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SPRENGSCHÄCHTE Auf dem Pulverfaß

aus DER SPIEGEL 36/1965

Herrmann Franck, SPD-Bürgermeister des Zonengrenzstädtchens Lauenburg an der Elbe, war einem Rätsel auf der Spur. Er wollte wissen, wozu rings um Lauenburg tiefe Löcher in die Straßen gebohrt werden.

Der Bürgermeister fragte sich, da die Bohrleute schwiegen, den Instanzenweg hoch bis ins Kieler Innenministerium: Die für ihn zuständige Kommunalabteilung wußte von nichts. Und Innenminister Schlegelberger hatte ebensowenig eine Ahnung wie der Ministerpräsident Lemke.

Inzwischen kam die Rendsburger »Arbeitsgemeinschaft Schachtbau-Nord« mit ihrem Bohrgerät flott voran. In den Bundesstraßen 5 (Lauenburg - Hamburg) und 209 (Lauenburg - Schwarzenbek) sowie in den beiden Landstraßen nach Büchen und Gülzow entstanden Schächte von 60 bis 80 Zentimeter Durchmesser und Tiefen zwischen 1,20 und sechs Meter. Sie wurden ausbetoniert und mit einem gußeisernen Deckel verschlossen.

Am vorletzten Freitag endlich, nach zwei Wochen vergeblicher Nachforschungen, bekam der Bürgermeister Franck vom Zivilverteidigungsreferenten im Kieler Innenministerium die Auskunft, es handele sich um Sprengschächte:. »eine Routinesache«, die der Vorbeugung diene und »nichts Besonderes zu besagen« habe. Der Bohrauftrag sei »von der Nato« gekommen.

Aber die Unruhe im Zonengrenzkreis Lauenburg, durch Straßensperrungen schon entfacht, breitete sich weiter aus. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Fritz Sänger verkündete auf einer Wahlversammlung, entgegen allen Dementis der Bundesregierung habe es doch einen »Atomminenplan« für das Zonengrenzgebiet gegeben.

Die Heimatblätter brachten Photos vom Bohrbetrieb. Die »Bergedorfer Zeitung« konstatierte: »Atomminengürtel geplant - Bevölkerung belogen.« Und auch dem Bürgermeister Franck saß die Atom-Angst im Nacken. Franck: »Da brauche ich doch nur die ,Truppenpraxis' vom Juni aufzuschlagen und weiß, daß die Atomminenpläne nicht zur Seite gelegt worden sind.«

Der Kommunalpolitiker bezog sich auf eine amerikanische Studie, die in Heft 6/1965 der offiziösen Militärzeitschrift ohne Kommentar veröffentlicht worden war und in der die Vorzüge atomarer Trichtersprengungen in Grenzgebieten dargelegt werden.

Darin heißt es unter anderem: In Westeuropa zwingt das Vorhandensein mehrerer in Ost-West-Richtung verlaufender Einfallstraßen, die Nato-Staaten zur Unterhaltung starker Sicherungskräfte. Hier könnte durch Anlage von Sprengschächten im Zuge einiger dieser Einfallstraßen einer potentiellen Invasion wirksam begegnet werden.«

Und weiter: Wenn man die Zivilbewohner über die Vorteile der atomaren Trichtersprengung unterrichte. »sollte es doch denkbar sein, sie auch von der Notwendigkeit derartiger Maßnahmen zu überzeugen«.

Angesichts so massiver Indizien zog Schleswig-Holsteins Regierungschef Lemke selbst aus, am Montag letzter Woche in Lauenburg das aufgeschreckte Wählervolk an der Grenze zu beschwichtigen: Von Atomminen könne die Rede nicht sein. Es handele sich um »konventionelle Sprengschächte«. Allerdings sei »unnötige Geheimniskrämerei« getrieben worden.

Den Bürgermeister Franck überzeugte das nicht. Er beschwor nach Lemkes Abreise vor der Lokalpresse die Stunde X: »Wir sitzen wie auf dem Pulverfaß. An der Elbbrücke sind bereits Sprengkammern angebracht. Nun werden alle vier von Lauenburg fortführenden Straßen unterminiert. Wie sollen wir im Ernstfall aus diesem Sack herauskommen - im Osten die Zonengrenze, im Süden die Elbe und im Norden und Westen gesprengte Straßen? Wir können ja nicht einmal alarmiert werden; im ganzen Kreis Lauenburg gibt es noch keine Luftschutzsirene.«

Zwei Tage nach Lemkes Besänftigungsversuch geriet das Atom-Thema, bis dahin nur auf Lokalseiten behandelt, auf die Frontseite der »Lübecker Nachrichten«. Da mischte sich auch Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel, gerade zum Wahlkampf in die Heimat gezogen, in die Debatte ein.

Er verteidigte die von seinem Parteifreund Lemke gerügte »Geheimniskrämerei": Aus Sicherheitsgründen sei es besser, solche Arbeiten »geräuschlos vorzunehmen. Der SPD-Abgeordnete Sänger habe gelogen: Es gebe keinen Atomminenplan. Hassels Beweis: Eine Atommine sei so groß wie ein Schreibtisch und bedürfe »keiner Löcher, keiner Kammern, keiner Vorbereitungen«; sie würde auf der Erdoberfläche gezündet.

Der Verteidigungsminister widersprach damit freilich den in der »Truppenpraxis« publizierten Erkenntnissen. Dort wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, daß für atomare Trichtersprengungen die Anlage von Bohrlöchern erforderlich ist und daß diese Bohrlöcher keineswegs schreibtischschluckendes Format, sondern Durchmesser von lediglich 20 bis 90 Zentimeter zu haben brauchen.

24 Stunden nach Hassels Erklärung, am Donnerstag letzter Woche, ließ Ministerpräsident Lemke erkennen, daß ihn die Ansicht des Ministers über Geheimhaltung verdrossen hatte: Er ordnete an, daß die Landesstraßenbauverwaltung künftig bei Sprenglochbohrungen ihn und den Innenminister zu informieren habe und nicht, wie bisher, allein die nachgeordneten Straßenbehörden.

Denn bei den Nachforschungen, wie es zu der Lauenburger Informations-Panne kommen konnte, war herausgekommen, daß Bürgermeister Franck sich das Rätselraten und der Bevölkerung die Aufregung hätte ersparen können, wenn er nicht bis zum ahnungslosen Ministerpräsidenten vorgedrungen wäre. Der Auftraggeber der Bohrung und damit die gewünschte Information waren leicht zu finden.

Franck hätte lediglich einen Straßenwärter um Auskunft anzugehen brauchen.

Sprengschacht bei Lauenburg: »Wie sollen wir im Ernstfall...

Sprengbohrung bei Lauenburg

... aus dem Sack kommen«

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