GESCHICHTE / BISMARCK Auch ein verlorener Sohn
(s. Titel)
»Warum ist trotz aller Bemühungen um Bismarck von 1898 bis 1948 keine einzige, wirklich befriedigende, wirklich moderne wissenschaftliche Bismarckbiographie zustande gekommen? Läßt sich das noch mit 'deutscher Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit' rechtfertigen?« Der Freiburger Geschichtsprofessor Gerhard Ritter sparte nicht mit Vorwürfen an die eigene Adresse und die seiner Zunftgenossen auf dem Münchener Historikertag im September 1949.
Ritter, Luther- und Stein-Biograph, griff nicht ohne Grund Bismarck heraus. »An dieser mächtigen Gestalt scheiden sich die Geister, und an ihrer Beurteilung hängt zuletzt alles, was die Historie an politischer Belehrung für unsere Zeit zu bieten hat«, schrieb er gleich nach dem Ende dieses Krieges(1).
1) Gerhard Ritter, Geschichte als Bildungsmacht. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, 1946, 74 Seiten, DM 3, - . Dabei ist es ihm klar, wie sehr gerade der Reichsgründer tatsächlich der Repräsentant einer nationalistisch überhitzten Flegelzeit der Deutschen war, mit Niederwald-Denkmal und Cherusker-Kult, mit Pickelhaube und den Keimen des irrealen Anspruchs, das Salz der Erde sein.
Aber er weiß auch, daß es vornehmlich die von ihrer Zeit angesteckten Historiker, etwa Sybel und Treitschke, waren, die das Bild des »Eisernen Kanzlers« als eines fleischgewordenen Macchiavell, als eines eingeschworenen Verächters der Freiheit verherrlichten und verzerrten. Dieses Bild jedoch ist, so beansprucht Ritter, »eine reine Phantasiegestalt, der keine Wirklichkeit mehr entspricht«.
Ritter will es richtiggestellt wissen. Nicht allein um der historischen Wahrheit willen. Vielmehr: »Das nationale Selbstbewußtsein der Deutschen ist heute tief erschüttert - man wird es nicht zur Selbstverzweiflung treiben dürfen.« Bismarck, der recht verstandene Bismarck, ist ihm der Mann, an dem sich das durch die nationale Katastrophe zerstörte deutsche Nationalgefühl wieder aufrichten kann.
Dabei ist es offensichtlich, daß Bismarck von den Deutschen der Hitler-Katastrophe keineswegs »recht verstanden« wird, sondern daß er im Bewußtsein des Volkes als mythischer »Getreuer Eckehart« fortdauert, unter dem »all das nicht hätte passieren können«, wenn seine Politik nämlich so unzerstörbar gewesen wäre wie die Legende um ihn.
Ebenso falsch beurteilten ihn die Umerzieher, als sie es unternahmen, noch den toten Bismarck gleichsam vor eine Spruchkammer zu ziehen um ihn hier für den 1. und 2. Weltkrieg und für alles sonstige Unglück Europas verantwortlich zu machen.
Noch nicht zu haben. Zur Zeit der Münchener Historiker-Tagung lagen zwei vollständige deutsche Biographien des Reichsgründers bereits fertig vor. Aber das wichtigere, modernere der beiden Werke ist in deutschen Buchhandlungen jetzt noch nicht zu haben.
Es erschien während des Krieges, wenn auch nicht in Deutschland, so doch in der Schweiz, in deutscher Sprache und von einem deutschen Verfasser. Allerdings gehört ihr Autor, Erich Eyck, im engeren Sinn nicht der Zunft der Fachgelehrten an. Der einstige Rechtsanwalt am Berliner Kammergericht verließ 1937 aus rassischen
Gründen Deutschland und lebt seither im Londoner Exil. Aber Monographien über »Die Monarchie Wilhelms II.«, über Gladstone, über »Die Pitts und die Fox« erwiesen seine historische Begabung. Sein sehr umfangreiches Bismarckwerk - drei Bände mit insgesamt 1996 Seiten - macht ihn vollends zunftgerecht(2).
2) Erich Eyck, Bismarck, Leben und Werk. I. Band, 1941; II. Band, 1943; III. Band, 1944; Eugen Rentsch Verlag AG., Erlenbach-Zürich, jeder Band 17,60 DM. Die zweite neue Biographie wurde ebenfalls während des Krieges geschrieben. Im September 1943 konnte Arnold Oskar Meyer, zuletzt Ordinarius für mittlere und neuere Geschichte an der Berliner Universität, sie vollenden(3). Sie ist erst jetzt erschienen.
3) Arnold Oskar Meyer, Bismarck, der Mensch und der Staatsmann. K. F. Koehler Verlag, Stuttgart. 792 Seiten. 16,50 DM. Beide Verfasser kommen noch aus der Bismarckzeit. A. O. Meyer, geboren 1877, rühmt sich sogar einer persönlichen Begegnung mit dem Altreichskanzler. Im Sommer 1897 bei einer Ausfahrt des Alten aus dem Sachsenwalde »begegnete sein Blick dem meinen«
Solch leibhaftiges Zusammentreffen mit seinem Helden kann Erich Eyck, geboren 1878, nicht melden. Ob er es gesucht hätte, darf zweifelhaft erscheinen.
Beide Autoren sind Nachfahren des liberalen deutschen Bürgertums des 19. Jahrhunderts. Meyer, Sohn eines Breslauer Physikprofessors, exerziert in sich noch einmal die Wandlung nach, die die deutschen Liberalen zwischen 1850 und 1890 durchgemacht haben. Aus erbitterten Gegnern des »reaktionären Junkers« Bismarck wurden sie mit und nach 1866 zu den eigentlichen Trägern seiner Reichspolitik.
Folgerichtig geistert noch durch Meyers Buch der »eiserne Kanzler«, die »hünenhafte Reckengestalt«, der »rechte Held aus der Schlacht«. Er sieht in den Augen des Kanzlers die »urgermanische Kampfesfreude« blitzen. Er vergleicht ihn dem »Riesen aus nordischer Urzeit«, der »in heldischem Wagemut alles an alles setzt« Meyers Bismarck ist entschieden zu eisern.
Eyck, Sproß einer Kaufmannsfamilie, bleibt Liberaler, gerade auch als Bismarckbiograph. Der radikale Demokrat, der einst in Berlin die juristische Beilage der Vossischen Zeitung redigierte, macht sich, hundert Jahre später, zum Fürsprech seiner liberalen Gesinnungsgenossen aus der
Mitte des vorigen Jahrhunderts. Er will ihre Vorbehalte, ihren Widerstand rechtfertigen, ihr Scheitern erklären. Der Jurist sieht in Bismarck den Mann, der den Grundsatz des Rechts im Staats- und Volksleben unterhöhlt hat. Er will beweisen, daß die nationale Einigung Deutschlands auch ohne Gewaltpolitik möglich gewesen wäre.
Zurück in den Bücherschrank. Beide Autoren haben in Hans Rothfels den gleichen sachkundigen Kritiker gefunden. Der jüdische Gelehrte hat das Buch von Meyer - der Verfasser starb im Juni 1944 an den Folgen eines Unfalls - eingeleitet und herausgegeben. Schon vorher veröffentlichte er die erste umfassende Besprechung von Eycks Werk.
Zum Münchener Historikertag war Rothfels aus Chikago herübergekommen. Dort lehrt er, seit er 1934 von seinem Königsberger Lehrstuhl auf eine Weise davongejagt war, die ihn nur ehren konnte.
Rothfels nun kam aus Amerika. Als er sein Referat »Bismarck und das neunzehnte Jahrhundert« beendet hatte, folgerten die Zuhörer übereinstimmend, jetzt könnte jeder Deutsche sein Bismarckbild wieder beruhigt an die Wand hängen und die »Gedanken und Erinnerungen« in den Bücherschrank zurückstellen
Dabei hatte der Zwangs-Amerikaner Rothfels nichts anderes getan, als die Kritik an Bismarck auf das rechte Maß zurückgeschraubt. Er forderte, den Reichsgründer nicht aus der Gegenwart, sondern aus seiner Zeit herauszubegreifen. Für ihn ist Bismarck der Mann, der Fehler und Vorzüge der klassischen Diplomatie in ihren Extremen vereinigt, der Repräsentant der alten aristokratischen Oberschicht Europas, die sich nur im 19. Jahrhundert noch einmal voll ausleben konnte
Solche Schau bewahrt nach Rothfels den Altreichskanzler davor, zum »Wegbereiter des Dritten Reiches« herabgewürdigt zu werden, was nicht nur Mr. Teitelbaum, der Chef der hessischen Entnazifizierung, unternommen hat. Rothfels: »Hitler hat in fast jeder Beziehung das ausgeführt, was zu tun der Gründer des Reiches sich weigerte.«
Während seines Deutschland-Besuches übernahm es Rothfels, Meyers nachgelassenes Werk herauszugeben. Er tat es nicht nur aus Gründen der Pietät, sondern um des »Prinzips freier und vielfältiger Diskussion«, also mit Vorbehalten.
Er hat seine Bedenken offen ausgesprochen: »Diese Bismarck-Biographie hätte sehr wohl vor 1933 geschrieben werden können ... Das Buch ist völlig frei von Verbeugungen gegenüber dem Hitler-Regime, es ist männlich-kompromißlos ... Aber es ist auch unberührt von den Erschütterungen und vertieften Fragestellungen einer deutschen und einer europäischen Krise ersten Ranges.«
Warum ist es dann überhaupt erst noch erschienen? haben andere Kritiker gefragt. Weil es selbst bereits »Quelle« im geschichtswissenschaftlichen Sinne ist, weil es das Bismarck-Bild einer vergangenen Zeit widerspiegelt, ist Rothfels' Antwort.
Eycks Werk hingegen nennt Rothfels »in vielen Beziehungen ein zeitgemäßes Buch, besser gesagt, eines, das längst überfällig war.« Dafür aber distanziert er sich um so deutlicher von Eycks bewußter Einseitigkeit. Für Rothfels ist es nur eine »Hypothese«, daß Deutschland durch weniger gewaltsame Mittel als die von Bismarck angewandten hätte geeinigt werden können. Und er hält es gar für einen »endgültigen Rückschritt«, wenn Eyck Bismarcks Freiheit von ideologischer Voreingenommenheit und seine Selbstbeschränkung nach dem Sieg weitgehend übersieht.
So bleibt Bismarck umstritten, wie alle Täter der modernen abendländischen Geschichte. Dabei hat seine »überragende, rätselhafte Figur zweifellos an Aktualität gewonnen«. Denn er ist »verantwortlich für die entscheidenden Wandlungen, denen Europa ... im 19. Jahrhundert unterworfen war« (Rothfels).
Aber ob er nur das bewirkte, was seine Zeit forderte, oder ob er dem Verhängnis des 20. Jahrhunderts darüber hinaus den Weg bereitete, für diese Frage gibt es keine verbindliche Antwort. Sie wird weiter nach Geschmack und Ressentiment entschieden werden, und man kann nur versuchen, aus dem Leben dieses nach Eyck »interessantesten Menschen seiner Zeit« das Abbild einer geschichtlichen Persönlichkeit zu entwerfen.
Achilles, der Unverwundbare. Da ist zunächst der übermütige Korpsstudent, der mit einer mächtigen Dogge den alten Wachtturm auf dem Göttinger Wall bezieht. Der in 28 Mensuren als »Achilles, der Unverwundbare« nur ein einziges Mal auf der linken Oberlippe eine leichte Schramme davongekriegt und so viele Schulden macht, daß der Vater, der Rittergutsbesitzer Ferdinand von Bismarck, auf dem sächsischen Schönhausen und den pommerschen Gütern Kniephof, Külz und Jarchelin, noch Jahre daran zu knabbern hat.
Der Hörsaal sieht ihn nicht oft. Aus dem Referendarexamen geht er nach drei weiteren Berliner Semestern trotzdem mit der Zensur »Sehr gut befähigt« hervor.
Da ist der Regierungsreferendar, der »nie Vorgesetzte vertragen« kann. Den, wie er voraussagt, »der längste Titel und der breiteste Orden ... schwerlich entschädigen wird für die körperlich und geistig eingeschrumpfte Brust, welche das Resultat dieses Lebens sein wird«. Der drei Monate ohne Urlaub und ohne Nachricht dem Amt fernbleibt und einer »jungen Brittin von blondem Haar und seltener Schönheit« bis in die Schweiz nachreist.
Nach drei vergeblichen Beamtenversuchen in Aachen und in Potsdam, geht der gescheiterte preußische Regierungsreferendar zurück auf seine ostelbischen Güter, um nach Junkerart Landwirt zu werden. »Ich will Musik machen, wie ich sie für gut erkenne, oder gar keine.«
Der gelangweilte Großagrarier wird der »tolle Bismarck«. Noch Jahrzehnte später geht in Hinterpommern, wo er jetzt auf Kniephof sitzt, die Sage um von seinen Ritten bei Tag und bei Nacht und von seinen Gelagen, bei denen er seine »Gäste mit freundlicher Kaltblütigkeit unter den Tisch trinkt«. Schwere Stürze von Roß und Mann sind bezeugt, und auch die Pistole spielt nicht nur bei Ehrenhändeln ihre Rolle.
Den Müttern auf den umliegenden Gutshöfen gruselt es, wenn sie von dem unheimlichen Standesgenossen heimlich wispern, und für die Töchter gilt es geradezu kompromittierend, Herrn von Bismarck zum Tischherrn zu haben.
Dabei ist der Kavalier im blauen oder schwarzen Leibrock oder im grünen Frack der meistgesuchte Gesellschafter, er weiß hinreißend zu erzählen. Mit beißendem Spott zieht er über die »Krautjunker« her, und auf die Frage nach seinem Befinden antwortet er ernsthaft indem er sein Leben mit seinem Viehbestand gleichsetzt: »Danke gut, nur habe ich leider im Winter stark die Räude gehabt«.
Da ist schon der Skeptizismus. In ganz persönlichen Briefen gesteht er, wie leer er innerlich ist. Er kann nichts mehr glauben, seit seinem 17. Lebensjahr hat er das Beten verlernt.
Da ist es ein junges Mädchen, Marie von Thadden, die Tochter Adolf von Thaddens auf Trieglaff(4), des Oberhauptes der pommerschen Pietisten, die ihm den Rückweg zum Glauben ebnet. Als sie, die inzwischen die Frau von Bismarcks Schulfreund Moritz von Blanckenburg geworden ist, tödlich erkrankt und bald stirbt, ringt sich zum ersten Male wieder von Bismarcks Seele ein Gebet los. »Gott hat mein damaliges Gebet nicht erhört«, hat er im Dezember 1846 in seinem großartigen Braut-Werbebrief gestanden, »aber er hat es auch nicht verworfen, denn ich habe die Fähigkeit, ihn zu bitten, nicht wieder verloren«.
4) Direkte Nachkommen dieser pommerschen Pietistenfamilie sind die Brüder D. Dr Reinhold von Thadden, Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages, und der Bundestagsabgeordnete der Deutschen Reichspartei Adolf von Thadden Was Marie von Thadden in Bismarcks Herzen geweckt, hat ihre Freundin Johanna von Puttkamer vollends entfaltet.
Als der »tolle Junker« das 23jährige pommersche Edelfräulein am 28. Juli 1847 vor dem Altar der Dorfkirche von Alt-Kolziglow heiratet, hat er mit der Lebensgefährtin auch »den Glauben an einen persönlichen Gott, an ein Jenseits und an die christliche Heilslehre wieder gewonnen«.
Er hat diesen Glauben nicht wieder verloren, er ist eine tragende Kraft auch seines politischen Lebens geblieben, und sei es in seiner Einbildung. Als »Gottes Soldat« folgt er 1862 dem Ruf seines Königs. Nach dem Sieg über die Dänen wußte er nur von dem, »was Gottes Beistand Preußen wohlgethan hat«. Nach Königgrätz überraschte ihn ein Besucher, wie er in den »Losungen« der Brüdergemeinde las. Nach Sedan sagte er im Tischgespräch zu seinen Mitarbeitern: »Wenn ich die wundervolle Basis der Religion nicht hätte, so würden Sie einen solchen Bundeskanzler gar nicht erlebt haben.«
Zu äußeren Ehren. Der Weg zu öffentlicher Wirksamkeit ist Bismarck nicht leicht geworden. Er wäre gern Landrat geworden. Sein älterer Bruder Bernhard wird es. Otto muß sich mit dem Deichhauptmann begnügen.
Den Aufstieg über die »Ochsentour« hatte sich der verunglückte Referendar selbst verscherzt. Es blieb nur der parlamentarische Weg. Bismarck hat ihn bewußt ergriffen: »Konstitution unvermeidlich, auf diesem Weg zu äußeren Ehren«. »Konstitution« - das ist die Umwandlung des königlichen »Gottesgnadentums« in eine eingeschränkte Verantwortlichkeit der Krone vom Volkswillen.
Als er dann aber 1847 auf der Abgeordnetenbank des von Friedrich Wilhelm IV. notgedrungen einberufenen Landtags sitzt, übertrifft ihn keiner an schneidender Mißachtung des Parlaments. Er verneint den moralischen und rechtlichen Anspruch der Preußen auf Verfassung und Volksvertretung. Wenn dann der empörte Sturm gegen ihn lostobt, dreht er der Versammlung den Rücken, zieht eine Zeitung aus der Tasche, bleibt aber auf der Tribüne und liest, bis der Sturm sich gelegt hat.
Hier ist er ganz Junker. Sein Platz ist auf der äußersten Rechten. Gegen alle Einwände verficht er das Recht des Königs. Nicht minder die Vorrechte seiner Adelskaste. Schon der Gedanke, den grundbesitzenden Adel zur Grundsteuer heranzuziehen, erscheint ihm wie ein Sakrileg. Daß die Bauern, ohne zu murren, den Wildschaden zu tragen haben, den die Sauen aus den Adels-Forsten in ihren Feldern anrichten, erscheint ihm selbstverständlich. Genau so selbstverständlich steht dem Junker auch die Gerichtshoheit über seine bäuerlichen Hintersassen, die Patrimonialgerichtsbarkeit, zu.
Ueber diese »vorsintflutlichen« Anschauungen geht erst einmal die Revolution hinweg. In diesem Jahr 1848 ist Bismarck dauernd zwischen Berlin und Schönhausen unterwegs. Im März will er - reichlich naiv - seine Schonhauser Bauern bewaffnen und den König aus den Händen der Revolutionäre heraushauen.
Wenig später denkt er augenscheinlich daran, die Prinzessin Augusta, die Frau des Prinzen Wilhelm (des späteren Königs), und deren unmündigen Sohn Friedrich Wilhelm (den späteren Kaiser Friedrich) für eine Gegenrevolution zu benutzen. Augusta, die Weimarer Prinzessin, an deren Wiege noch Goethe stand, lehnt ab. Für sie war Bismarck seither der »Todfeind«.
Im preußischen Revolutionsparlament war kein Platz für Bismarck. Er kam erst wieder, als Friedrich Wilhelm seinem Lande seine Verfassung aufoktroyiert hatte. Da stand er in vorderster Linie und verteidigte des Königs Entschluß, die ihm von der Frankfurter Nationalversammlung angebotene Kaiserkrone abzulehnen.
Ein Jahr später steht er auf der Erfurter Parlamentsbühne. Friedrich Wilhelms kleindeutscher Unionsplan ist gescheitert, am Einspruch Oesterreichs. In Olmütz muß Preußen zu Kreuze kriechen. Das liberale Deutschland, das Einheit und Freiheit verlangt, schäumt. Bismarck verteidigt das schwarz-weiße Banner, den Hohenfriedberger Marsch. »Aber ich habe noch keinen preußischen Soldaten singen hören: 'Was ist des Deutschen Vaterland'.«
Es ist zum Verzweifeln mit diesem Erz-Junker unter allen Junkern. »Das große deutsche Vaterland muß auch einen verlorenen Sohn haben«, versucht der fortschrittliche Abgeordnete von Beckerath Bismarcks ständige Herausforderung abzutun.
Bis in die Vendée. In diesen turbulenten Parlamentsjahren hat Bismarck noch ein politisches Glaubensbekenntnis. Es ist das der Gerlach und Kleist-Retzow, der Alvensleben und Senfft-Pilsach, des »Vereins zur Wahrung der Interessen des Grundbesitzes« und der »Kreuzzeitung«. In den Spalten des neuen Organs der Konservativen gefällt sich Bismarck bald in wüsten Ausfällen gegen alles, was nach Demokratie und Liberalismus riecht.
»Ich sehe die preußische Ehre darin, daß die Preußen vor allem sich von jeder schmachvollen Verbindung mit der Demokratie entfernt halten«, bekennt er in Erfurt. Nicht die deutsche Freiheit, sondern die Erhaltung Preußens steht im Zentrum seines politischen Denkens. Ja, er sinnt schon auf Eroberung. Das Hauptziel der Gewaltigen dieser Erde sei, ihr Herrschaftsgebiet zu erweitern, verblüfft er seine pommerschen Freunde 1842 Auch für Preußen werde die Stunde der Vergrößerung kommen.
Bald will der preußische Opportunist in der auswärtigen Politik - und um die geht es sein Leben lang - kein Recht anerkennen, sondern nur die Zweckmäßigkeit. Sein Vorbild ist der König Friedrich im Jahre des schlesischen Eroberungskrieges 1740. ("Ich will meinen Namen mit goldenen Lettern in das Buch der Geschichte eintragen sagte der junge Fritz damals.)
Ludwig von Gerlach, Magdeburger Appellationsgerichtspräsident und Haupt der Kreuzzeitungspartei, ist entsetzt, als ihm der Schönhauser solche Gedanken enthüllt. Dem Legitimisten ist jede vertraglich gesetzte Grenze und jede Krone auf einem gefürsteten Haupte unverletzlich.
Ueber solche Bedenken ist Bismarck jetzt schon hinaus. »Ich bin meinem Fürsten treu bis in die Vendée(5), aber gegen alle andern fühle ich in keinem Blutstropfen eine Spur von Verbindlichkeit, den Finger für sie aufzuheben«, wird er später schreiben.
5) Die Vendée war der Hochsitz der Royalisten im Kampf gegen die französische Revolution. Damit beginnt sich Bismarck schon von den Ultras unter den Konservativen abzusetzen. Später werden sie seine erbitterten Gegner werden.
Seit dem Vereinigten Landtag ist Bismarck in der preußischen Politik nicht mehr zu übersehen. In den Jahren der Revolution und Gegenrevolution verwandelt er sich zum Berufspolitiker. Er ist mehr in Berlin als in Schönhausen. Schließlich verpachtet er sein Stammgut. Er steht für den Auftrag seines Königs bereit.
Dieser Landwehrleutnant? Da kommt Leopold von Gerlach, dem Bruder Ludwigs und Generaladjutanten Friedrich Wilhelms IV., der Gedanke, Bismarck zum preußischen Bundestagsgesandten vorzuschlagen. Den Bundestag in Frankfurt, der im Märzsturm 1848 aufgeflogen war, wieder zu beschicken, hatte die preußische Regierung in Olmütz den Oesterreichern zugestanden.
»Dieser Landwehrleutnant soll Bundestagsgesandter werden?« raunzt Prinz Wilhelm, des Königs Bruder und Nachfolger, »Dieser verdorbene Regierungsreferendar« mokiert sich der bürokratische Karrieremann Ludwig von Gerlach.
Den unberechenbaren König aber kann Bismarck schneidig gewinnen: »Wenn Eure Majestät den Mut haben, zu befehlen, habe ich den Mut, zu gehorchen.« Er wird ernannt. Er ist und bleibt der erste und einzige zunftfremde Parlamentarier, den Preußen als Gesandten ausschickte.
Acht Jahre bleibt Bismarck in Frankfurt. Im Alter hält er sie für die glücklichsten seines Lebens. Der 36jährige ist von fast unanständiger Gesundheit. In den Salons drängen sich die schönen Frauen um den glänzenden Kavalier, den hinreißenden Plauderer, den guten Tänzer.
Es sind die Jahre des Familienidylls. Zu der Tochter Marie stoßen die Söhne Herbert und Wilhelm (Taufpate: Prinz Wilhelm von Preußen). Frau Johanna, der erst vor der diplomatischen Welt graute und deren hinterpommersche, etwas verkniffene Züchtigkeit sich nie an das Dekolleté der schönen Frankfurterinnen gewöhnen konnte, gewinnt Freundinnen und Bewunderer. In diesen Jahren braucht sie noch nicht zu hassen, wie sie in späteren Zeiten alle Leute haßte, die ihrem guten Ottochen Böses zufügten. (Nach dem Waffenstillstand mit dem auf Drängen Bismarcks bombardierten Paris: »Viele tausend Brandbomben, Granaten, Mörser hätte ich gern noch hineingeschmissen, bis das verruchte Sodom ganz auf ewig ruiniert gewesen.")
Du Hund. Bismarck ist als Verächter des Bundes nach Frankfurt gegangen. Am Ende der Frankfurter Tage ist er es mehr denn je. Er will Heinrich Heines Spottvers zum Nationallied der Deutschen machen:
O Bund,
Du Hund,
Du bist nicht gesund!
Aber die acht glücklichen Jahre in Frankfurt sind die Jahre der Entfaltung eines politischen Genies. Der neuernannte Gesandte hatte nie Diplomatie gelernt. Aus diesem Mangel macht er sorglich eine Tugend. Er ist offenherzig, wenn es ihm paßt, er ist rücksichtslos, wenn es ihm angezeigt erscheint, beides gegen die geheiligten Regeln der Diplomatie.
Kaum hat er seinen Gegenspieler dadurch verwirrt und beeindruckt, so verwandelt er seinen durchaus zweitrangigen Gesandtenposten in eine Schlüsselstellung seiner Politik. Immer wird er die Hebel da ansetzen, wo sie sich ihm bieten.
Am Bundestag, dem ständigen Gesandtenkongreß der souveränen deutschen Einzelstaaten des deutschen Bundes, spielt Preußen die zweite Geige. Der mittelalterlich verträumte König ist damit zufrieden. »Ich bin nicht der Erste in Deutschland, ich bin nicht der Dritte, ich bin der Zweite. Oesterreich steht obenan, und dann komme ich.«
Preußen war aber für den Junker und Gesandten Bismarck das gottgegebene Machtzentrum, von dem aus er eine Machtneuordnung in Mitteleuropa ins Werk setzen konnte. Dazu war es als erstes nötig, Oesterreich aus Deutschland herauszudrängen, ihm Schlappen beizubringen, es zu demütigen, den Bund zu komprimittieren, in dem es präsidierte.
Wenn der österreichische Vertreter in Hemdsärmeln dasitzt, zieht auch Bismarck seinen Rock aus. Raucht er, nimmt sich auch Bismarck eine Zigarre, und so fort die ganze Skala der Schikanen herunter, mit denen man die Stellung eines Präsidenten erschüttern kann wie mit ständigen Beschwerden, Protesten, Rückfragen, Vetos und sonstigen Querelen.
Daneben kann er es sich erlauben, Politik auf eigene Faust zu treiben. 1854 sucht er den russischen Gesandten für ein Bündnis zwischen Preußen, Rußland und Frankreich zu gewinnen. Er hat keinen Auftrag dazu, seine Regierung verhandelt gerade über eine Allianz mit dem Wiener Hof.
Ich bin preußisch. Im nächsten Jahr fährt er nach Paris Die Weltausstellung dient als Vorwand. In Wirklichkeit beginnen seine in den nächsten Jahren immer wiederholten Sondierungen bei Napoleon III. Seinen Parteigenossen zu Hause graut es. Freundschaftliche Gespräche mit dem Usurpator - einem echt preußischen Legitimisten muß es grausen.
Ueber solche Bedenken kann Bismarck nur lachen »Ich bin preußisch«, schreibt er dem besorgten Ludwig von Gerlach der ihn wieder auf die Prinzipienpolitik des Kampfes gegen die Revolution zurückführen will. »Mein Ideal für auswärtige Politiker ist die Vorurteilsfreiheit, die Unabhängigkeit der Entschließungen von den Eindrücken der Abneigung und der Vorliebe für fremde Staaten und Regenten«.
Aber nicht nur Unbekümmertheit läßt ihn nach Paris gehen Schon der Bundestagsgesandte weiß sehr genau, warum er den Bonaparte hofiert Auf der Place de la Concorde im Herzen von Paris spricht er zu Prinz Heinrich VII Reuß von der Unvermeidlichkeit des Krieges zwischen Preußen und Oesterreich. Dafür sieht er in die Zukunft, braucht er eines Tages Napoleon.
Noch ist es nicht so weit, daß er selbst Musik machen kann. Aber der Weg zeichnet sich ab, den er gehen wird. »Die deutsche Einheit will ein jeder, den man danach fragt sobald er nur deutsch spricht.« Bismarck will sie auch. Aber er will sie über Preußen, über ein stärkeres Preußen. Er sieht die Möglichkeiten, die ihm seiner Natur und seiner Herkunft nach offenstehen, und er nutzt sie. Das ist stets seine Stärke.
Noch in Frankfurt wird er sich klar, daß »Deutschland der beste Bundesgenosse ist, den Preußen finden kann«. Aber gerade darum gibt es für ihn »nichts Deutscheres, als gerade die Entwicklung richtig verstandener preußischer Partikularinteressen«.
Da beginnt die »Neue Aera«, die Wilhelm, seit Oktober 1858 Prinzregent für den geisteskranken Friedrich Wilhelm IV., hoffnungsvoll eröffnet. »In Deutschland muß Preußen moralische Eroberungen machen durch eine weise Gesetzgebung bei sich, durch Hebung aller sittlichen Elemente ... Die Welt muß wissen, daß Preußen überall das Recht zu schützen bereit ist.« Das ist, im Sinne des Philosophen Hegel, das Programm des Regenten. Bismarcks Programm ist es nicht. Wilhelms, des »Kartätschenprinzen«, in Wahrheit, auch nicht. Aber Bismarck macht sich nichts vor.
Bismarck war dem Regenten und noch mehr seiner Frau Augusta unheimlich, außerdem war er als Anhänger der Bajonett-Politik zu sehr verschrien. Bismarck mußte als Gesandter nach Petersburg, wo er die Mentalität seiner späteren treuesten Bundesgenossen kennenlernen konnte. Auch seine treuesten Feinde von später beehrt er noch als Gesandter in Paris.
Nur die »bitterste Not« seines Herrschers konnte Bismarck an die Macht bringen. Wilhelm, seit 1861 König, will die Armee reorganisieren. Das Abgeordnetenhaus soll die Mittel bewilligen. Die Kammer kommt dem Verlangen des Herrschers weit entgegen.
Da bricht über die Frage: zwei- oder dreijährige Dienstzeit der Konflikt aus. Dahinter steht das Problem: Soll die Armee, die neun Zehntel des gesamten bewilligungspflichtigen Etats beansprucht, von der Finanz-Kontrolle durch das Parlament ausgenommen werden Der König verlangt das. Die Abgeordneten können es beim besten Willen nicht zugestehen.
Schon will der König abdanken. Er kann keine Minister finden, die energisch genug wären, gegen den Willen des Parlaments mit ihm zu gehen. Da holt der Kriegsminister Albrecht von Roon seinen Freund, den Gesandten Otto von Bismarck, aus Paris herbei.
Ach, bewahre. Seit 1848 steht Bismarck praktisch auf jeder Ministerliste. In den Revolutionstagen lehnt ihn Friedrich Wilhelm IV. ab: »Nur zu gebrauchen, wenn das Bajonett schrankenlos waltet.« Zehn Jahre später weist der Prinzregent den Gedanken weit von sich: »Ich habe keine hohe Meinung von Bismarck«. Noch im März 1862 antwortet er dem Prinzen Hohenlohe, damaligem Ministerpräsidenten, als dieser wieder Bismarck vorschlägt: »Sie scherzen wohl? Ach, bewahre, der ist ja viel zu flatterhaft!« Am 22. September des gleichen Jahres muß er ihn berufen.
Bedingungslos tritt der neue Ministerpräsident und Außenminister sein Amt an. Seine ersten Kämpfe liefert er in der Kammer. Er bedient sich der Lücken-Theorie: Wenn zwei der gesetzgebenden Gewalten, nämlich König und Herrenhaus, übereinstimmen und die dritte, das Abgeordnetenhaus, sich versagt, dann klafft eine Lücke in der Verfassung. Dann kann die Regierung ohne Zustimmung des Abgeordnetenhauses den Haushalt verabschieden, da ja die Staatsmaschine weiterlaufen muß.
Eine sehr fragwürdige Theorie. Aber mit ihr hat Bismarck den Konflikt durchgehalten, bis ihm nach dem Siege über Oesterreich das Abgeordnetenhaus »Indemnität«, das ist nachträgliche Billigung, gewährte.
Bismarcks Taktik ist ebenso durchsichtig wie erfolgreich. Er verschärft den Konflikt zwischen Parlament und König, um sich unentbehrlich zu machen. Er provoziert das Parlament, um dem König zu zeigen, »wie man mit solchen Leuten umgeht«, damit der König nicht etwa Angst vor seiner eigenen Courage bekommt Die Presse rupft er unnachsichtig.
Am 30. September fällt in der Budgetkommission des Abgeordnetenhauses das erste der geflügelten und meist umstrittenen Bismarck-Worte: »Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht ... Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden - das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen - sondern durch Eisen und Blut.«
Selbst Roon ist verärgert. Durch »geistreiche Exkurse« dieser Art werde der guten Sache nicht gedient. Die liberale Kammer-Mehrheit, das liberale Deutschland sind empört. Denn so lautet doch seit 1848 der liberale Glaubenssatz: Preußen kann Deutschland moralisch erobern, wenn es sich durch liberale Politik würdig zur Führung des deutschen Volkes erweist.
Das Entsetzen der Liberalen ist aber nicht ganz von Pharisäertum frei. Aus den Anfängen des Nationalvereins, des Gesamtverbandes deutscher Liberaler von 1859, gibt es Stimmen, die durchaus mit Bismarcks »Blut und Eisen«-Deklamation konkurrieren können. »Davon ist jeder überzeugt, daß das Ziel - die deutsche Einigung - niemals auf friedlichem Wege durch Unterhandlungen, sondern nur durch die Waffen erreicht werden kann«, schreibt 1859 Viktor von Unruh. Er war 1848 Präsident des preußischen Revolutionsparlaments.
Jedenfalls, nach dem 30. September 1862 muß jeder wissen, wessen er sich von dem neuen preußischen Regierungschef zu versehen hat. Wenn er es nicht schon vorher wußte Denn Bismarck hat seit Jahren aus seinem künftigen Regierungsprogramm kein Geheimnis gemacht.
Er hat es noch in Frankfurt dem österreichischen Gesandten Grafen Rechberg gesagt: er wolle für Preußen die Vormacht in Deutschland erobern.
Er hat es der Petersburger Hofgesellschaft zugesteckt: er wolle Deutschland durch Preußen und durch die Eingliederung deutscher Gliedstaaten einigen.
Er hat es in London 1861 dem konservativen Parteichef Disraeli (Lord Beaconsfield) verraten erst werde er mit oder ohne Zustimmung des Abgeordnetenhauses die Heeresreform durchführen, dann einen Krieg mit Oesterreich herbeiführen, den Deutschen Bund sprengen, die Mittel- und Kleinstaaten unterwerfen und Deutschland unter Preußens Führung die nationale Einheit geben
Keiner hat es dem Offenherzigen glauben wollen. Nur Disraeli: »Take care of that man! He means what he says. - Hüten Sie sich vor dem Mann! Er meint, was er sagt.«
Grenzpfähle im Tornister. Folgerichtig beginnt der Ministerpräsident, den Oesterreichern alle Illusionen zu nehmen. Noch 1863 hält sich der österreichische Gesandte in Berlin für überzeugt, daß in einem für Oesterreich gefährlichen Kriege sich die beiden deutschen Großmächte unter allen Umständen als Verbündete wiederfinden würden. Bismarck ernüchtert ihn. Bei fortgesetzt unfreundlicher Haltung Oesterreichs sei ein Bündnis Preußens mit dessen Gegnern nicht ausgeschlossen. Auch das meint er so, wie er es sagt. »Nur keine sentimentalen Bündnisse.«
Als 1859 Oesterreich sein »Lombardo-Venezianisches Königreich« gegen Franzosen und Italiener verteidigen muß, will Bismarck »den Krieg Oesterreichs mit Frankreich sich scharf einfressen lassen und dann mit unsern ganzen Armeen nach Süden aufbrechen, die Grenzpfähle im Tornister mitnehmen und sie entweder am Bodensee oder da, wo das protestantische Bekenntnis aufhört vorzuwalten, wieder einschlagen«.
Fünf Jahre später läßt er zum erstenmal die preußischen Truppen marschieren. Es werden insgesamt drei Kriege für die kleindeutsche Einigung daraus Bismarck hat sie bewußt geführt.
Er hat es im Alter offen gestanden: »Ohne mich hätte es drei große Kriege nicht gegeben, wären 80000 Menschen nicht umgekommen, und Eltern, Brüder, Schwestern, Witwen trauerten nicht. Das habe ich indes mit Gott abgemacht.« Er hatte ein kraftvolles Gewissen, und Gott war ihm der Herr der Heerscharen.
Darum ist er doch nicht leichtfertig in die Kriege hineingestolpert, wenn auch bei einem Staatsmann des 19. Jahrhunderts der Kriegsentschluß unvergleichlich anders beurteilt werden muß als im Zeitalter der Atombombe. »Wehe dem Staatsmann, der sich in dieser Zeit nicht nach einem Grunde zum Kriege umsieht, der auch nach dem Kriege noch stichhaltig ist!«, beschwor er in den Olmütz-Tagen seine Parlamentskollegen.
Dreimal bringt es Bismarck fertig, Kriege im Herzen Europas zu lokalisieren. Dabei weisen schon beim ersten der Kriege, dem gegen Dänemark 1864, alle Zeichen auf einen großen gesamteuropäischen Konflikt.
Der Krieg um die Elbherzogtümer ist in Wahrheit schon ein Teil des Krieges gegen Oesterreich Keinen Augenblick vergißt Bismarck seine alte Bundestags-Taktik, Oesterreich auf deutschem Boden zu blamieren und seinem Ansehen zu schaden. Unter dauernden Pressionen auf den österreichischen Kaiser - »die konservativ-monarchischen Kräfte Europas müßten zusammenstehen« - bringt er Oesterreich dazu, mit Preußen gegen den Deutschen Bund Politik zu machen, in dem Oesterreich Präsidialmacht ist. Er bringt Oesterreich dazu, einen Beschluß des Bundes nicht auszuführen und sich in Gegensatz zur öffentlichen Meinung in Deutschland zu stellen, die Loslösung der Herzogtümer von Dänemark verlangt.
Seinem König und dem Parlament gegenüber tut Bismarck so, als halte er die dänischen Ansprüche auf Schleswig für berechtigt und als dürfe man eine revolutionäre Volksbewegung gegen eine legitime Gewalt nicht unterstützen.
Sein König sympathisierte mit dem Augustenburger Erbprinzen, der einer großen Mehrheit in beiden Provinzen sicher war. Seine Erbrechte wurden in allen deutschsprachigen Ländern anerkannt. Bismarck durfte also auch seinem König nicht sagen, was er seinem Vertrauten Robert von Keudell sagt: »Die up ewig Ungedeelten müssen einmal Preußen werden.«
Zum Schluß sind die Annexion der Elbherzogtümer und die Täuschung Oesterreichs mit einer derart vollendeten Perfidie und mit einer Mißachtung natürlicher Rechtsgrundsätze durchgeführt worden, daß Eyck sich äußerst milde ausdrückt, wenn er Bismarcks Verfahren eine »reine Macht- und Kabinettspolitik« nennt.
Aber mit Eyck muß man gestehen: »Wer Bismarcks Kampf um diese Zeit ... verfolgt, muß immer wieder staunen über seine geniale Meisterschaft: seine fast märchenhafte Gewandtheit, den unbegrenzten Reichtum seiner geistigen und dialektischen Hilfsmittel, seine unermüdliche Tätigkeit, seinen unerschütterlichen Mut und die Unbeirrbarkeit, mit der er sein Ziel nie aus den Augen verliert«.
Bismarck selbst gesteht intern: »Wenn ich nicht lügen soll, kann ich nicht fertig werden.« Und der englische »Spectator« schrieb 1866: »Die Politik dieses Mannes ist abscheulich, aber seine Ziele sind groß, seine Pläne zweckentsprechend und seine Fähigkeiten wunderbar.«
Waren aber das Bündnis mit Italien und die Abschirmung gegen das kompensationsfreudige Frankreich schon Meisterstücke - Bismarck winkt mit Gebieten um den Rhein herum, obwohl sein König von Napoleon III. absolut nichts wissen will - , so zeigen die Friedensverhandlungen nach Königgrätz den vollendeten Politiker, der jede überraschende Situation für sich ausnutzt, da er härter und schneller pokert. Während die Heere vorrücken, muß Bismarck mit dem Feind verhandeln, den Friedensvermittler Napoleon aus dem Spiel halten, die Militärs ducken und seinen König, der am Siegen Geschmack gewonnen hat, zur Mäßigung bringen.
Oesterreich braucht nur aus Deutschland auszuscheiden, nicht ein Quadratmeter Land wird ihm genommen. »Es war doch ein Friede des Maßhaltens und darum das Ergebnis wie das Zeichen hoher staatsmännischer Einsicht. Deswegen ist er stets mit Recht als einer der leuchtendsten Ruhmestitel Bismarcks gepriesen worden« (Eyck).
Die Zeche müssen die norddeutschen Klein- und Mittelstaaten bezahlen, die nicht bereit waren, bedingungslos mit den Preußen zu marschieren.
Kurhessen, Nassau, Frankfurt, das von den Besatzungstruppen mit Billigung Bismarcks skandalös behandelt wird, gehen reibungslos im preußischen Großstaat auf. Die Kasseler und Wiesbadener haben die Kleinstaaterei mehr als satt. Anders die Hannoveraner. Die Welfen-Fraktion im Reichstag hat dem Kanzler nach ihren bescheidenen Kräften heimzuzahlen versucht, und bis in diese Tage pflegen welfentreue niedersächsische Bauern ihre Hofköter mit dem Schimpfnamen »Bismarck« zu belegen.
Nach Königgrätz schwenken die Liberalen ein. Sehr schnell sogar. Sie können eigentlich auch nicht anders. Sie wissen: Die militärischen Erfolge werden unzählige Wähler ins Regierungslager locken. Außerdem: Kleindeutsch sind sie seit 1848, und der Abbau der Kleinstaaterei steht auf ihrem Programm.
Bismarck kommt ihnen jetzt entgegen. Er sucht - sehr gegen den Willen des Königs - um »Indemnität« nach. Sie wird ihm gewährt, mit fast allen Stimmen der Fortschrittspartei. Und viele der Abgeordneten, die sich noch vor kurzem für die ungesetzlichen Steuer-Erhebungen an Bismarcks Privatvermögen schadlos halten wollten, sagen Ja, als ihm das »dankbare Vaterland« eine Dotation von 400000 Talern zugesteht. Die Einverleibung Schleswig-Holsteins billigt der Sprecher der Liberalen unter Berufung »auf das ewige Recht der Zukunft des deutschen Volkes.«
Damit ist aber das Ende der alten Fortschrittspartei gekommen. Die Nationalliberale Partei spaltet sich ab. Sie wird Bismarcks beständigste parlamentarische Stütze. Der deutsche Liberalismus hat sich dem »Junker« gebeugt.
Aber nicht alle beugen vor dem Erfolg das Knie. Der junge August Bebel, der bisher auf dem äußersten linken Flügel der Liberalen gegen die Sozialisten Ferdinand Lassalles gestanden hat, schwenkt ab. Zu Wilhelm Liebknecht. Die Geschichte der Sozialistischen Arbeiterpartei beginnt.
Praktisch Bundesstaat. Seit dem Norddeutschen Bund zanken sich die Staats- und Verfassungsrechtler, ob das Bismarckreich mehr ein Staatenbund oder ein Bundesstaat gewesen sei. Der Gründer des Reichs hat beide Begriffe gründlich gegeneinander ausgespielt. In der Form werde man sich mehr an den Staatenbund halten, heißt es schon in seinen ersten Entwürfen für die Norddeutsche Verfassung. Diesem dann aber »praktisch die Natur des Bundesstaates geben«. In der Tat wurde das Reich, je länger es bestand, desto mehr zum Bundesstaat.
Träger des Bundescharakters ist in Bismarcks Reichsverfassung der Bundesrat. Wie sein zeitgenössischer Bonner Namensvetter kein Senat, sondern eine Versammlung von Regierungsvertretern, die an die Weisungen ihrer Regierungen gebunden sind. In Bismarcks Bundesrat bleibt das preußische Uebergewicht sorgfältig gewahrt.
Seinen Reichstag - er heißt schon im Norddeutschen Bunde so - beglückt Bismarck mit dem demokratischsten aller damaligen europäischen Wahlrechte, dem allgemeinen, gleichen, geheimen, direkten Wahlrecht.
Das preußische Dreiklassenwahlrecht hält er für das »widersinnigste und elendeste«. (Er hat es für Preußen nie abgeschafft.) Vom allgemeinen Wahlrecht hofft der Kanzler, der immer noch in ländlich-patriarchalischen Anschauungen befangen ist, es werde ihm stets eine konservative Mehrheit sichern. (Er hat sich schwer getäuscht.)
Trotz allgemeinen Wahlrechts »war dieser neue deutsche Konstitutionalismus freilich alles andere als Parlamentarismus« (Eyck). Es gibt nur einen verantwortlichen Minister, den Kanzler. Aber er ist nicht dem Parlament verantwortlich. Er wird allein durch den Träger der Krone berufen und entlassen. Auch Bismarck ist allein durch die Krone gestürzt worden.
Diese Verfassung hat ihren Schöpfer um fast dreißig Jahre überlebt, bis 1918.
Sprung über den Main. Praktisch ist Kleindeutschland mit dem Norddeutschen Bund geschaffen. Die offizielle Grenze ist der Main. Bismarck hat sich im Prager Frieden auf sie verpflichten müssen. Er durchlöchert sie sofort, durch die geheimen Schutz- und Trutzverträge mit den Süddeutschen.
Aber wird Oesterreich, wird vor allem Frankreich den tatsächlichen Sprung über den Main ohne Krieg hinnehmen? Napoleon verhandelt, mit Oesterreich, mit Italien. Mehr als eine moralische Bindung des Wiener Kaiserhofes erreicht er nicht. Und Italien versagt sich ihm völlig. Denn noch immer bewachen französische Soldaten die weltliche Macht des Papstes in Rom. Den Papst aber muß Napoleon bewachen, denn er braucht den französischen Klerus als Stütze. Es ist ein Wunder: Bismarck wird auch den dritten Krieg um seine Einigung Deutschlands nur nach einer Seite hin durchfechten müssen.
Ist der Krieg wirklich nicht zu vermeiden? Wenn Eyck recht hat, »heißt es die Dinge geradezu auf den Kopf stellen«, wenn man »von einem kriegslüsternen Frankreich im Frühjahr 1870 sprechen« will.
Aber: Im Februar verhandelt Erzherzog Albrecht in Paris über einen gemeinsamen französisch-österreichischen Operationsplan. Im Juni tut Napoleons General Lebrun dasselbe in Wien. Natürlich gegen Preußen.
Außerdem hat Napoleon schon wieder zwei außenpolitische Schlappen hinnehmen müssen: 1867 das mexikanische Fiasko, »sein« Kaiser Maximilian, Franz Jesephs Bruder, wird von Juarez öffentlich erschossen.
1869 läßt sich das winzige Grenzland Luxemburg trotz Bismarcks zeitweiligem Wohlwollen nicht annektieren. »Noch eine Niederlage kann nicht hingenommen werden«, droht Adolphe Thiers im Corps Législative, Frankreichs gesetzgebendem Körper.
Dann: »Die Entstehung eines an Volkszahl und Heereskraft überlegenen Nachbarstaates, dessen dauernde Friedfertigkeit den Franzosen doch niemand garantieren konnte, war schon sachlich geeignet, in ihrem Innern 'patriotische Beklemmungen' hervorzurufen«. So Eyck.
Trotzdem hält Eyck den Krieg für vermeidbar. »So kann man mit dem Grad von Sicherheit, der in solchen Fragen überhaupt erreichbar ist, sagen, daß Frankreich eine Einigung des deutschen Volkes nicht verhindert hätte, wenn das deutsche Volk selbst in allen seinen Teilen sie gewollt hätte«.
Nichts von solchen Hemmungen bei Meyer. »Frankreichs letzte Kriegsschuld ... liegt darin, daß es Preußen verbieten wollte, Deutschland zu einigen«. Das hat noch nicht einmal Bismarck zu sagen gewagt. »Die Deutschen zu einer Nation zu machen, war sein (Bismarcks) höchster Ehrgeiz. Diese Aufgabe war ohne das Schwert nicht zu lösen«.
Eine Falle. Der Krieg ist über der spanischen Thronfolgekandidatur des Erbprinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen ausgebrochen. Nach Eyck hat Bismarck die für Frankreich drohende Wiederkehr des Reiches Karls V. - »Drei Armeekorps für uns an der Pyrenäengrenze« - bewußt benutzt, um den Krieg zu entzünden. Er macht sich Lothar Buchers, des Reichskanzlers vertrautesten Mitarbeiters, Wort zu eigen: »Bismarck hat Napoleon eine Falle gestellt«.
Aber Eyck: »Die Meisterschaft, mit der er diese Falle gestellt hat, ist unvergleichlich... Wer die Geschichte nur unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet, muß Bismarck die höchste, uneingeschränkte Bewunderung zollen«.
Eyck belegt seine These mit Dokumenten. Aber er wählt einseitig aus. Er unterschlägt die Instruktion, die Bismarck im Februar 1869 an den preußischen Gesandten in München richtete und die für zahlreiche andere gleichartige Belege spricht: »Auch mir erscheint es wahrscheinlich, daß Deutschlands Einigung durch gewaltsame Ereignisse wird vorangetrieben werden müssen. Aber die Rolle dessen zu spielen, der eine Katastrophe absichtlich provoziert, oder die Verantwortung dafür zu übernehmen, daß der rechte Augenblick ergriffen wird, das sind zwei grundverschiedene Zumutungen.«
Die Welt ist jedenfalls 1870 nicht der Meinung, daß Bismarck den Krieg »absichtlich provoziert« hat. Im Gegenteil, die »Times« entrüstet sich für ganz Europa: »Das größte nationale Verbrechen, das wir seit den Tagen des Ersten Kaiserreichs in diesen Blättern zu verzeichnen die schmerzliche Pflicht hatten, ist begangen. Der Krieg ist erklärt - ein ungerechter, mit Vorbedacht herbeigeführter Krieg. Dies schreckliche Unglück hat Frankreich verschuldet, nein, ein Mann in Frankreich. Es ist die letzte Frucht des persönlichen Regiments.«
Wichtiger ist das Ergebnis. Eyck: »Von allen Kriegen des neunzehnten Jahrhunderts hat keiner auch nur entfernt eine so langdauernde und tiefgreifende Wirkung ausgeübt wie der deutsch-französische Krieg von 1870/71 ... Er hat eine Saat von Zwietracht und Haß gesät ... Zwei Weltkriege sind aus ihm hervorgegangen, und niemand kann sagen, wann Europa, wann die Welt den Frieden wiederfinden wird, der am 19: Juli 1870 zu Grabe getragen wurde«.
Eyck übertreibt hier, er übertreibt ungerechtfertigt. Er führt zwei Gründe an. Einmal wirft er dem Kanzler vor, das Reich begründet zu haben, ohne dem Reichstag irgendeinen Einfluß eingeräumt zu haben. Aber nicht der Reichstag, sondern die Armee des Königs von Preußen hatte den Sieg errungen.
Die Folge: Die Kaiseridee, für die auch die Liberalen schwärmten, wurde »ins »Höfisch-Militärische umgebogen«, »die preußische Militärmonarchie lebte unverändert und unverhüllt im neuen Deutschen Reich fort«.
Tatsächlich hat Bismarck die Einigung zwischen den Kabinetten der künftigen Bundesfürsten ausgehandelt. Mit allen Mitteln. Den widerstrebenden Bayernkönig Ludwig II. hat er bestochen. Mit einer Jahrespension von 100000 Talern aus dem »Welfenfonds«, dem sicherlich widerrechtlich zurückgehaltenen Privatvermögen des letzten Königs von Hannover. Die an sich gewünschte badische Pfalz konnte er dem schon halb geisteskranken Schwanenritter wirklich nicht verschaffen.
Eycks zweiter Grund für die angeblich verheerende Fernwirkung des deutschfranzösischen Krieges heißt: Bismarck wollte nicht annektieren, jedenfalls nicht so viel, vor allem Metz nicht. »Ich mag gar nicht so viele Franzosen in unserem Hause, die nicht drin sein wollen«. Er hat sich gebeugt, dem Generalstab vor allem und dem eroberungsfreudigen deutschen Bürger. ("Als Schutzmaßnahme gegen eine Nation, die seit 300 Jahren sich angewöhnt hatte, in unser Land einzufallen«.)
Eine peinliche, vielleicht eine schuldhafte Schwäche des gar nicht »eisernen« wohl aber sehr willensstarken Kanzlers. Aber darum verzerrt Eyck doch gewaltsam, wenn er meint: »Seit jenem Friedensschluß von Versailles haben sich die Völker des europäischen Kontinents unablässig bis an die Zähne bewaffnet gegenübergestanden, hat die Heeresverstärkung der einen Seite sofort die der anderen zur Folge gehabt. Wenn es auch noch vier Jahrzehnte dauerte, bis die Kanonen wieder sprachen, so haben doch die wachen Geister stets unter dem Gefühl der drohenden Katastrophe gestanden«.
Es hat eben noch vier Jahrzehnte gedauert. Das ist eine der längsten Friedenszeiten, von denen die europäische Geschichte zu berichten weiß. Der deutschfranzösische Krieg war Bismarck ein »notwendiger Abschluß«. Aber eben ein Abschluß. Er hat von da an nur noch für den Frieden gearbeitet. Das hat ihm in der Stunde seines Sturzes wohl am bemerkenswertesten der Pariser »Matin« bescheinigt: »Es war eine Art pax Germanica nach dem Vorbilde der pax Romana«.
Sein eigener Generalstab fürchtet seit 1875, Frankreich werde sich zu schnell erholen. Es gibt einflußreiche Stimmen, die dem durch einen neuen Krieg vorbeugen wollen. Bismarck wird einen Augenblick nervös. Er rasselt mit erheblicher Lautstärke. Dann räumt er die Kriegsgefahr aus: »Der Gedanke, einen Krieg zu führen, weil er vielleicht späterhin unvermeidlich ist und späterhin unter ungünstigeren Verhältnissen geführt werden muß, hat mir immer fern gelegen, und ich habe ihn immer bekämpft. Ich kann der göttlichen Vorsehung nicht so in die Karten sehen, daß ich das vorher wüßte«.
Trotzdem läßt ihn die Sorge vor dem »cauchemar des coalitions«, der antideutschen Koalition, später »Einkreisung« genannt, nicht los. Sein Gegenmittel: aktive Bündnispolitik. Ihr Ziel: »Nicht das irgendeines Ländererwerbs, sondern das einer politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen, und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden« (Kissinger Diktat, 1877).
Am Ende seiner Laufbahn steht sein Reich im Bündnis mit Oesterreich (seit 1879). Läuft der Dreibund mit Oesterreich und Italien. Ist unter seiner tätigen Mitwirkung 1887 die Mittelmeerentente zwischen England, Italien und Oesterreich zustande gekommen. Und hält noch der »direkte Draht« nach Rußland durch den Rückversicherungsvertrag von 1887.
Das Bündnis mit Rußland hat er 1862 geerbt. Auf dem Bündnis mit Rußland hat er seine ganze Reichsgründungspolitik aufgebaut. Die 300000 Russen, die Alexander II. notfalls an der österreichischen Grenze aufmarschieren lassen wollte, zwangen nicht zuletzt den Wiener Hof 1870 zum Stillhalten.
Nach 1870 gelingt es ihm noch einmal ein Dreikaiserabkommen zustande zu bringen. Das zweite wird sogar 1884 noch einmal um drei Jahre verlängert. Dann will Petersburg nicht mehr. Der russischösterreichische Balkangegensatz ist zu mächtig geworden. Da schließt Bismarck streng geheim hinter dem Rücken seines österreichischen Bundesgenossen den Rückversicherungsvertrag ab.
Wer Angreifer ist. Er ist der umstrittenste von Bismarcks Bündnisverträgen geworden. Im Vertrag mit Wien hat er Oesterreich die deutsche Hilfe versprochen, falls es von Rußland angegriffen werde. Im Vertrag mit Petersburg versichert er Rußland der deutschen Neutralität, falls Oesterreich es angreifen sollte.
Seinen eigenen Kommentar zu diesem Widerspruch hat er in zwei Sätzen gegeben. Auf eine österreichische Anfrage im Dezember 1887, ob Bismarck den Bündnisfall für gegeben halte, wenn Oesterreich durch Rußland provoziert, den Krieg erkläre, antwortete er: »Wer Angreifer ist, das wird eintretenden Falls von unserm Kaiser ehrlich erwogen werden«.
Der zweite Satz steht in der Reichstagsrede vom 6. Februar 1888: »Keine Großmacht kann auf die Dauer im Widerspruch mit den Interessen ihres eigenen Volkes an dem Wortlaut irgendeines Vertrages kleben«. Das ist das offene Bekenntnis zum Vertragsbruch aus Gründen der Staatsraison. Es sollte einst böse Schule machen.
Eyck bricht über den Rückversicherungsvertrag »vom völkerrechtlichen und moralischen Gesichtspunkt den Stab«. »Wie kann man weittragende Wirkungen von einem Vertrag erwarten, den zwei Kabinette im tiefsten Geheimnis abschließen, weil ihn das eine (das deutsche) vor seinem Bundesgenossen, das andere (das russische) vor seinem Volk ängstlich verborgen halten muß?«
Es bleibt nur eine Erklärung. Der Rückversicherungsvertrag hat für Bismarck nur den Wert einer Aushilfe gehabt. Er will den direkten Draht nach Petersburg halten, solange er nicht mit England abgeschlossen hat.
Zweimal hat er in London um ein Bündnis angefragt. Die erste aussichtsreiche Anfrage 1879 zieht er selbst wieder zurück, da inzwischen Petersburg einem neuen Dreikaiserabkommen zugestimmt hat. Auf das zweite direkte Angebot im März 1889 antwortet Lord Salisbury: »Lassen wir den Vorschlag auf dem Tisch liegen, ohne Ja oder Nein zu sagen«.
Weiter ist Bismarck in seiner Bündnispolitik nicht gekommen Seine Nachfolger haben den Draht nach Petersburg abgerissen. Er war schon fast nur noch ein Faden.
Im Grunde verfehlt. Ueber Bismarcks Außenpolitik sind sich die Gelehrten ziemlich einig. Es ist »Kabinettspolitik alten Stils«, aber zu bewundern. Ueber Bismarcks Innenpolitik tobt der Streit. Meyer findet sie nicht sehr glücklich. Eyck läßt kaum ein gutes Haar an ihr. Selbst den Kulturkampf hält er »im Grunde für verfehlt«, obwohl er gewisse Sympathien für Bismarcks Streit wider den Vatikan nur schlecht verbergen kann.
Das ist nicht verwunderlich. Es ist schließlich einer seiner liberalen Vorfahren, der Berliner Pathologie-Professor Rudolf Virchow, der den Namen erfand. »Es ist ein Kampf, der mit jedem Tag mehr den Charakter eines großen Kulturkampfes der Menschheit annimmt«, verkündete Virchow mit Pathos auf einer Parteiversammlung. Millionen deutscher Bürger stimmten ihm zu.
Als das Vatikanische Konzil am 18. Juli 1870 das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes annimmt, bleibt Bismarck verhältnismäßig gelassen. Wenige Monate später stürzt er sich mit einer Vehemenz ohnegleichen in den Kampf. Er zieht alle Register der Rhetorik. »Es handelt sich nicht um den Kampf einer evangelischen Dynastie gegen die katholische Kirche ... es handelt sich um den uralten Machtstreit zwischen Königtum und Priestertum«. Vorher hat er versucht, den Papst dazu zu bestimmen, die katholische Zentrumspartei auf die Politik des Kanzlers festzulegen.
Er will nichts von Nachgeben wissen. »Seien Sie außer Sorge: Nach Canossa gehen wir nicht, weder körperlich, noch geistig«.
Mit Hilfe seines neuen Kultusministers Adalbert Falk schafft er die geistliche Schulaufsicht ab. Der »Kanzelparagraph« droht mit Gefängnis für den »politischen Mißbrauch« der Predigt. Er führt die Zivilehe ein. Er läßt alle Jesuitenniederlassungen verbieten. Er läßt sich das Recht geben, jeden Jesuiten auszuweisen und widerspenstige Geistliche ihrer Staatsbürgerschaft zu berauben. Er schaltet den Staat in die Ausbildung und Anstellung der Geistlichen ein. Er läßt Bischöfe einsperren und Pfarreien verwaisen.
Dann bricht er den Kampf wieder ab. Die Kulturkampfgesetze werden nach und nach abgebaut. Am Ende verleiht der neue Papst Leo XIII. dem Fürsten Bismarck als erstem Protestanten die höchste vatikanische Auszeichnung, den Christusorden in Brillanten. Der Reichskanzler hat zum Zeichen der Versöhnung den Papst im deutsch-spanischen Streit um die Karolinen schiedsrichtern lassen.
Bismarck ist nach Canossa gegangen. Sein Hauptziel hat er nur sehr unvollkommen erreicht. Der Vatikan wird keineswegs immer und grundsätzlich auf seine politischen Parteigänger in Deutschland drücken, sich den Wünschen Bismarcks willfährig zu zeigen. Der Gefolgschaft der Zentrumspartei kann er auch nach dem Verzicht auf den Kulturkampf nicht sicher sein.
Dabei braucht er das Zentrum. Der Bruch mit den Nationalliberalen, die in den Jahren des Reichsfrühlings zu ihm standen und ihm halfen das Septennat, den unveränderlichen Heereshaushalt für sieben Jahre, durchzubringen, kündigt sich an.
Dabei haben ihm die Liberalen noch eben wacker geholfen, den »Kampf für Geistesfreiheit wider vatikanische Weltherrschaftsgelüste« durchzufechten. Aber sie haben sich damit den schlechtesten Dienst erwiesen. Wer Geistlichen die Rechtsgleichheit bestreitet und sie unter Gewissenszwang setzt, wird sich schwerlich noch liberal nennen dürfen.
An Bismarck zerbrochen. Ihrer Kurzsichtigkeit im Kulturkampf haben die Nationalliberalen gleich noch einen anderen selbstmörderischen Fehler hinzugefügt. Sie stimmen 1879 für das »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie«. Daß sie damit gegen ihr eigenes Programm, das »die Gleichheit vor dem Gesetz, die Freiheit des Worts und der Presse und die Freiheit des Zusammenschlusses Gleichgesinnter« verlangt, verstoßen, haben sie übersehen. Sie sind an ihrer eigenen Inkonsequenz mindestens so sehr kaputtgegangen wie am Fürsten Bismarck. Sie haben sich nicht wieder erholt.
»Wenn ich keine Kücken haben will, muß ich die Eier zerschlagen«, hat Bismarck seine Sozialistenvorlage begründet. Wieder ein bezeichnender Irrtum.
Jede neue Wahl sieht die Sozialdemokratie wachsen, obwohl ihre Presse und ihre Organisation zerschlagen sind und die Sozialistenjagd zu den Spezialaufgaben der Polizei gehört. 1884 wählen 550000 Deutsche sozialdemokratisch, 1887 sind es über 760000, 1890 über 1,4 Millionen. Als Bismarck gehen muß, haben es die Sozialdemokraten auf 35 Abgeordnete im Reichstag gebracht.
Eine »große Tat«. Bismarck will nicht nur im Negativen stecken bleiben. In der Botschaft vom 17. November 1881 läßt er seinen Kaiser verkünden, daß »die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde«. Die deutsche Sozialversicherung beginnt. Nach Eyck »eine große Tat, die in der Geschichte der sozialen Bestrebungen Epoche machte«.
Aber wieder hat sich Bismarck verrechnet. Die Sozialversicherung soll die »Versöhnung der Arbeiter mit dem Staat« bringen. Er glaubt sich einen Anspruch auf den Dank der Arbeiterschaft verdienen zu können. Aber dem Sozialistenfresser wissen die Arbeiter keinen Dank, selbst wenn er ihnen Krankenkassen und Altersrenten gibt.
Dazu ist Bismarck ein sehr einseitiger Sozialpolitiker. Er denkt nicht daran, die Arbeitsverhältnisse selbst zu verbessern. Gegen Sonntagsarbeit hat er nichts einzuwenden. Die Arbeit schulentlassener Jugendlicher nennt er segensreich. Man dürfe dem hungernden Arbeiter und der notleidenden Arbeiterwitwe die Gelegenheit zum Verdienen nicht einschränken. Wer anderer Ansicht sei, mache in »Humanitätsduselei«.
Bismarck ist nicht zu belehren. Auch nicht, als sein junger Kaiser Wilhelm II. sich stürmisch zum »König der Bettler« machen will und aktiven »Arbeiterschutz« verlangt. Es ist nur ein Stein, aber auch über diesen Stein ist der Kanzler gestolpert.
Die ganze Nacht gehaßt. Er hat seinen Teil zu dem bitteren Ende wahrlich selbst beigetragen. Seit 1871 hat er es sich angewöhnt, immer wieder viele Monate, einmal, 1877, sogar fast ein Jahr fern von Berlin auf seinen Riesengütern Varzin oder Friedrichsruh zu leben. Er ist nun Fürst und einer der größten deutschen Grundbesitzer geworden. Varzin in Hinterpommern hat er sich von der 1866er Dotation gekauft. Als ihm nach 1871 Wilhelm I. aus ehemaligem herzoglich lauenburgischem Domänenbesitz Friedrichsruh schenkt, kauft er noch 4300 Morgen Land und Wald hinzu.
Seine Gutsbesitzerinteressen vergißt er auch als Staatsmann nicht. Als 1878 die Holzzölle im Bundesrat behandelt werden, greift der Waldbesitzer Bismarck persönlich und gar nicht selbstlos in die Verhandlungen ein.
Seine lange Abwesenheit vom Amt begründet er mit seinen Krankheiten. Sicherlich ist er häufig krank, oder doch leidend. Aber er ist zum guten Teil selbst schuld daran. Er ißt zu viel, er trinkt zu viel. Die Aerzte sind machtlos, Frau Johanna steckt ihm heimlich zu, was sie ihm gerade verboten haben. Erst der grobe Bayer Schwenninger schafft eine vernünftige Aenderung.
Häufig klagt er über heftige Gesichtsschmerzen. Er läßt sich sogar in den achtziger Jahren einen mächtigen Vollbart stehen, um die schmerzenden Wangen zu schonen. In Wahrheit hat er nur Zahnschmerzen. Aber vor dem Zahnarzt hat er Angst, er geht nicht hin.
In dem riesenhaften Körper steckt ein überaus empfindsames Nervensystem. »Seine Reizbarkeit kann bis zur Unzurechnungsfähigkeit gehen«. Er brüllt wegen einer schlecht gestopften Pfeife.
Er klagt über Schlaflosigkeit. Dann hat er, wie er gesteht, »wieder die ganze Nacht gehaßt«, seine echten oder angeblichen Feinde, vorab die Kaiserin Augusta und die Kronprinzessin Viktoria, die spätere Kaiserin Friedrich. Er kann nicht verzeihen und vergessen.
Er wird immer reizbarer. Von dem bestrickenden Charme, von der bezaubernden Liebenswürdigkeit, mit der er in früheren Jahren fast im Plauderton hohe Politik machen konnte, ist nicht mehr viel übriggeblieben. Sein ihm treuergebener Rat Moritz Busch klagt: »Es ist kaum noch mit ihm umzugehen«.
Die Familie bekommt ihren Teil seiner Unleidlichkeit ab. Sein Sohn Herbert, den er mit allen Mitteln zu seinem Nachfolger machen will, muß auf die Ehe mit der von ihm leidenschaftlich geliebten Fürstin Elisabeth Carolath-Beuthen, einer geschiedenen Frau, verzichten. Der Kaiser selbst muß zu dem Zweck in die Enterbung des Bismarck-Sohnes willigen.
Niemals. Schon beginnt der alte Wilhelm, der Charakter-Mann, aufzuseufzen: Es ist nicht leicht, unter einem solchen Reichskanzler Kaiser zu sein. Aber er wird sich »niemals« von ihm trennen.
Der Sohn und Nachfolger, Friedrich III., kommt auch nicht dazu. Er stirbt nach 99 Regierungstagen.
Der Enkel wird den Kanzler entlassen, nach fast 28 Jahren im Dienst des Hauses Hohenzollern. »Ich war der Krone schuldig, mich von dem Manne zu trennen«, wird der maßlos eingebildete junge Monarch später sagen. »Der Lotse geht von Bord«, sagt die Welt.
Wenn Eyck recht hat, »mußte Bismarck gehen, weil er fertig war... Aber darum ist doch die Art, wie er gestürzt wurde, peinlich und abstoßend. Wenn alles bedacht und gesagt ist, bleibt übrig, daß ein unreifer junger Mann dem größten Staatsmann der Zeit die seidene Schnur schicken konnte, wie der Sultan einem ungetreuen Pascha«.
Bismarck hat seinen Sturz noch um acht Jahre überlebt. Aber er hat in den Ruhejahren seine Ruhe nicht gefunden. Jetzt hat er noch mehr Muße zu hassen. Alle zu hassen, von denen er meint, sie hätten ihm Böses getan.
Jetzt hat er Muße, sich feiern zu lassen. Die Deutschen kommen nach Friedrichsruh, mit Deputationen und Fahnen, mit Ergebenheitsadressen und Aufmärschen. Der Bismarck-Mythos beginnt. Als er am 30. Juli 1890 stirbt, dichtet ihm Theodor Fontane im Stil der Jahrhundertwende den Totengesang.
Nicht in Dom oder Fürstengruft,
er ruh' in Gottes freier Luft
draußen auf Berg und Halde,
noch besser, tief, tief im Walde
Widukind lädt ihn zu sich ein:
»Ein Sachse war er, drum ist er mein,
im Sachsenwald soll er begraben sein.«
Der Leib zerfällt, der Stein zerfällt,
aber der Sachsenwald, der hält,
und kommen nach dreitausend Jahren
Fremde hier des Weges gefahren
und sehen geborgen vorm Licht der Sonnen,
den Waldgrund in Efeu tief eingesponnen
und staunen der Schönheit und jauchzen froh,
so gebietet einer: »Lärm nicht so! -
Hier unten liegt Bismarck irgendwo.«
Früher, in den Jahren des Streites, hat Fontane auch böse Worte über ihn gesagt. Die sind jetzt vergessen. Auch der Dichter übt sich in der teutonischen Heldenverehrung, die das Gründer-Volk will.