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RECHT Auf dem Kopf

Dreißig Jahre mußte ein zu Unrecht enteigneter Bürger prozessieren, bis er in höchster Instanz gewann - Musterfall für den Machtmißbrauch von Bürokraten.
aus DER SPIEGEL 26/1980

Der höheren Sache wegen, »aus Gründen des Allgemeinwohls«, wurde der Landwirt Erich Winkelmann enteignet. Zwei seiner Grundstücke mußte er, zum Nutzen einer geplanten Umgehungsstraße, gegen eine Entschädigung von 6807,55 Mark an die Ruhrstadt Witten abgeben.

Das Opfer für die Allgemeinheit war dann zwar vergebens; die Straße wurde nie gebaut. Aber 30 Jahre dauerte es, bis der Bürger Winkelmann sein Land wiederbekam -- und auch das nur, weil die höchsten deutschen Richter sich seiner annahmen.

Jetzt erst entschied endgültig der Karlsruher Bundesgerichtshof (BGH) in dem seit 1950 anhängigen Streitfall, daß die enteigneten Grundstücke zurückgegeben werden müssen, zum Preis von damals -- und nicht, wie die Stadtverwalter in Witten es sich so gedacht hatten, zum Zwanzigfachen.

Winkelmanns dreißigjähriger Krieg belegt beispielhaft, wie hoffnungslos es für den Normalbürger aussieht, wenn Bürokraten und Juristen gegen ihn koalieren, es sei denn, sie sind so zäh und so flüssig wie eben Winkelmann. Sieben hohe und höchste Gerichtsinstanzen mußten sich mit der Sache abmühen, bis schließlich feststand, was dem juristisch Unverbildeten nur recht und billig erscheint. Denn daß die Enteignung überflüssig war, hatte sich bald herausgestellt.

»Der Plan zum Ausbau der Straße«, so nun der BGH, »wurde spätestens 1957 aufgegeben« -- vor 23 Jahren. Und die Rückgabe an den ehemaligen Eigentümer war nicht nur eine Frage von Moral, sondern auch verfassungsrechtlich geboten.

Mindestens für gutwillige Deuter des Artikels 14 des Grundgesetzes, der eine Enteignung nur im Ausnahmefall gestattet, lag die Schlußfolgerung nahe, daß einer sein Eigentum zurückerhalten muß, wenn das so privilegierte Gemeinschaftsprojekt gar nicht verwirklicht wird. Die beteiligten Verwaltungsjuristen jedoch lehnten allesamt eine Rückgabe der Winkelmannschen Grundstücke ab, und sie hielten dabei sogar die Fahne der Eigentumsgarantie ganz hoch.

Das Prinzip wurde auf den Kopf gestellt: Nunmehr, so die Verwaltungsrichter aller Instanzen, habe die Stadt Witten den Schutz des Grundgesetzes zu beanspruchen. Denn Eigentümer sei infolge der Enteignung ja nicht mehr Winkelmann, sondern die Stadt. Eine »Rückenteignung«, entschied 1967 auch das Berliner Bundesverwaltungsgericht, sehe das Grundgesetz bedauerlicherweise nicht vor.

Zum Glück für Winkelmann fand das Bundesverfassungsgericht heraus, daß alle Vorderrichter die Grundrechte wie die Denkgesetze vergewaltigt hatten -- zum Unglück für Winkelmann kam diese höchstrichterliche Erkenntnis erst 1974, sieben Jahre nach dem Berliner Fehlurteil.

Die Verfassungsrichter gaben es den Kollegen barsch und bündig: Der von den Vorinstanzen verwendete »Begriff der Rückenteignung verdeckt die maßgebliche Fragestellung«. Enteignet werden könne nur der Bürger, nicht der Staat; der Begriff bedeute, daß die öffentliche Hand »auf Vermögen zugreift, das ihr nicht gehört«. Und mithin könne »die durch die Enteignung begünstigte öffentliche Hand«, also die Stadt Witten, »sich gegenüber dem enteigneten Bürger nicht auf die Eigentumsgarantie berufen«.

Es gehe darum, so formulierten die Verfassungshüter noch einmal Selbstverständliches, »ob der betroffene Grundstückseigentümer ein Recht auf Rückübereignung des enteigneten Objekts hat, wenn das Unternehmen, zu dessen Zweck enteignet wurde, nicht durchgeführt worden ist oder sich nachträglich herausstellt, daß das Grundstück für das Unternehmen nicht benötigt wird«.

Dem Bauern Winkelmann aber half dieses Urteil, so eindeutig es auch war, zunächst mal gar nichts. Einmal dauerte es immer noch knapp zwei Jahre, bis sich der zuständige Regierungspräsident als Enteignungskommissar bequemte, die Rückübertragung zu verfügen, und dann demonstrierten die Stadtverwalter von Witten, was einem Bürger geschieht, der es wagt, sie zu verklagen und auch noch zu gewinnen: Sie ließen eine neue Prozeßserie anlaufen.

Als ob es die Karlsruher Lektion über den Sinn von Enteignungen nie gegeben hätte, gebärdete sich die Stadt nun als enteigneter Grundstückseigentümer, der seinerseits eine satte Entschädigung zu beanspruchen habe. Der Stadtdirektor forderte im Klagewege eine Summe, die »auf den jetzigen Wert der Grundstücke abgestellt« sei: 135 170 Mark.

Mit diesem aberwitzigen Anspruch ging Witten noch einmal durch alle Gerichtsinstanzen -- und fiel diesmal überall durch. Wie schon das Bundesverfassungsgericht belehrte schließlich auch der BGH die Stadtjuristen: »Die hier vorzunehmende Rückgewähr des entzogenen Grundstückes ist keine 'echte' Enteignung im Sinne des Artikels 14« des Grundgesetzes. Die Stadt habe deshalb, anders als ein enteigneter Bürger, keinen Anspruch auf das »volle Äquivalent für das ihr Genommene«. Und das Ziel, den betroffenen Eigentümer in seine alte Rechtsposition zu versetzen, werde »grundsätzlich verfehlt«, wenn ihm »angesonnen würde, die entzogene Sache zu einem Preis zurückzuerwerben, der alle nach dem Enteignungsakt eingetretenen Preiserhöhungen einschließt«.

Am Ausgang des Verfahrens war nach dem Grundsatzurteil des Verfassungsgerichts nicht mehr zu zweifeln. Ein Bürger, der gleichwohl die Geduld der Gerichte noch einmal so arg strapaziert hätte wie die Stadtherren, wäre als Querulant bewertet worden.

Jedenfalls hätte er den verlorenen Prozeß bezahlen müssen. Die dreijährigen Rechtshändel der Wittener Verwalter bezahlt der Steuerzahler.

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