»Auch einen Zuhälter retten«
SPIEGEL: Herr Böll, Sie haben sich stets für das westdeutsche Rettungsschiff »Cap Anamur« eingesetzt, das vor der Küste von Vietnam Flüchtlinge aufnimmt - und vor allem dafür, daß die Tätigkeit der »Cap Anamur« nicht behindert wird. Warum?
BÖLL: Das ist ganz einfach. Ich bin der Meinung, daß man Menschenleben retten soll, wo man sie retten kann. Und keine Institution, die Leben zu retten vermag, darf auf offener See Selektion betreiben. Das hieße ja, Menschen willkürlich zum Tode zu verurteilen.
SPIEGEL: Die Bundesrepublik hat ein Asylproblem. Meinen Sie, daß es für so ein engbegrenztes Land Grenzen der Aufnahmefähigkeit gibt?
BÖLL: Ich glaube, daß die Bundesrepublik ein so begrenztes Land nicht ist. Es kann nicht genug »Cap Anamurs« geben. Und was die Aufnahmefähigkeit der Bundesrepublik angeht: Angesichts der Tatsache, daß unsere Bevölkerung S.90 offenbar abnimmt, bin ich nicht nur für ein sehr liberales Einwanderungsgesetz, sondern auch für ein sehr liberales Einbürgerungsgesetz.
SPIEGEL: Das westdeutsche Asylrecht verbietet es, sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge aufzunehmen. Sollen die dennoch herein?
BÖLL: Ich bin dafür. Die Unterscheidung zwischen politischen Flüchtlingen und sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen ist doch eine Heuchelei.
SPIEGEL: Wieso Heuchelei?
BÖLL: Im Grunde ist doch die Wirtschaft eines Landes die Folge der Politik. Auch ein Wirtschaftsflüchtling ist also ein politischer Flüchtling. Man kann das eine nicht vom anderen trennen.
SPIEGEL: Unter den Vietnamflüchtlingen befinden sich auch Kriminelle, die mit der »Cap Anamur« nach Deutschland kommen. Sollte da Einhalt geboten werden?
BÖLL: Die paar Kriminellen stören mich nicht, überhaupt nicht. Wahrscheinlich sind auch ein paar Spitzel und Zuhälter darunter. Deren Gewerbe ist mir zwar fremd. Aber die stören mich auch nicht. Ich würde auch einen ertrinkenden Zuhälter retten. Ich würde sogar einen ertrinkenden Zuhältermillionär retten, weil ich mir nicht anmaßen kann, jemanden ertrinken zu lassen.
SPIEGEL: Könnte das nicht doch einmal für ein Aufnahmeland zu einem Problem werden, das in keinem Verhältnis mehr zur Rettung solcher Leute steht?
BÖLL: Die wahren Spitzel kommen sowieso bis ins Bundeskanzleramt. Die Kontrolle der wirklichen Fluchtmotive ist, glaube ich, fast unmöglich. Wenn Sie als Flüchtling vor einem Vernehmungsoffizier Ihres Aufnahmelandes stehen, werden Sie dem Mann doch immer das erzählen, was Ihnen das Bleiben ermöglicht. Und da tun Sie in meinen Augen nichts Unrechtes.
SPIEGEL: Würden Sie auch den vietnamesischen Bomberpiloten aus dem Wasser ziehen, der das Leben Hunderter oder gar Tausender seiner Mitmenschen im Vietnamkrieg zerstört hat?
BÖLL: Ich würde auch ihn herausziehen. Ich hätte sogar den Massenmörder Eichmann aus dem Wasser gezogen.
SPIEGEL: In der Hoffnung, daß er sein Leben ändert?
BÖLL: Nicht nur das. Selbst wenn ich wüßte, daß der Verbrecher Verbrecher bliebe, würde ich ihn herausziehen. Ich habe einen furchtbaren Schrecken, einen physischen, einen intellektuellen und einen metaphysischen Schrecken vor dem Wort Selektion.
SPIEGEL: Wenn Sie da an die Rampe von Auschwitz denken, so war das etwas anderes. Da wurden Menschen eingefangen und bewußt zur Ermordung ausersehen. Die »Cap Anamur« spürt Menschen auf, die sich selbst in eine bedrohliche Lage gebracht haben.
BÖLL: Wenn man den einen aus dem Wasser zieht und den anderen nicht, betreibt man Selektion. Es gibt für mich den Menschgewordenen. Und weil der den Menschen, jeden Menschen, ernst nimmt in all seinen Dimensionen, muß ich das auch tun.
SPIEGEL: Um das nachzuvollziehen, müßte man ein gläubiger Christ sein.
BÖLL: Ich meine, das kann man auch als Atheist begreifen. Vergessen Sie nicht, die Kriminalität ist eine Dimension des Menschlichen. Ich bin auch kriminell. Ich bin ein potentieller Krimineller. Sonst können Sie gar keine Romane schreiben, wenn Sie nicht potentiell kriminell sind. Und deshalb, weil ich potentiell nicht besser als andere bin, kann ich mir nicht anmaßen zu sagen: S.92 Du kommst an Bord, aber du da bist ein Schurke, ersauf.
SPIEGEL: Ihr kompromißloses Eintreten für die »Cap Anamur« wird Ihnen von rechts wie links übelgenommen. Das Schiff rettet Menschen, so wird argumentiert, die besser zu Hause am Aufbau ihres Landes mitgewirkt hätten.
BÖLL: Diese Flüchtlinge sind doch, wie auch alle andern Asylsuchenden, verhinderte Auswanderer. Die wählen diesen verzweifelten Fluchtweg doch nur, weil ihr Staat sie an dem Menschenrecht der Auswanderung hindert.
SPIEGEL: Gibt es aus Ihrer Sicht Flüchtlinge, die hätten bleiben müssen?
BÖLL: Ich möchte niemanden dazu verpflichten oder verdammen, am Aufbau eines Landes teilzunehmen, wenn er keine Lust dazu hat. Es gibt Leute, die wollen weg. Und ich hole sie raus, weil sie woanders leben wollen.
SPIEGEL: Darf ein Arzt aus Da Nang angesichts des Ärztemangels dort ohne weiteres seine Patienten im Stich lassen, die ihn dringend brauchen?
BÖLL: Gibt's das?
SPIEGEL: Das gibt es. Es fliehen auch Ingenieure, Chemiker, Lehrer, Architekten.
BÖLL: Ich muß gestehen, ich schwanke nur bei Ärzten. Ich würde auch bei Priestern schwanken. Aber die bleiben fast alle da.
SPIEGEL: Ein Ingenieur oder Architekt wird möglicherweise genauso dringend gebraucht wie ein Arzt oder Priester. Kann Auswanderung im Einzelfall unmoralisch sein?
BÖLL: Das kommt darauf an, welchen moralischen Maßstab ich anlege. Das ist eine sehr persönliche Entscheidung. Auch ein Arzt kann Gründe genug haben wegzugehen, weil er zum Beispiel zu Maßnahmen gezwungen wird, die er nicht verantworten kann. Oder wenn er in einem politischen System einem sinnlosen und überflüssigen Druck ausgesetzt ist, der gegen seine eigene Überzeugung ist und ihm das Leben zur Hölle macht. Ich kann es keinem verübeln, wenn er in dem heutigen Vietnam nicht leben will.
SPIEGEL: Manche, die zu Zeiten des Vietnamkrieges gegen die amerikanische Politik und für einen sozialistischen Aufbau Vietnams demonstriert haben, empfinden die »Cap Anamur« als Provokation, als Art Symbol für erneute Demontage und Diskriminierung dieses Landes.
BÖLL: Ich sehe darin keinen Widerspruch, damals gegen den Vietnamkrieg gewesen zu sein und heute Vietnamflüchtlingen zu helfen. Viele dieser Flüchtlinge verlassen ihr Land ja nicht leichtfertig, sondern erst nach schwierigen moralischen und intellektuellen Prozessen. Die haben einfach die Hoffnung verloren, daß da noch etwas zu machen ist. Insofern schafft Vietnam sich seinen Flüchtlingsstrom selber.
SPIEGEL: Die »Cap Anamur« spielt nach Meinung mancher Kritiker eine verhängnisvolle Rolle: Das Schiff lockt, sagen sie, überhaupt erst den Flüchtlingsstrom aufs Meer.
BÖLL: Die These ist doch vollkommen irrsinnig, wenn Sie die Umstände bedenken, unter denen die Leute dort fliehen, meist ohne Kompaß auf ein riesiges Meer, und wie wenig in Wirklichkeit von der »Cap Anamur« in Vietnam bekannt ist. Kaum einer kennt sie dort.
SPIEGEL: Wenn Sie selber als Vietnamese in Vietnam wohnten, würden Sie aufs Meer gehen?
BÖLL: Ich wäre zu feige. Das wäre mir zu riskant, muß ich ehrlich sagen. Ich würde wahrscheinlich angesichts der Lage dort, vor allem angesichts der dort herrschenden Korruption, in Apathie verfallen und Opium rauchen, wenn ich es bekäme. Wahrscheinlich.