er sich mit Politik. Er ist einer der 60 Unterzeichner der »Erklärung von Alta Gracia«, einer Art Manifest zugunsten der unterentwickelten Völker, was damals für revolutionär gilt. Man flüstert, als handele es sich um etwas Unsittliches, Celia sei vielleicht »Sozialistin«.

Die immer noch antikonformistischen, sich immer noch gegen ihr Milieu auflehnenden Guevaras ergreifen beim Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs leidenschaftlich Partei für die Republikaner, während man in ihren Kreisen für die Anhänger Francos betet und wirbt.

Da es Tete jetzt besser geht, ziehen die Guevaras wieder nach Buenos Aires. Als einziger Besitz ist ihnen ein Haus im Norden der Stadt geblieben, und dort befinden sich nicht die schönen Viertel. Die Eheleute verstehen sich nicht mehr. Es fehlt jenes Geld, das im heiteren Trubel der Feste sie beide ihren schwierigen, provozierenden und stolzen Charakter vergessen ließ. Sie beschließen, sich zu trennen, sich aber nicht scheiden zu lassen.

Um das Gesicht zu wahren, wohnen sie offiziell unter dem gleichen Dach, doch seine meiste Zeit verbringt Ernesto Guevara Lynch in einer Garconnière in der Paraguaystraße 2034. Celia kümmert sich jetzt um ihr Kind. Sie tut es mit viel Eifer und Begeisterung, aber ohne viel davon zu verstehen.

Ernestito ist wie in einer Glasglocke aufgewachsen: Immer sieht man ihn in einem dicken Pullover mit einem Schal um den Hals. Er ist ein schweigsames, zurückhaltendes Kind, aber es fehlt ihm nicht an Humor, und er paßt sich sehr gut dem bohemischen Leben seiner Eltern an, findet sich mit ihren Szenen, ihren Zwisten und Beleidigungen ab, aber wenn es zu schlimm wird, flüchtet er sich zu seiner Tante Beatrix.

Von seinen Eltern, die so viel Geld verschenkt haben, lernt er, es zu verachten. Seit sie arm sind, haben sie die meisten Freunde aus ihrer Welt verloren, aber das Haus, ein großes, liederliches, jedoch warmes und gastfreundliches Haus, ist immer voll von Leuten aller Art, vor allem jungen, die zu den Guevaras kommen, um die Luft der Freiheit zu atmen.

Oberst Perón ist an der Macht. Wenn seine Regierung endlich eine Fülle sozialer Reformen einführt, dann zum Nachteil der Freiheit. Die Armee ist überall gegenwärtig. Die Militärs ersetzen die Lehrer in den Gymnasien, die Pressefreiheit ist abgeschafft. Perón macht aus seiner Sympathie für den italienischen Faschismus und den deutschen Nazismus kein Hehl. In zwei oder drei soziale Gesetze schmuggelt er antisemitische Maßnahmen ein. In gewissen Familien von Buenos Aires ist es guter Ton, sich mit à la Hitler erhobenem Arm zu grüßen. Bei den Guevaras gibt es das nicht. Man sieht dort diese ewige Parade mit nicht eben freundlicher Miene. Ernestito wird nie Peronist werden.

Mit 19 Jahren beginnt er im Jahre 1947 Medizin zu studieren, weil er findet, daß man ein Leiden um besten damit überwindet, daß man es genau kennt. Wenn er sich für ein Spezialgebiet entscheiden muß, wird er sich mit den Allergien beschäftigen, denn Asthma scheint vor allem eine Allergie zu sein, eine psychische Krankheit, das Leiden der Ängstlichen und Verängstigten.

Er geht damals so schlampig gekleidet, daß seine Kommilitonen ihm den Spitznamen »Chancha« (Sau) geben. Aber ihn kümmert das kaum. Seine Kleidung wird ihm immer gleichgültig sein, selbst als er Minister ist. Dieser freche, spöttische Sohn aristokratischer Eltern versucht durch anderes zu glänzen.

Im gleichen Jahr beschließt er, die Glasglocke, unter der seine Mutter ihn seiner Gesundheit wegen zu leben gezwungen hat, zu zerschlagen. Er will mit dem Fahrrad durch Argentinien fahren. Um damit Reklame zu machen, hat man ihm einen Hilfsmotor geliehen. Mit ein paar Pesos startet er zu der großen Reise, lebt von einem Tag zum anderen, arbeitet in Hospitälern, wo man ihn beköstigt und ihm ein Quartier gibt, schläft manchmal aber auch in Scheunen oder unter freiem Himmel.

Einmal tut er sich mit einem Vagabunden zusammen, der »für diesen tapferen Kämpfer, der den Rekord im argentinischen Radrennen hält«, die Trommel rührt und Geld sammelt; verlegen und belustigt zugleich sieht Ernesto ihm dabei zu. Der Vagabund steckt die Hälfte der »Einnahmen« in die eigene Tasche, und sie trennen sich wieder.

Schließlich läßt ihn sein Motor im Stich, und Tete Guevara muß für den Rest der mehrere 1000 Kilometer langen Strecke die Pedale treten. Doch er hat bewiesen, daß er trotz seines Asthmas ein normales Leben führen kann. Ein wenig voreilig glaubt er, seine Krankheit überwunden zu haben. Aber die Anfälle kehren wieder. Er muß sein Studium unterbrechen und nach Alta Gracia zurückkehren, wo ihm das Klima so gut bekommt.

In Alta Gracia und in den an Córdoba angrenzenden Sierras findet Ernesto alte Freunde seiner Familie wieder. Er verliebt sich in Chichina Fereiras, ein junges Mädchen aus seiner Welt, aber doch nicht ganz aus seiner Welt, denn sie ist wenigstens reich geblieben und ist auch nicht eine Rebelim wie Celia de la Serna.

Man gibt ihm unverblümt zu verstehen, daß er bettelarm ist; er wird das sein Leben lang nicht vergessen und das Geld hassen. Man gibt ihm auch zu verstehen, wie zerlumpt und schmutzig er ist, worauf er mit dem jungen Mädchen bricht und nach Buenos Aires zurückkehrt. Er erholt sich sehr schnell von diesem ersten Kummer. Er denkt nur noch daran, immer weiter fortzugehen

Mit dem Motorrad macht er sich, begleitet von einem seiner Freunde, der auch Medizin studiert, wieder auf die Reise. Ihr Ziel: die Vereinigten Staaten. Aber in den Anden haben sie eine Panne und kommen nicht weiter. Als blinde Passagiere versuchen sie auf einem nach Panama fahrenden Schiff die Reise fortzusetzen.

Aber noch ehe das Schiff den Hafen verläßt, werden sie entdeckt. Man macht kurzen Prozeß mit ihnen und wirft sie ins Wasser. Sie sind in Ekuador, wo sie Leprakranke pflegen, fahren auf einem Floß weiter und erreichen schließlich Venezuela.

Die Obersten Delgado Chalbaud und Pérez Jiménez sind soeben durch einen Putsch an die Macht gelangt. Die beiden Studenten aus Argentinien haben Empfehlungen an Kommilitonen und Professoren, aber alle gehören der Partei Rómulo Betancourts an, der Demokratischen Aktion, die gerade verboten worden ist. Um diese Maßnahme zu rechtfertigen, hat man behauptet, Betancourt habe die Krätze, das heißt, er sei Kommunist.

Sie schlendern durch die Straßen auf der Suche nach ihren Freunden, aber die verstecken sich. Die Polizei spürt die beiden zerlumpten Gesellen auf, beschattet sie und merkt, daß sie versuchen, Kontakt mit Kommunisten aufzunehmen. Man nennt auch sie Kommunisten, verhaftet sie und weist sie aus.

»Ernestito wird dieses Etikett hie mehr loswerden«, schreibt sein Freund Georges Dupoy. »Er hat keinen Anspruch darauf erhoben, aber er weist es nicht zurück. Merkwürdig an diesem Che ist seine Fähigkeit, etwas hinter sich zu lassen. Seit seiner ersten Reise ist er der ewige Reisende geworden. Je weiter er im Leben fortschreitet, desto mehr löst er sich von seiner Vergan-genheit. Mit unheimlicher Gleichgültigkeit drängt er vorwärts.«

Für seine Kommilitonen von der medizinischen Fakultät ist der Che vor allem ein »anarchistischer Vagabund« ohne festumrissene politische Ideen. Er ist Antikonformist, er provoziert gern, aber er ist auch ein für alles, selbst für die Medizin, bemerkenswert begabter Student.

Von seiner Reiseleidenschaft getrieben, begibt er sich in die Vereinigten Staaten, begleitet Pferde, die mit dem Flugzeug dorthin transportiert werden. In Florida übernimmt er alle möglichen Jobs, spült Geschirr, arbeitet in Bars, verkauft Zeitungen, aber vor allem hört und sieht er. Er vergißt darüber, sein Besuchervisum verlängern zu lassen, und die Fremdenpolizei verhaftet ihn.

Die Vereinigten Staaten gehören nicht zum gleichen Kontinent wie das übrige Amerika, wo Vagabunden immer die Chance haben, ohne Visum von einem Land ins andere zu schlüpfen. Es ist eine ernste, tüchtige Welt, in der die Phantasie, die Mißachtung der Gesetze und des Anstands, all das, was der Che liebt, nicht geduldet wird.

Darum liebt er weder die Vereinigten Staaten noch die Schweiz. Sie sind für ihn zu geordnete Länder, und vor Ordnung und Organisation hat er Angst. Er findet, daß sie den Menschen zerstören und seine Auflehnung einschläfern. Zum erstenmal muß sich Ernestito grollend an seine Familie wenden, die ihm dann auch das notwendige Geld für die Rückreise schickt.

Nachdem er Dr. med. geworden ist, leistet er seinen Militärdienst ab und beendet ihn als Leutnant mit dem Rang eines Unterstabsarztes. Seines Asthmas wegen hätte er vom Militärdienst freigestellt werden können, aber das wollte er nicht.

Als Arzt widmet er sich dann den Leprakranken, weil sie von der Zivilisation völlig verworfen werden. Ernesto Guevara wird Arzt an einem Leprakrankenhaus in Venezuela, später in Guatemala. Aber gleichzeitig betätigt er sich politisch; er bereist den amerikanischen Kontinent, sucht überall, in allen Orten und Ländern, diese äußerste Form modernen und romantischen Abenteuers: die Revolution.

Schon macht er sich ein Bild von der Welt, das zynisch und idealistisch zugleich Ist. Er glaubt, daß man im Namen eines Ideals, wie zum Beispiel des Verzichts auf Profit, auf Geld, auf Wohlbehagen, von den Menschen alles fordern kann, und daß es möglich ist, die ideale Gesellschaft zu schaffen, vor der schon Platon geträumt hat.

Aber um dorthin zu gelangen, darf man nicht zögern, die Maschinenpistole zu benutzen und Blut fließen zu lassen. Zugleich behält dieser Idealist, der eigentlich langweilig und gespreizt sein müßte, viel Humor. Che mokiert sich über andere, aber auch über sich. Er ist oft geradezu grausam schlagfertig. In Peru beteiligt er sich an dem Aufstand des Flottenstützpunkts Callao. Auch in Honduras taucht er auf, ohne daß man recht weiß, was er dort tut.

Einer seiner Freunde, der argentinische Anwalt Ricardo Rojo, holt ihn aus seinem Leprakrankenhaus in Guatemala (Leprakrankenhäuser sind immer prächtige Schlupfwinkel für Berufsrevolutionäre gewesen) und bringt ihn zu Guatemalas linksradikalem Präsidenten Arbenz, dessen Berater er wird. Guevara schlägt vor, Bauernwehren und Volksmilizen zu schaffen, aber Arbenz lehnt es ab. Er versucht eine politische Polizei aufzustellen, jedoch zu spät.

Arbenz stürzt unter den Schlägen von Castillo Armaz, aber auch durch seine Schuld, denn er hat keinen Charakter. Che schwört sich, die Männer, denen er dienen wird, vorsichtiger auszusuchen, denn in einem lateinischen Land sind die Männer immer wichtiger als die Sache, für die man kämpft.

Ricardo Rojo und Ernesto Guevara flüchten sich in die argentinische Botschaft, die sie an die mexikanische Grenze bringen läßt. Auf der Halbinsel Yucatán mit ihrem feuchten und heißen Klima wird Che plötzlich wieder von seiner Krankheit überfallen. Eine aus Peru stammende Schwester, Hilda Gaeda, pflegt ihn mit solcher Aufopferung, daß sie ihn rettet, obwohl sein Fall als hoffnungslos gilt.

Aus Dankbarkeit heiratet er sie, obwohl sie zehn Jahre älter ist als er. Hilda Gaeda ist die Schwester des peruanischen Revolutionärs Ricardo Gaeda Acosta. Später wird Che sich scheiden lassen, um Aleida March zu heiraten, die er in der Untergrundbewegung kennengelernt hat und die ihm drei Kinder schenkt.

Che ist auf der Suche nach einer anderen Revolution. Und da begegnet er Raúl Castro, der ihn seinem Bruder Fidel vorstellt. Che Guevara schreibt »Ich lernte Fidel in einer jener kalten mexikanischen Nächte kennen, und ich erinnere mich, daß unsere erste Diskussion sich um die internationale Politik drehte. In den frühen Morgenstunden war ich ein Mitglied seiner Expedition.«

Guevara hat noch immer keine Papiere. Er ist für den Untergrund geboren und fühlt sich darin wohl. Aber Mexiko ist ein Land, In dem die Fremdenpolizei sehr wachsam ist. Er kommt ins Gefängnis, und Fidel Castro muß viel Zeit und Geld dafür opfern, ihn herauszubekommen.

Der kleine Arzt hat den kubanischen Anwalt in Bann geschlagen. Er hat das, woran es bei vielen Männern der Aktion hapert: politische Ideen, ein klares Urteil und größere Welterfahrung. In der Sierra heißt es später: »Was Che heute gesagt hat, wird Castro morgen sagen.« Eine solche Bemerkung machte dem künftigen Führer maximo kaum Freude.

Fidel Castro war nach seinem ersten -- mißglückten -- Aufstand in Kuba 1953 und seiner Befreiung aus dem Gefängnis nach Mexiko gekommen und hatte dort eine kleine Truppe aufgestellt, um mit der Motorjacht »Granma« in Kuba zu landen und den Diktator Batista zu stürzen.

Es war ein spanischer Republikaner, General Alberto Bayo, der Castros kleine, aus 82 Mann bestehende Gruppe ausbildete. Bayo fand sofort, daß Guevara sein begabtester Schüler war und mehr als alle anderen begriff, worauf es im Guerillakrieg ankommt. Er litt nur leider an Asthma und war oft dem Ersticken nahe. Aber gerade dieses Handikap hat seinen Charakter gestählt und seinen Willen entwickelt.

Guevara machte sich kaum Illusionen über die Erfolgschancen des Abenteuers, das ihm Castro vorschlug: »Der Sieg ist mir zunächst sehr problematisch erschienen. Vom ersten Augenblick an verband mich mit Castro ein romantisches Band der Sympathie, und der Gedanke, daß es sich lohnte, in einem fremden Land für ein so hohes Ideal zu sterben.«

Es wurde eines der schönsten und erstaunlichsten Abenteuer unserer Zeit. Zwölf schlecht bewaffnete Männer, die Überlebenden der »Granma«, schlagen mit den Freiwilligen, die sich ihnen anschließen, eine moderne Armee von mehreren tausend Mann in die Flucht. Che Guevara befehligt die eine der Kolonnen, die Santa Clara nimmt, und bewirkt den Sturz des Regimes Batista.

Am Anfang des Abenteuers in der Sierra Maestra muß Che eine neue Wahl treffen, und wieder einmal soll die Wahl unabänderlich sein. Er wird endgültig einen Teil seiner selbst aufgeben. Er wird den Arzt über Bord werfen und ist nur noch Revolutionär.

»Als Militärarzt«, schreibt er in seinen »Erinnerungen«, »war es meine Aufgabe, wunde Füße zu behandeln, Ich glaube mich noch deutlich an den letzten Tag zu erinnern, da ich das tat. Der Mann hieß Humberto Lambotte, und es war seine letzte Ruhepause. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er die kleine Landapotheke verließ, um seinen Posten wiederaufzunehmen. Er wirkte müde und elend und trug seine Stiefel, die er nicht wieder anziehen konnte, in der Hand.

»Genosse Montane und ich hatten uns an einen Baumstamm gelehnt und sprachen von unseren Kindern, während wir unsere magere Ration aßen: ein halbes Würstchen und zwei Zwiebäcke. Ein Schuß hallte. Binnen wenigen Sekunden ging ein Orkan von Kugeln auf unsere 82 Mann starke Gruppe nieder.

»Mein Gewehr war keines der besten. Ich hatte kein besseres haben wollen, denn meine körperliche Verfassung war nach dem heftigen Asthma-Anfall, der mich während der ganzen Überfahrt zum Liegen gezwungen hatte, recht kläglich, und darum wollte ich keine gute Waffe haben. Ich erinnere mich, daß mitten in der Schießerei Almeida -- damals Hauptmann -- neben mir auftauchte, weil er Befehle brauchte, aber es war niemand mehr da, um sie zu geben.

»Almeida kehrte zu seiner Gruppe zurück; zur gleichen Zeit ließ ein Genosse eine Munitionskiste zu meinen Füßen fallen. Ich machte ihn darauf aufmerksam. Mit einem Gesicht, an das ich mich der Angst wegen, die sich darin malte, deutlich erinnere, antwortete der Mann etwas wie 'Es ist nicht der Augenblick, sich um Munitionskisten zu kümmern', und schon verschwand er.

»Sollte ich mich weiter der Medizin Widmen oder meiner Pflicht als revolutionärer Soldat? Es war vielleicht das erstemal, daß ich praktisch vor diesem Dilemma stand: Vor mir standen ein Rucksack voller Medikamente und eine Munitionskiste. Ihr Gewicht verbot mir, sie beide mitzunehmen. Ich entschloß mich für die Munitionskiste und ließ den Rucksack Stehen.«

Während dieser ganzen Zeit ist Che mutig, ohne sich damit zu brüsten. Er hat oft Angst und gesteht es. Er mokiert sich über sich, seine Schwächen und seine Ungeschicklichkeiten. Seine Waffe hat eine Ladehemmung, wenn er schießen will. Ein Asthma-Anfall zwingt ihn, seine Kameraden zu verlassen, und er verirrt sich. Aber er ist immer für brutale Lösungen, wenn es sich darum handelt, die Lauen und Weichen auszumerzen.

Als die Regierung Castro sich in Havana niederläßt, wird Che plötzlich mit hohen Funktionen betraut, für die er gar nicht vorbereitet war. Man erzählt sich, wie er Präsident der Nationalbank geworden ist und dadurch der große Herr der kubanischen Wirt-Schaft:

Fidel hatte seine ganze Equipe von Barbudos (Bärtigen) der ersten Stünde um sich versammelt und überlegte, wie er die einen und anderen einsetzen konnte. Als er fragte: »Wer von euch ist Wirtschaftler (economista)?«, verstand Che, der todmüde war und halb Schlief: »Wer von euch ist Kommunist (comunista)?« Wr hob den Finger.

Und so wurde Che der große Finanzmann Kubas. Ausgerechnet er, der das Geld am meisten haßte und bereits fand, daß man es abschaffen müsse. Die Geschichte ist wahrscheinlich erfunden, aber sie ist symptomatisch für die Art, wie nach Vorstellung der Kubaner die Rebellen aus dem Osten einander Stellungen und Funktionen zuschanzten.

Che Guevara trägt damals die Schwarze Baskenmütze mit einem kleinen silbernen Stern, dem des »comandante«. Es ist der höchste Dienstgrad bei den Guerrilleros, und es wird auch der höchste Dienstgrad der kubanischen Armee bleiben, weil Fidel ebenfalls »comandante« ist und natürlich niemand über ihm stehen kann.

Che trägt einen nicht sehr dichten Vollbart, einen herunterhängenden Schnurrbart, und auch sein Haar ist Sehr lang. Wenn er ernst ist, wirkt sein Gesicht mit den energischen Zügen schön. Aber wenn er lacht, verwandelt es sich in das eines Jungen, der gern ein kleiner Teufel wäre.

Die Augen hat er fast immer halb geschlossen. Sie sind spöttisch, ironisch, funkeln von Geist. Leider vermag Che seine beißende Ironie nur Menschen und nicht Ideen gegenüber anzuwenden, und dabei haben es auch die Ideen nötig, daß man sich über sie lustig macht.

Als Che an der Macht ist, täuscht er sich unaufhörlich. Brillant als Theoretiker, bemerkenswert als Guerillaführer, versagt er als Beamter und Politiker, denn es fehlen ihm die Geschicklichkeit und die Bereitschaft zum Kompromiß. Aber er behält seinen großen Einfluß auf Fidel Castro, und Che ist es, der ihn überzeugt, daß es im 20. Jahrhundert unmöglich ist, eine humane Revolution zu machen.

»Eine Revolution«, versichert er Castro, »muß, wenn sie Erfolg haben und dauern soll, alle Strukturen in Frage stellen, muß das Endgültige schaffen. Sie kann darum nur brutal, unabänderlich und marxistisch sein.« Und in seinem Buch »Der Sozialismus und der Mensch auf Kuba« schreibt er: »Von Rentabilität oder gar vom materiellen Profit des einzelnen kann nicht die Rede sein.«

Wie alle kommunistischen Idealisten will er den Menschen ändern. Er will ihn zu einem uneigennützigen Altruisten machen. Er entfernt aus der kubanischen Wirtschaft alle Nichtmarxisten und trennt sich so von den besten Wirtschaftlern, die in Kuba geblieben sind. Er unterzeichnet die kubanischen Banknoten nur mit dem Namen Che. Als guter Anarchist weigert er sich, beim Internationalen Währungsfonds seine legale Unterschrift zu hinterlegen.

Nach einer Weltreise wird er Industrieminister. Da er für schnelle und brutale Lösungen ist, sozialisiert er Kuba mit einem Schlag. Er führt eine Devisenkontrolle. das Monopol für

* Mit Kubas Präsidenten Dorticós (l.), Sowjetbotschafter Kudrjawzew.

Importe und Exporte ein, unterdrückt jede Privatinitiative, verstaatlicht alle Unternehmen und gruppiert sie neu.

Er will die Insel industrialisieren, obgleich Strom und Rohstoffe fehlen und Zuckeranbau und Landwirtschaft für Kuba das gegebene sind. Es wird eine Katastrophe, von der Kuba sich heute noch nicht erholt hat. Man fleht Castro an, Che in die Wüste zu schicken. Aber Castro kann es nicht oder wagt es nicht. Er glaubt noch an ihn, doch die höchst betrüblichen Tatsachen lassen sich nicht leugnen. Che wird »sanft« abgeschoben.

Man schafft neben dem Industrieministerium ein Ministerium der Zuckerindustrie und kann dadurch Che einen Teil seiner Prärogativen entreißen. Statt des kostenlosen Stachanowismus, den er gepredigt hat, beginnt man den Arbeitern Prämien zu zahlen. Zwar noch nicht in Bargeld, sondern in Form von Gratisurlaub. Motorrädern, Kühlschränken Häusern.

Die Pläne des argentinischen Arztes zur Einführung eines absoluten Kommunismus werden begraben. Seine Aufgabe wird auf ein Minimum reduziert. Er erträgt diese Kaltstellung sehr schlecht. Seine Ironie und seine offene Sprache machen ihn bei den anderen »companeros« schnell unbeliebt.

In der Außenpolitik neigt Che zur chinesischen Auffassung, weil sie die härteste ist. Castro dagegen geht um seiner Revolution willen in das sowjetische Lager über. Nach seinem Bruch mit den Vereinigten Staaten ist die Sowjet-Union das einzige Land, das Kuba zu Hilfe kommen kann.

In seinem Buch »Kuba, Sozialismus und Entwicklung« schildert René Dumont den Che und sein Problem sehr treffend: »Che entwickelt eine gewiß interessante prinzipielle Position, eine Art idealer Vision des sozialistischen Menschen, dem die merkantile Seite der Dinge fremd geworden ist, der für die Gesellschaft arbeitet und nicht im Hinblick auf den Verdienst.

»Der industrielle Erfolg der Sowjet-Union, wo alle arbeiten, sich abrackern, jeder seine Norm zu übertreffen versucht, aber nur um mehr Geld zu bekommen, findet wenig Gnade in seinen Augen. Er sieht im Sowjetmenschen keinen wirklich neuen Menschen, denn er findet ihn nicht von Grund aus anders als den Amerikaner. Er weigert sich bewußt, in Kuba an der Schaffung einer zweiten nordamerikanischen Gesellschaft teilzunehmen, selbst wenn in ihr alles dem Staat gehört.«

Heute scheint Castro, weil er sich mit den Russen nicht mehr so gut steht, seinerseits den Utopien des Che anzuhängen.

Am 9. Dezember 1964 wird Che als Botschafter der kubanischen Revolution auf die Reise geschickt. Er hält eine Rede vor den Vereinten Nationen, geht nach Afrika und Asien, gibt immer schärfere Erklärungen ab.

In Algier attackiert er Rußland, das ein egoistisches und bourgeoises Land geworden sei, und fordert es auf, gratis und ohne Bedingungen die ärmsten sozialistischen Länder zu unterstützen: »Wir hängen von der Kraft und Einigkeit des sozialistischen Lagers ab, darum ist die russisch-chinesische Auseinandersetzung wirklich sehr ernst für uns.«

Man findet allmählich, daß er sich ein wenig zu sehr in Dinge einmischt, die ihn nichts angehen. Man beauftragt ihn, dem algerischen Staatschef Ben Bella zu helfen und für ihn Volksmilizen zu schaffen, damit er gegen Boumedienne und dessen Armee kämpfen kann. Che scheitert. Es wäre auch kaum begreiflich gewesen, wenn er Erfolg gehabt hätte.

Auf dieser ganzen Rundreise wird er genau überwacht. In Genf zum Beispiel läßt ihn der Botschafter von Kuba, ein »alter Kommunist«, nicht einen Augenblick allein und schafft es sogar, daß die Einladungen seiner Familie ihn nicht erreichen.

Am 14. März 1965 kehrt Che nach Havana zurück. Und zu dieser Zeit ungefähr beginnt das Mysterium. Seine argentinischen Freunde, die von seiner Ankunft erfahren haben, sind alle zum Flughafen geeilt, um ihn abzuholen.

Unter ihnen befindet sich der Korrespondent der Agence France-Press, Yves Daude, der in Misiones geboren ist, wo Ernesto Guevara seine Kindheit verbracht hat. Che hat ihm oft geholfen, wenn er bei der Ausübung seines Berufes als Journalist, wie das in einem totalitären Lande nicht verwunderlich ist, Schwierigkeiten hatte. Aber weder Daude noch die anderen Argentinier können ihn sprechen.

Fidel Castro, Raúl Castro und der Castro-Vertraute Dorticós, der Che auf allen seinen Posten ersetzt hat, erwarten ihn am Flugzeug und führen ihn sofort in einen kleinen Raum mit Glaswänden, in dem sonst die Ehrengäste empfangen werden. Es ist nur allzu klar: Man will um keinen Preis zulassen, daß er mit jemandem spricht oder eine Erklärung abgibt, und das gerade schien er beabsichtigt zu haben.

Sofort kommt es zu einem heftigen Disput zwischen Che einerseits und Raúl und Dorticós andererseits. Fidel spielt den Schiedsrichter, ohne eine Miene zu verziehen. Von seiner Umgebung bearbeitet, von den Russen verwarnt, scheint er in diesem Augenblick seinen alten Gefährten und Lehrmeister fallengelassen zu haben.

Aber als Dorticós, durch die schneidenden Antworten des Che aufgebracht, wie es heißt, seine Pistole herauszieht, greift Fidel ein und erreicht, daß er die Waffe wieder einsteckt. Von einer Eskorte begleitet, begibt sich Che in seine Residenz. Seitdem übt er keine politische Tätigkeit mehr aus. Er verschwindet. Aber man weiß, daß er noch in Kuba ist.

Am 22. März soll er einen Vortrag über seine Reise halten. Im letzten Augenblick erscheint statt seiner Dorticós am Rednerpult. Er spricht von dem Handel mit der Dritten Welt, während Che sich nicht zeigt. Zum letztenmal sieht man ihn im Revolución-Verlag, wo er die Fahnen seines Buches »Der Sozialismus und der Mensch auf Kuba« korrigiert.

In jener Nacht scheint er Castro und seine einstigen Gefährten getroffen zu haben, und es soll zu einem neuen Streit mit Raúl Castro und Dorticós gekommen sein. Andere behaupten, Che bis in den Juli hinein gesehen zu haben. Der Ingenieur Alberto Nieto hat ihn am 4. August nachts das Innenministerium betreten sehen.

Am 26. Juli antwortet Aleida, Guevaras zweite Frau, auf die Frage von Journalisten, wo ihr Mann sich befinde: »Es geht alles gut. Wir sind in der Nähe von Havana.«

Auf einer Kundgebung der Castro-Partei am 4. Oktober 1965 liest Fidel auf der Tribüne den »despedida«-Brief (den Abschiedsbrief) des Che vor:

»Fidel,

in dieser Stunde erinnere ich mich an vieles, als ich Dich bei Maria Antonia kennengelernt habe ... Ich habe das Gefühl, meine Aufgabe erfüllt zu haben, soweit es um Kuba und die Revolution ging. Ich Verabschiede mich von Dir, von Deinen Kameraden, von Deinem Volk, das fortan das meine ist. Ich verzichte formell auf meine Ämter in der Parteiführung, auf meinen Ministerposten, auf den Rang eines Comandante, auf die kubanische Staatsangehörigkeit ...

»Mein einziger ernsterer rehler war es, daß ich Dir von den ersten Augenblicken in der Sierra Maestra an nicht mehr vertraut und Deine Qualitäten als Führer und Revolutionär nicht erkannt habe ... Selten hat ein Staatsmann sein Licht so leuchten lassen wie Du in jenen Tagen. Ich bin stolz darauf, Dir ohne Zögern gefolgt zu sein.

»Andere Länder der Welt benötigen meine bescheidene Hilfe. Ich kann tun, was Dir durch Deine Verantwortung an der Spitze Kubas versagt ist. Die Stunde ist gekommen, daß wir uns trennen. Ich werde auf die neuen Schlachtfelder den Glauben mitnehmen, den ich Dir verdanke ... Che«

Ernesto Che Guevara war von der politischen Bühne Kubas abgetreten. Nur wenige wußten, daß er sich auf ein neues Abenteuer vorbereitete, sein letztes: den Guerillakrieg auf dem lateinamerikanischen Kontinent.

IM NÄCHSTEN HEFT

Che Guevara trainiert Partisanen für einen Aufstand in Bolivien -- Che-Gefährtin Tania schmuggelt Waffen und Proviant ins Bandenlager -- Erster Zusammenstoß mit bolivianischen Truppen im Busch

Jean Lartéguy
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