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»Auf deutsch gesagt: gestrauchelt«

Von Marie-Luise Scherer
aus DER SPIEGEL 49/1979

Sieberts haben einen Sohn, der ihnen Ehre macht, und einen, der für den Vater »auf deutsch gesagt: gestrauchelt ist«. Als eine erträgliche Balance können Sieberts das nicht empfinden. Herr Siebert hat als Kabelverleger in Postschächten angefangen und wurde dann Beamter im Telegraphenamt.

Sein durch diese Steigerung angehobenes Selbstgefübl und das Behagen an seinem Ältesten, der Medizin studiert, sind versickert in dem Kummer um Manfred. Manfred, der Manni genannt wird und in den Erzählungen seiner Mutter »mein Jenner« beißt, ist heroinsüchtig.

Sieberts wohnen jetzt im Kadettenweg in Berlin-Lichterfelde. Aus der Afrikanischen Straße im Wedding sind sie weggezogen, weil sie sich wegen Manni schämten. Anfang der Siebziger, sagt der Vater, gab?s ja noch kein Massensterben in den U-Bahn-Toiletten, da stand noch nicht der Tote des Tages in der BZ.

Manni, fanden seine Eltern, war als Schande einzig. »Herr Siebert«, haben welche aus dem Haus gesagt, »so »n Neubau hat Ohren, wie wär?s denn mit Dämmplatten?« Der Manni, sagt Siebert, hat ja infernalisch kotzen müssen. Der ist laut gestorben; und damit er nicht wegmacht, haben wir die Feuerwehr gerufen. Und die Feuerwehr hat sich ihre Wichtigkeit auch nicht nehmen lassen. Die machte aus dem Retten eine Veranstaltung, welche Zuschauer anzieht, damit sie die vertreiben kann.

Wenn der Manni die Etagen runtergetragen wurde, waren die Wohnungstüren schon um jenen Spalt geöffnet, den das eingeklinkte zweite oder dritte Glied der Sicherungskette noch so diskret macht wie ein Astloch.

Einmal, als die Trage auf die Schiene des Feuerwehrwagens gesetzt wurde, schrie jemand aus einem unerleuchteten Parterrefenster:. »Schade um jede Mark, die der Staat für deine Erhaltung ausgibt!«

Frau Siebert glaubte, die Katastrophe sei ihr auf die Stirn geschrieben. Sie fühlte sich immer zwischen einem Spalier aus Blicken. Sie geriet in einen Beziehungswahn, in dem jedes Wort, welches die Kassiererin von Bolle mit einer Kundin wechselte, von Manni handelte. Frau Siebert mied dann die angestammten Läden in den umliegenden Blocks. Für ein Brot fuhr sie schließlich zwei Stationen mit der U-Bahn.

Einer von Frau Sieberts Brüdern ist mit zwanzig in Rußland gefallen. Ihre Mutter habe dessen Sterben bildlich immer vor sich gehabt. Sie habe Jahre später plötzlich beim Sonntagskaffee noch geweint, weil sie den Jungen liegen sah. Damals sind aber viele so geendet, sagt Frau Siebert, das war ja Krieg für alle, Das waren Mütter von Soldaten, was für Frau Siebert ein schuldfreies Unglück ist. Es ist ein Unglück, mit dem Frau Siebert manchmal würde tauschen wollen, obwohl Manfred Siebert nicht gestorben ist, sondern über sieben Jahre dem Tod nur öfters nahe war.

Für Frau Siebert ist die Tatsache, daß der Große was wurde und Manni sich jede Mark in den Arm gejagt hat, ausschließlich den Großen betreffend höhere Bestimmung. Während sie bei Manni jedes seiner Lebensjahre gedanklich abgeht, um ihren Anteil Schuld darin zu finden.

Sie nimmt sich übel, bei seiner Geburt die Lachgasmaske benützt zu haben, die ihr, obwohl sie nicht darum gebeten hatte, im Kreißsaal in ihre Kajüte geschoben worden war. Sie habe auf den Manni zu lange warten müssen, der dann durch Sauerstoffmangel blau gescheckt zur Welt gekommen sei. Und danach war sie außerstande, ihn stillend satt zu kriegen. Bei dem Großen, sagt sie, war das Stillen nicht so dürftig.

Frau Siebert war hochschwanger mit ihrem zweiten Kind, als der Familie 1955 eine Zweizimmerwohnung in Berlin-Wedding zugewiesen wurde. Für sie sei es normal gewesen, nicht mehr zu wollen. Sieberts machten aus ihren zwei Zimmern eigentlich drei Zimmer, indem die Eltern auf einer ausziehbaren Couch im Wohnzimmer schliefen und tagsüber das Bettzeug im Kinderzimmer verstauten.

»Wir haben für Kinder zu klein gewohnt«, sagt Frau Siebert, »wir waren ja immer am Bettenbauen.« Sie selber gibt sich keine Gnade in dieser Beengtheit. Sie sieht nur nachträglich, was dem Manni gefehlt haben könnte. Und was dem fehlte, sei dem Großen ein Antrieb geworden, habe dessen Willen geschaffen.

Das Selbstverständnis der Sieberts, welches an keinem Ende selbstherrlich war, wurde durch die Heroinsucht des Sohnes Manfred so erschüttert, daß auch die gut verlaufenen Jahre nachträglich nicht mehr stimmten. Sieberts waren ihren eigenen Fahndungen aufs schärfste ausgesetzt.

Sie habe ihre Kinder in Sauberkeit erzogen und jeden Fussel aufgebürstet, sagt Frau Siebert. Freitags, wenn sie gründlich putzte, scheuchte sie den

Zeichnungen: Edda Köchel.

Manni von seiner Eisenbahn hoch und bestand darauf, daß er sie abbaut. Das tut ihr heute weh.

Natürlich spielte sich diese Kindheit auch auf dem Fußabtreter ab. In den täglich zu wischenden, vielfach genutzten kleinen Zimmern hat Frau Siebert geordnete Verhältnisse vorgeführt. Das stellte keine besondere Tugend dar, sondern nur die erfüllte Erwartung an eine Frau, die etwas taugt.

Herr Siebert sagt: »Was wir sozial darstellen, haben wir das Kindergroßziehen ja gar nicht gelernt.« Sieberts haben keine Fibeln studiert, die von dem Vergehen gegen das frühkindliche Gedeihen handeln. Erst nachdem der Manni in Schuhen auf dem Bett döste und Haschzigaretten rauchte, schnappten auch Sieberts nach den grassierenden Vokabeln der Psychologie.

»Bei meinem Jenner«, sagt Frau Siebert, »ging eine Persönlichkeitsentfaltung los, die kritisch war.« In seinen ersten sechs Lebensjahren war Manfred Siebert nach den Worten der Mutter ein piepsiges Kind. Um seinen Appetit zu wecken, hat ihm der Hausarzt Höhensonne gegeben und eine Verschickung nach Holland veranlaßt. Als das Kind aus Holland wiederkam, aß es maßlos. Es aß wie ein Insasse, der nicht mehr unter Rationierung steht. Von einer ganzen Hand Bananen ließ es keine übrig.

Die anfängliche Genugtuung der Mutter über dieses wölfische Zulangen ihres Jenner schlug um in Befremdung. Sie ermahnte ihn, wenigstens bei Leckerbissen auch an den Bruder zu denken.

Dann ging der Manni plötzlich auseinander. Herr Siebert sagt: »Er wurde fett.« Er brauchte Übergrößen in der Kleidung. Die Schulärztin sagte, er müsse 20 Pfund abnehmen. Sieberts Hausarzt verschrieb Appetitzügler. Manni war acht, als er mit diesen Kapseln anfing. Er schluckte täglich eine, bis er elf wurde. Während dieser Zeit, sagt Frau Siebert, sei er richtig fiddelig gewesen, womit sie seine Nervosität bezeichnet. Mit zwölf dann habe Manni sich gestreckt.

Frau Siebert betont die Hilfsbereitschaft ihres jüngsten Sohnes. Alles, was er nicht tun mußte, habe er gerne getan. Er stand mit ihr in der Küche und kochte. Er wusch auch ab, weil sie ihn diesbezüglich nie herangezogen hat. Der Vater sagt: »Er war ein guter Sohn für Mütter.«

In den zwei Jahren, in denen er neben der Realschule noch den Konfirmandenunterricht besuchte, besorgte Manfred Siebert zusätzlich zwei Kohlenstellen. Über die Kirche hatte er die Adressen zweier gehuntüchtiger Rentnerinnen, schleppte denen die Kohlen hoch und kaufte für sie ein. Dafür bekam er jeweils zwanzig Mark im Monat. Von zu Hause bezog er fünf Mark Taschengeld.

»Wir hatten damals keine Kontrolle mehr«, sagt die Mutter, »der hatte zuviel Geld.« Kino habe nur eine Mark gekostet. Bei seiner Einsegnung, Manni war 15, kamen 1500 Mark an Geldgeschenken zusammen. Davon kaufte er sich einen Kassettenrecorder und einen Fernseher. Einen Plattenspieler hatte er schon. Diese, sein Vermögen darstellenden Gegenstände versetzte er ein Jahr später für Heroin.

Manfred Siebert gehörte schon lange der Haschisch-Clique seiner Schulklasse an, als die Mutter noch versuchte, ihm das gewöhnliche Rauchen zu verbieten, es ihm als schädlich auszureden. Wenn er aus der Schule kam, habe sie ihn immer ein bißchen zu nahe begrüßt, um in seinen Haaren zu riechen.

Das muß ihm aufgefallen sein, denn bei Sieberts muß für das Schmusen mehr Anlaß sein. »Unsereins«, sagt Frau Siebert, »hält Nachtwache, wenn einer über 38 Fieber hat, aber wir gehn uns nicht ständig an die Pelle.«

Während der Einsegnung, wo alles hoch herging, haben sich Sieberts prostend sagen lassen: »Jetzt laßt den Manni man rauchen, die Sorte raucht ja sowieso.« Als der Manni von da an offiziell rauchen durfte und manchmal abwesend bis taumelnd aus der Schule kam, sagte sich Frau Siebert »der ist doch high!«, ohne entfernt zu wissen, Haaren gerochen, sondern dem Manni gesagt: »Hauch mich mal an!« Und der habe sie mit einer Bierfahne beruhigen können.

Manfred Siebert gestand später seiner Mutter, immer zum Heimgehen eine Büchse Bier gekippt zu haben, damit sie das Haschisch nicht rieche.

Für den Vater trägt an Mannis sich anbahnender Leichtfertigkeit auch das schnell gemachte Geld einen Teil Schuld. Der wußte mit 16 noch nicht, ob er Koch oder Schornsteinfeger werden will. Der dachte an die lebenslange Kohlenstelle, und für nachts macht er den Spülmann in der Pizzeria.

Als der Vater einmal mit dem tristen Wort »Rente« insistierte, habe ihn der Manni angefahren: »Mensch, ich wollt? ja gar nicht auf die Welt.« Siebert ist sicher, daß der Junge damals schon zum Haschisch zig Tabletten geschmissen hat. Er denkt an Captagon.

Manfred Sieberts Zeugnis zum Realschulabschluß war schlecht. Auf eine beiläufige Bemerkung des Vaters antwortete der Sohn: »Was willst du, das letzte halbe Jahr war ich ja kaum noch dort.« Manni erschien den Eltern fremdartig ungeniert, wenn seine Ausfälle zur Sprache kamen. Der Vater sagt: »Für ihn kam die Volljährigkeit zu früh. Der stellte sich auf die Hinterbeine und wollte trotzdem bei uns sein Kotelett essen.«

Im Hof des sechsstöckigen Miethauses, unter Manfred Sieberts im dritten Stock gelegenem Zimmer, nahm der Hauswart über Monate blaue, gedrehte Tütchen wahr. Obwohl er sich keinen Vers darauf machen konnte, waren sie ihm nicht geheuer. Beim Kehren hob er so ein Ding mal auf und ging damit eigentlich nur deshalb zu Sieberts, weil deren Sohn lange Haare hatte.

Natürlich stellte sich Frau Siebert dem Hauswirt gegenüber dumm. Dennoch kam in ihr eine gegenstandslose Gewißheit auf, die der des Hauswarts ähnlich war. Sie suchte in Mannis Zimmer nach Andeutungen für diese blauen Tütchen und fand in breite Streifen geschnittene Deckblätter von Schulheften. In solche gerollten und lippengerecht zugespitzte Streifen hatte er Tabak und Haschisch gefüllt. Das hat ihr der Manni, als sie ihn danach fragte, dann auch erklärt in seiner neuen dreisten Art.

Frau Siebert hatte jetzt Schlag auf Schlag Erkenntnisschübe. Sie wußte, daß die angezündeten Räucherstäbchen das Kiffen überdecken sollten. Sie wußte aus der Küche raus, wenn Manni zum drittenmal den Plattensaphir auf das Hare Krishna setzte, daß er mit so einem Tütchen auf dem Bett lag. Doch ihn aufzustöbern wagte sie erst, wenn sie die Betten holte. Durchschnittlich war das gegen 21 Uhr.

Dann mußte ihre ängstliche Parteilichkeit für den Manni eine Bewährungsprobe bestehen. Dann mußte sie den Vater arglos stimmen.

Mit 17 trat Manfred Siebert bei der AEG eine Lehre als Maschinenschlosser an. Da er keine ernsthaften Vorlieben für irgendeinen Beruf geäußert hatte, hatte der Vater diesen Entschluß betrieben. Den Kampf gegen Mannis lange, bis in den Rücken runterreichende Haare wurde von Sieberts damals aufgegeben, weil die aus Mannis Lehrabteilung alle solche Laden trugen.

»Die AEG hat denen zum Arbeiten Kappen verpaßt«, sagt der Vater. Mit Zwischenfällen, die aber nach außen hin immer reparabel waren, hielt Manfred Siebert anderthalb Jahre durch. Einmal sei er, der mit zweimal Umsteigen eine Stunde zur Arbeit brauchte, aus dem Bus gefallen. Während Frau Siebert den tagelang bettlägerigen Manni pflegte und sich über jeden Löffel Kartoffelbrei, den dieser zu sich nahm, freute, konnte sich Siebert mit der Tatsache dieses Sturzes nicht abfinden. Er überstieg seine Vorstellungskraft.

Siebert hätte schwören können, daß es ein Drogenunfall war. Jetzt überkamen ihn solche Erkenntnisschübe? wie sie auch seine Frau schon überkommen waren, ohne daß sie ihn davon was wissen ließ. »Wie konntest du nur aus dem Bus fallen?« fragte er den schlapp daliegenden Manni. Und Frau Siebert, die ihre Witterung gerne vergaß, weil ihr Jenner »blaß wie Weißbier mit Spucke« die Zuwendungen seiner Mutter genoß, sagte dem Vater: »Jetzt laß man ab vom Manni, der braucht Ruhe!«

Gegen Ende dieser halben Lehrzeit kam Manfred Siebert abends immer später oder erst nachts nach Hause. Wenn Frau Siebert ihn um halb sechs wecken wollte, lag der Manni wie tot im Bett, und sie getraute sich nicht an ihm zu rütteln. Sie empfand dieses Schlafen nicht wie Schlafen, sondern wie Narkose.

Ihr Maßstab für Mannis unnatürliches Wegsein war ihr eigener heller Schlaf, in den noch die Geräusche des im Flur stehenden Korbsessels gelangten, in dem der Manni nachts saß und seine letzte Zigarette rauchte. Und wenn der Manni längst schon schlief, hörte Frau Siebert noch das nachträgliche Knistern des Korbgeflechts.

Zweimal verschwieg die Mutter dem Vater, daß der Junge morgens das Haus noch gar nicht verlassen hatte. Siebert stand eine halbe Stunde später auf. Als der Manni wieder mal liegen geblieben war, dabei aber nicht wie tot, sondern zitternd, daß die Zähne aufeinanderschlugen, hatte Frau Siebert schon ins dunkle Zimmer reingeflüstert: »Mensch mach? hinne, Manni, gleich ist ja schon Zeit für Papa.« Und

bevor sie bei Licht seinen Zustand sah,

hatte ihr der Manni schon geantwortet: »Ich komme nicht, ich hab? da keine Meinung mehr im Laden.«

Manfred Siebert verbrachte dreiviertel

dieses Tages im Bett. Er lag frierend eingewickelt und kein Kissen, das ihm die Mutter zusätzlich auflegte, änderte sein Befinden. Als er sich übergeben mußte, machte er keine Anstalten, die Toilette zu erreichen. Frau Siebert sagt: »Und wie man als Hausfrau reagiert, hab ich erst das Erbrochene aufgewischt, anstatt ihm beizustehen.«

Kurz vor Sieberts Feierabend hörte Frau Siebert das Schloß der Korridortür einklinken. Manni war schon auf der untersten Treppe, und sie unterließ es der Leute wegen? ihn anzuflehen, doch zu bleiben. Gegen 22 Uhr war er wieder zurück. Er sagte dem Vater, der Schnaps vor sich stehen hatte, und der Mutter, die blicklos vor dem Fernseher saß: »Das war nichts, ich führ mich jetzt echt besser.«

Am darauffolgenden Morgen überließ Herr Siebert das Wecken des Jungen nicht seiner Frau. Daß der Manni schon vorher aufgestanden und im Badezimmer am Hantieren war, löste in Siebert Unruhe aus. Er klopfte an die Tür und bat den Manni, schnell zu machen, da er selber dringend müsse. Und Manni, nach draußen schnauzend: »Darf man denn hier nicht mal in Ruhe scheißen!«

Siebert entfernte sich hörbar, um schleichend wieder zurückzukommen. Er legte den Oberkörper auf den Boden und guckte durch die drei Lüftungslöcher der Tür. Manni, auf der Badematte sitzend, hielt eine Spritze im Mund und band sich mit der rechten Hand den linken Oberarm ab. Er spreizte und ballte schnell hintereinander die linke Hand und stach mit der anderen dann die Kanüle flach in den Handrücken. Es sammelte sich eine rotbraune Flüssigkeit, sagt Siebert, »da hat er wohl zurückziehen müssen, das war wohl Blutgemisch.«

Der Schreck, der Siebert in die Glieder fuhr, ließ ihn jede taktische Überlegtheit vergessen. Er blieb noch zehn Minuten vor der Klotür stehn und sagte dem heraustretenden Manni dann: »Det war?s also!« Manni postierte sich mit der Ruhe eines Pastors vor seinen aufgelösten Vater und sagte: »Ich habe Vitamine gespritzt, weil ich so schlecht esse.« Siebert schrie das Haus zusammen, indem er immer wiederholte: »Det darf nich sein!«

An diesem Morgen hatte für Manfred Siebert die Geheimhaltung seiner Heroinsucht zumindest zu Hause ihr Ende. Er preßte seinen an einem Schalterriemen hängenden Beutel schützend gegen den Körper und verabschiedete seine Eltern mit den Worten: »Ohne Druck könnt? ich ja jarnich uff Arbeit jehn.«

Danach kam Manni fünf Tage nicht nach Hause. Am Vormittag des fünften Tages rief Siebert den Lehrmeister bei der AEG an und bat ihn, den Sohn zu fragen, ob er böse sei mit seinen Eltern. Der Lehrmeister konnte dem Vater nicht gefällig sein, da Manfred Siebert in diesen fünf Tagen auch zur Arbeit nicht erschienen war. Als sich in Sieberts Wohnungstür abends ein Schlüssei drehte, glaubte die Mutter, das Herz bleibe ihr stehn vor Glück.

Frau Siebert meint, die Hölle erlebt zu haben, als Manni weg war. Ihr Mann habe bis Mitternacht Kette rauchend Schnäpse reingezogen und sei, als ob er das Wetter des kommenden Tages erkunden wolle, hin und wieder auf den Balkon gegangen. Sonst saßen sie da und warteten, ohne sich darüber auszutauschen. Und um dieses Schweigen einmal zu brechen, sagte Frau Siebert ihrem Mann: »Paff doch die Bude nich so voll, das macht ja auch die Vögel krank.« Sie habe dann den Käfig mit den Sittichen rausgetragen und ihn auf den Stuhl neben Mannis verwaistes Bett gestellt.

Sieberts gaben sich Mühe, Mannis Erscheinen wie eine normal erwartete Heimkehr aufzunehmen. Die Mutter stellte ihm was zu essen hin, und der Vater sagte: »Jetzt brauchen wir beide noch einen Schnaps.« Als Manni dann mehr Gläser kippte, als ihm eingegossen wurden, gab Siebert seiner Frau zwinkernd zu verstehen, daß das dem Jungen guttun, daß es ihn entspannen würde.

Nach weniger als einer Stunde befanden sich Vater und Sohn auf einer Ebene von Verständigung, welche das anfängliche Hochgefühl der Mutter weniger werden ließ. Der Manni hatte einen Pulloverärmel hochgeschoben und zeigte eine Tätowierung, auf der hinter einem Hügel je nach Belieben die Sonne auf- oder untergeht. Darunter waren die Worte »Für Verena« eingestochen. Die Prozedur der Tätowierung war noch frisch.

Bei diesem Anblick lachte der Vater knallend und, wie Frau Siebert sich erinnert, fast beglückwünschend. In seiner Schnapsharmonie habe er sich dem Jungen gemein machen wollen und noch einen Spruch auf die Weiber gebracht. Dabei hatte der Manni Liebeskummer und ist nur deshalb heimgekommen.

Herr Siebert sagt: »Ich hab? in meinem Suff gedacht, der hat ne Frau, für die er sich den Arm versauen läßt.« Das habe ihn männlich ein bißchen eingenommen.

Das von Frau Siebert ängstlich beobachtete männlich-pathetische Einvernehmen endete böse. Der volltrunkene Manni führte seinem angetrunkenen Vater vor, was er wimpernzuckend zu leiden imstande ist. Er stach sich bis auf die Platte des Wohnzimmertisches eine Stopfnadel durch die Hand.

Der folgende Tag war ein Sonnabend. Manni sagte seiner Mutter, er gehe seiner Freundin Verena beim Renovieren helfen. Frau Siebert unterließ es, seinen Liebeskummer anzusprechen. Vielleicht hat er einen alkoholischen Filmriß, dachte sie, und will davon nie gesprochen haben. Vielleicht versucht er auch, das Mädchen durch Hilfsdienste zurückzugewinnen. Im Grunde war sie froh, ihn aus dem Haus zu wissen, bevor er mit dem Katzenjammer seines Vaters zusammenstößt.

Abends rief Manni an, er bleibe auch über Sonntag in der Winterfeldtstraße, wo Verena wohnt. Frau Siebert sagte: »Is gut Manni, sei Montag aber pünktlich auf der Arbeit.« Montags erhielten Sieberts einen Brief von der AEG, der die Kündigung von Mannis Lehrverhältnis mitteilte.

Die Mutter legte den Brief aufgefaltet

neben die Thermoskanne; in der sie täglich den Kaffee für Siebert bereitstellt. Siebert kam um 16.30 Uhr nach Hause. Er sah den Brief schon vom Flur aus, während er sich die Jacke auszog. Als er ihn gelesen hatte, sagte er härter, als es seine Art ist: »Jetzt fliegt er auch bei uns raus!« Dann machte er sich stehend eine Stulle, fluchte über die harte Butter, die man ja mit dem Daumen aufdrücken müsse, und verschwand, wie Frau Siebert sagt, »um die Häuser«.

Frau Siebert rief trostsuchend ihren ältesten Sohn an, der seit zwei Jahren ein Appartement in einem Studentenheim bewohnte und sein Physikum machte. Von den Dramen zu Hause erfuhr er immer nur deren laute, wellenschlagende Hälfte. So wie jetzt: Manni gekündigt, Papa außer sich.

Ein Vorwurf, daß er mit seinem angebenden Sachverstand zuwenig auf Mannis Suchtsignale achtete, ist ihm nicht zu machen. Außerdem hatte er die weit zurückliegenden Appetitzügler schon mal negativ erwähnt, die dem Manni gegen seine kindliche Freßsucht verabreicht worden waren.

Möglich, daß Herrn Sieberts persönliche Beschämtheit über Mannis Kündigung dadurch ein bißchen aufgehoben wurde, daß aus derselben Lehrgruppe neun Lehrlinge gleichzeitig abgeblieben waren. An Mannis Ausstieg aus dem bürgerlichen Erwerbsleben tragen für Siebert teilweise auch die Roten schuld.

Die hätten wie die Wiedertäufer vor dem Werkstor gestanden und die Bengels mit ihren Flugblättern irre gemacht. Siebert sagt: »Ich frage mich, wo bleibt ein Lehrling ab, der seinen Meister Scheiße finden muß, weil der beim Monopolkapital auch nur »ne Nummer is?«

Schon vor Sonnenaufgang habe das Geschmeiß von der SEW am Gitter gewartet. Und bei Schichtende kamen die Studenten, die kumpeligen Besserwisser in den Parkas. Alles Leute, sagt Siebert, die heute beim Senat fürs Alter kleben, die mit ihren Bärten in den Rathäusern sitzen und »wenn ick mal janz wat Böses sagen darf, die heute auf Drogenberater machen«.

Manfred Siebert stehen noch 480

Mark Urlaubsgeld zu. Um das Geld zu sichern, fährt der Vater mit seinem Sohn raus zur AEG. Er will es ihm in kleineren Summen aushändigen.

Mannis Liebesverhältnis zu Verena drückt sich für Frau Siebert vor allem darin aus, daß er die schmutzige Wäsche aus der Winterfeldtstraße bei ihr ablädt. Sie sagt sich: »Wir haben ja die Maschine.« Sie nimmt sogar an, daß der überaus verwöhnte Manni seiner Mutter eine Freude zu machen glaubt, wenn er die Sauberkeit hochhält und antanzt mit der Wäsche. Während dieser Besuche nimmt er auch ein heißes Bad.

Viel später, sagt Frau Siebert, als der Manni nur noch als Wrack bei uns rumhing, badete er bis zu dreimal täglich. Dieses ihr unheimliche Reinigungsbedürfnis hat ihr ein Fixer während einer Besuchszeit in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik erklärt: »Das macht man, damit die Adern besser raustreten.«

Manni sieht elend aus. Auf Herrn Sieberts mehr zum Selbsttrost taugende Behauptung, auch die Liebe sei eine zehrende Sucht, läßt sich Frau Siebert nicht ein. Sie ahnt, daß Verena mit Manni den Blöden macht. Das gibt ihr Manni schließlich auch zu, als er wieder mal Wäsche bringt.

Verena hat noch einen anderen. Der zog ein, als der Manni mit dem Renovieren fertig war. Manchmal sei Highlife gewesen, dann haben sie für Stoff gesammelt und ihn losgeschickt, weil er eine Ausländeradresse hatte. An der Nadel habe dort keiner gehangen, alles nur Kiffer.

Frau Siebert kennt inzwischen die Bedeutung fast all dieser Wörter. Sie sagt: »Mein Gott, Manni, was bist du dumm, du gehst das Zeug holen, das die rauchen, und du wirst erwischt.«

Als Beschaffer von Haschisch darf Manni bei Verena wohnen bleiben. Seinen Unterhalt verdient er sich mit Waldarbeiten, einer Beschäftigungsaktion des Berliner Senats, der arbeitslose Jugendliche von der Straße holen will. Im Wald lernt Manni Mozart kennen, einen elternlosen Fixer aus Duisburg. Manni befreundet sich mit ihm.

Frau Siebert sagt: »Mit dem Mozart hätte Manni diese Flickenjuste vergessen können.« Und Siebert sagt: »Natürlich haben der Mozart und der Manni abends ihr gutes Geld auf den Kopp gehauen, aber det war Freundschaft.«

Als Manni erfährt, daß der ums Aussteigen kämpfende Mozart auf der Toilette von »Burger King« am Kurfürstendamm sich wieder hat anspritzen lassen und dann in einem Klo vom U-Bahnhof Fehrbelliner Platz totgespritzt aufgefunden wurde, ist er am gleichen Abend nach Hause gefahren.

Ohne Mozarts Tod zu erwähnen, redet Manfred Siebert vor seiner Mutter sich die erlittenen Demütigungen in der Winterfeldtstraße von der Seele. Abends, nach dem Kiffen, hieß es: Manni, du schläfst nebenan. Der arme Hund, sagt Frau Siebert, habe über Wochen sich denen ihre Liebesgeräusche mitanhören müssen. Und· sie habe, sagt sie, für diese dem Manni schreckliche Situation noch die Wäsche gewaschen.

Mannis bei all seiner Zerknirschung vertrauensselige Art empfindet Frau Siebert positiv. Sie glaubt, ihren »alten Jenner« vor sich zu haben. Sie braucht noch ihre Zeit, um die Spielarten seines Verhaltens in einen Zusammenhang mit der Sucht zu stellen. Sie weiß nicht, daß seine Umgänglichkeit auf einer Dosis Heroin basiert.

Manni schläft Zu Hause. Am Vormittag nimmt er vor seiner Mutter eine drohende Haltung an und fordert den Rest seines Urlaubsgeldes? etwa 250 Mark. Frau Siebert sagt ihm, damit müsse er warten, bis Papa von der Schicht zurück ist. Manni geht fort und kommt vor Sieberts Feierabend wieder. Er empfängt seinen Vater mit einem komischen, tänzelnden Gehabe, als wäre er der Anführer eines Elfenballetts. Siebert findet seinen Sohn widerlich.

Manni verkündet, er habe einen Trip geschmissen. Die Mutter bringt das Geld zur Sprache, worauf Siebert mit unbremsbarer Entschlossenheit dem Manni die Scheine in die Hand zählt und ihn anbrüllt: »Jetzt aber raus!«

Manfred Siebert ist jetzt 19 Jahre alt. Seine Mutter dämpft ihre ständige Aufgeregtheit schon am Tage mit Valium. Zum Schlafen nimmt sie zwei Staurodorm. Herr Siebert, der seiner Arbeit wegen sich nicht mit Tabletten dem Chaos entziehen kann, wird Mitglied in einem Angelverein.

Es ist ein reiner Männerverein, bei dem jede Plötze mit Schnaps begossen wird. Das fängt sonntags schon um vier Uhr in der Frühe an, um neun dann Fischewiegen und danach die eigentlichen Festivitäten. Frau Siebert sitzt zu Hause mit dem Essen. Da Siebert die Stadtautobahn benutzt, wird es meistens Abend, da er sich vorher ausnüchtern muß.

Sieberts, die immer aufgelegt waren für »een kleen Abendspaß«, führen auch keine Ehe mehr. Mit schlimmen Gedanken im Hinterkopf, sagt Frau Siebert, könne man sich ins Bett nicht mehr treffen. Wartend vegetieren sie den Nachrichten von Manni entgegen. Diese Nachrichten sind hauptsächlich Strafmandate. Sie kommen aus Holland, aus Frankfurt oder Karlsruhe.

Manni läßt sich über zehnmal als Fahrgeldpreller in U- und Stadtbahnen sowie in der Bundesbahn erwischen. Da er seinen Personalausweis verloren hat, gibt er den Namen seines Vaters, Edmund Siebert, an. Edmund Siebert zahlte »wie ein Dusseliger« und hat jetzt eine Sammlung Briefe, alle mit dem Wortlaut: »Nach Eingang Ihrer Bußgeldzahlung ist das Ermittlungsverfahren wegen Erschleichen von Leistungen abgeschlossen.«

Für »unachtsames Überqueren einer Fahrbahn sowie Teilnahme am öffentlichen Verkehr trotz geistiger Mängel« zahlte Siebert fünfzig Mark Buße, fünf Mark für Kosten des Verfahrens und 80,90 Mark für Blutuntersuchung. Das sind nur zufällig gegriffene Blätter aus dem Aktendeckel, auf dem in Druckschrift »Manni« steht.

Nur ein Brief kommt von Manni selber. Er schreibt aus Karlsruhe: »Ich schaff? das in Berlin nicht mehr, Berlin ist mir zu dreckig.« Er habe einen Job und wolle bleiben. Frau Siebert überweist ihm, ohne es ihrem Mann zu sagen, 100 Mark. Sie rollt sein Deckbett mit zwei frischen Bezügen zusammen und schickt es ihm noch am gleichen Tag, an dem sie über seinem Brief geweint hat.

Auf einem beigelegten Zettel sucht sie in sachlichen Worten, sich als Mutter zurückzunehmen. Sie schreibt: »Weil du jetzt von uns weg bist, sollst du wenigstens nicht frieren.« Auch Siebert hat dem Jungen 100 Mark geschickt und das vor seiner Frau geheimgehalten.

Der finanziellen Belastungen wegen, aber auch, um den seelischen Kummer um Manni stundenweise wegzudrücken, hat Frau Siebert eine Putzstelle bei der Technischen Universität angenommen. Sie steht um vier auf und ist gegen zehn wieder zu Hause. Sie hat dann meistens schon eingekauft.

Der Tag, an dem Manni oben vor der Wohnungstür gesessen hat und geglaubt haben muß, seine Mutter öffne nicht, weil sie ihn beim Klingeln durchs Guckloch sah, bleibt für Frau Siebert ein datierbarer Moment, der ihr geläufiger als ihre Hochzeit ist. Es ist der 17. Oktober 1977. Sie erfaßt die Situation, ohne daß Manni was sagt oder sie selber. Sie läßt die Einkaufstüten fallen und schließt ihn in die Arme: »Mensch, Manni, du.«

Noch ehe ihn das Paket mit dem Deckbett in Karlsruhe erreichen konnte, ist Manfred Siebert wieder in Berlin. »Und er hatte wieder uns«, sagt Siebert. Manni, der 1,90 Meter groß ist, wiegt nur noch 50 Kilo. Der Vater erkennt den Zustand seines Sohnes langsam als Krankheit an. Der komme drei Tage ohne Essen klar.

An manchen Abenden sitzt Manni im Wohnzimmer und klopft ununterbrochen mit den Stiefelspitzen unter den Tisch. Er will provozieren, die Eltern auf hundert bringen, in der Hoffnung, daß er rausgeschmissen wird. Er bombardiert die Eltern mit den Drogenbegriffen des Untergrunds, sagt »age« für H wie Heroin. Er brauche einen »flash«, aber »das checked ihr Spießer ja gar nich«. Er fühlt sich in seinem Elend noch besonders, »wir waren für den die blöden Marschierer«.

Siebert sagt: »Der Manni hatte nicht das Zeug zum Dealer, der hat sich als Hinterlader sein Gramm verdienen müssen.« Diese Idee ist ihm unerträglich. Er rückt fünfzig Mark raus. »Damit habe ick dem Manni mehr als einmal so ne Schweinerei erspart.«

Herr Siebert findet es zu gleichen Teilen ehrlos und beruhigend, wenn Manni nach einem Schuß ziemlich schnell zu Hause wieder auftaucht. Mannis Erlösung, wie sie sich seinen Eltern darstellt, ist schrecklicher als seine Aggressionen davor. Mit wankendem Oberkörper, als säße er in einer holpernden Kutsche, sitzt er auf dem Sofa und raucht. Er streut Asche rum, läßt Glut auf die Polster fallen und redet ohne Ende sinnloses Zeug. Er redet wie mit einem Schlüssel aufgezogen. Der Saft der gezuckerten Erdbeeren, die ihm seine Mutter bringt, läuft ihm aus dem Mundwinkel.

Frau Siebert liest das Boulevardblatt

»BZ« und die »Berliner Morgenpost« nur noch der Heroin-Berichte wegen. Sie hat sich das Wort »Beschaffungskriminalität« eingeprägt; sie weiß, daß ein Apo-Einbruch nichts Politisches ist, sondern mit Apotheke zu tun hat.

Sie vermißt ihre tragbare Nähmaschine und einen Lederkoffer. Beides sind Gegenstände, die auf dem Kleiderschrank nicht in ihrem täglichen Blickwinkel lagen. Dennoch sind ihr die fehlende Nähmaschine und der Koffer keine Indizien dafür, daß ihr Jenner den eigentlichen Beschaffungskriminellen zuzurechnen ist. Er habe, sagt sie sich in ihrer Not und dabei die Not ihres Jenner bedenkend, ja nur zu Hause was gemopst.

Nachts legt Frau Siebert ihren Geldbeutel unters Kopfkissen. Tagsüber steckt sie ihn in die Ofenröhre oder ganz hinten ins Kühlfach vom Eisschrank oder in die gefüllte, aber ruhende Trommel der Waschmaschine. Manchmal sitzt sie ihrer eigenen Gewitztheit auf und weiß nicht mehr, wo sie das Ding versteckt hat. Dieses verzweifelte Suchen hat auch der Manni schon mal beobachten können. Er hat in Frau Sieberts Erinnerung unangenehm gelächelt, als würde er diese Vergeblichkeit genießen.

Frau Siebert hat ihr Quantum Valium

und Staurodorm nie überschritten. Sie nimmt sie kontrolliert ein. Die verbleibenden Tabletten hat sie aber nie gezählt. Als ihr die sich immer rapider leerenden Packungen auffallen, weiß sie, »der Manni war?s«. Sie will ihn überführen. Sie läuft die Apotheken nach Abführtabletten ab, die das Aussehen einer Valium oder Staurodorm haben sollen. Die gibt es nicht, und sie nimmt Dragees, die zumindest weiß sind. Sie füllt diese Dragees in den kleinen, für fünfzig Valium gängigen Plastikzylinder und stellt ihn an die gewohnte Stelle im Wohnzimmerschrank.

Herr Siebert ist in diese Aktion eingeweiht. Er sagt: »Wir dachten, jetzt soll sich der Manni auf deutsch gesagt: totscheißen.« Bis dahin ist Manni meistens bis 20 Uhr in seiner »Schweinestampfe«, was inzwischen die Bezeichnung Sieberts für das Bett seines Sohnes ist, liegengeblieben, um dann in die Szene zu latschen.

Frau Siebert hat keine Genugtuung, wenn ihr das pausenlose Rennen des Jungen aufs Klo in die Gedanken kommt. Sie verzeiht sich diesen detektivischen Einfall nicht, diese billige Gendarmen-Tour. Der Manni sei ja ohnehin schon invalid gewesen.

Manfred Siebert verbringt eine halbe Woche Tag und Nacht im Bett. Er döst oder schläft bei laufendem Fernseher. Die Vorhänge bleiben zugezogen, und das Licht brennt. Er sagt, er wolle Sonne im Zimmer, aber nicht die echte. Er ernährt sich von Joghurt und den modernen Konfektsorten Mars, Milky Way und Bounty. Für deren Nachschub sorgt die Mutter, die er auch um solche infantilen Süßigkeiten wie Mäusespeck angeht.

Matratzen und Kissen sind voller Brandlöcher, da er auch in seiner geistigen Abwesenheit raucht. Manchmal bittet er die Mutter, ihm im Fernsehen ein anderes Programm einzustellen. Gegen ein Uhr nachts versucht Frau Siebert, unbemerkt den flimmernden Kasten auszuschalten, um ihn um vier, wenn sie zur Arbeit aufsteht, wieder flimmernd vorzufinden.

Manfred Sieberts schlechtes Befinden ist anders als sonst. Die Mutter glaubt zu erkennen, daß er neben dem Süchtigsein noch eine normale Krankheit hat. Sein immer abwehrendes Verhalten gegenüber jeder Art von pflegerischem Interesse, besonders seine Arme betreffend, ist diesmal hektisch. Während er schläft, sieht die Mutter einen ungewöhnlich dicken Arm auf der Bettdecke liegen. Es ist der linke. In der Beuge des Arms nimmt sie eine Verdickung wahr, die sie mit einem großen Apfel vergleicht.

Manfred Siebert hat einen Abszeß. Er hat sich nicht nur die Valium und die Staurodorm in die Armvene gespritzt, sondern auch die Abführpillen. Zwischen Frau Sieberts Entdeckung und der Heimkehr ihres Mannes liegen keine zehn Minuten.

Siebert bittet den inzwischen erwach. ten Manni: »Zeig mir mal den Arm.« Und er sagt, ohne den Arm gesehen zu haben: »Da muß Ziehsalbe drauf.«

Ohne erfindlichen Grund, das heißt, in der Erinnerung der Eltern gibt es keinen, gerät Manni in Rage. Er springt aus dem Bett, läuft ins Wohnzimmer und reißt das Bein eines Sessels aus der Leimung. Er ist im Begriff, das Sesselbein auf den Vater zu schleudern, der immer noch vor Mannis Bett steht. Sich duckend wirft Siebert die offene Tür ins Schloß und hört, wie das Sesselbein die obere, etwas dünnere Türfüllung durchbricht.

Der Manni, sagt Siebert, tobte wie eine Lore Affen. Siebert ruft die Polizei und will ihn ins Krankenhaus bringen lassen. Da Manfred Siebert volljährig ist, braucht die Polizei dessen Einverständnis, das er nicht gibt. Der Polizist, der als letzter aus der Wohnungstür geht, sagt zu Frau Siebert: »Dann kühlen Sie mal.« Natürlich hat das ganze Haus wieder seine Vorführung gehabt.

An diesem Abend beschließen Sieberts, aus der Afrikanischen Straße im Wedding wegzuziehen. Sie ertragen es nicht mehr, das Katastrophenpack einer Hausgemeinschaft zu sein. Siebert findet für Manni in Charlottenburg eine in Berlin mit StäbelKüche benannte, abgeschlossene Wohneinheit. Sie beschwichtigen diesen Schritt vor sich selber. Er brauche endlich seine eigene Höhle. Für seine Schallplatten hat er zu Hause Kopfhörer tragen müssen.

Sieberts unterhalten keine ihrer alten Bekanntschaften mehr. Sie besuchen nur mal die Mutter von Mannis sporadischem Drogenkumpel Brülle. Gemessen an Brülles hochdekorierter, mit Staniol ausgeklebter Bude hat Manni seine Tage in einem Schäferkarren verbracht. Brülle arbeitete mit einer selbst fabrizierten Lichtorgel; der hatte ein diffuses Tempelchen, an dessen Wände Liebesschwüre mit Straßsteinchen geschrieben standen: »I like Pink Floyd«. Obwohl Sieberts überfordert sind, Brülles Bude gut zu finden, sieht die Mutter einen Zusammenhang zwischen Mannis Tätowierung und den Tapeten, zwischen denen er zu Hause schlief.

Sieberts helfen dem Manni beim Umzug. »Ich Trottel«, sagt Siebert, »putze dem die Fenster.« Frau Siebert bringt Vorhänge an. Manni baut sieh ein Hochbett mit Leiter. »Um erst mal Grund in den verwohnten Stall zu bringen«, macht Siebert sich ans Streichen. Manni wäscht mit einem Lackverdünner die alte Türfarbe runter.

Am späten Nachmittag des nächsten Tages, wo alles fertig werden soll, ist die Flasche mit der Nitrolösung, diesem Lackverdünner, leer. Frau Siebert gibt dem Manni einen Stapel Wäsche. mit dem er sein Hochbett beziehen soll. Von unten sieht sie, wie der Manni eine Taschenflasche unter die Matratze schiebt. Darin hat er die Nitrolüsung abgefüllt. Auf Befragen sagt er: »Das rieche ich gern«, dabei werde es ihm rosarot. Siebert packt seine Utensilien und sagt beim Gehen: »Manni, du kotzt mich an!«

Im Januar 1978 treffen sich Sieberts zum erstenmal mit Eltern der »Arbeitsgemeinschaft Drogenprobleme«, eine schon 1972 gegründete Selbsthilfeorganisation. Brülles Mutter hat Sieberts dazu überreden können. Sie hören von den Torturen anderer Eltern. Sieberts, die das Unglück mit ihrem Manni immer als familiäre intimität gehütet haben, werden zumindest von dieser Geheimhaltung befreit.

Beim dritten Treffen sagt Frau Siebert das erste Wort. Danach will Siebert meistens reden, da er glaubt, den Suchtverlauf seines Sohnes schneller auf den Punkt zu bringen. Sieberts lassen kein Treffen aus. Sie lernen Begriffe kennen und können sie sich übersetzen; beispielsweise: »Der Leidensdruck des Süchtigen muß so groll sein, daß er für eine Therapie motivationsfähig ist.« Sieberts lernen, daß die Eltern dem Süchtigen gegenüber hart bleiben sollen, wobei sich der Süchtige der Liebe seiner Eltern sicher bleiben müsse.

Manfred Siebert wohnt jetzt schon

sechs Wochen alleine. Die Miete von 110 Mark zahlt das Sozialamt. Er habe wieder, sagt er, wegen der Stütze, einen unangemeldeten Job in einer Pizzeria. Frau Siebert geht jeden zweiten Tag nach der TU bei Manni vorbei. Er hat sich inzwischen einen Hasen gekauft. Sie sagt, ihr gehe das Herz zu Boden, wenn sie ihren verelendeten Jenner sieht und dann die Futterpackung für den Hasen mit der Aufschrift »Vitakraft -- verhütet Mangelerscheinungen«.

Während Manni noch schläft, pflückt Frau Siebert die Fellflocken auf und kehrt Berge von Heu und Steinen vor dem Hasenbauer zusammen. Die vom Elternkreis angeratene Härte findet sie ausreichend befolgt, indem der lunge nicht mehr zu Hause lebt.

Die Entdeckungen in Mannis unwirtlicher Behausung sind Frau Siebert nicht mehr sensationell. Sie registriert Vorräte von Haushaltskerzen, Batterien steril verpackter Einwegspritzen und wie verstreut liegendes Spielzeug die kleinen gelben Ballonflaschen, in denen mal Zitronensaft war.

Vergleichbar mit dem vitaminreichen Hasenfutter schnürt ihr nur noch das Stilleben von Mannis letztem Druck die Kehle eng: der Ledergürtel, der weit hinter den Löchern in der Schnalle liegt; die runtergebrannte Kerze; die Zitronenflasche; der verrußte, in eine standfeste Horizontale gebogene Kaffeelöffel; die benützte Spritze mit dem braunen Bodensatz von Blut und der gesprenkelten Kanüle.

Nach weiteren sechs Wochen muß Manfred Siebert seine Wohnung räumen. Er habe sie zu einem Auffanglager verkommener Gestalten heruntergewirtschaftet, steht in der Begründung. Parallel zu Mannis Kündigung beziehen seine Eltern ihre neue Wohnung am Lichterfelder Kadettenweg.

Sieberts Schwur, daß Manni diese Schwelle nicht betreten dürfe, wird von Frau Siebert gleich gebrochen. Mit absichernden Blicken durchs Treppenhaus läßt sie ihn ein. Er soll ein paar Stunden schlafen und verschwunden sein, wenn der Vater heimkommt. Diese Planung überschneidet sich um Minuten. Die Mutter sitzt noch über Mannis Jeans, einem durch Kordeln, Heftpflaster und Sicherheitsnadeln zusammengehaltenen Kunstwerk von einer Hose. Sie will während seines Schlafs die Hose so ausbessern, daß er das Genähte gar nicht merkt. Denn einmal sei er ihr fast an die Gurgel gegangen, als sie mit dem Nähkorb kam und er ihre Absicht erkannte.

Der Anblick des Vaters und die Vergewisserung, daß seine Jeans über den Knien seiner Mutter hängen, lassen Manfred Siebert wie ein kapitulierendes Tier daliegen. Frau Siebert fürchtet sich vor dieser Stille. Am liebsten wäre ihr ein Ausbruch gegen sie gewesen. Aber Siebert zeigt erst mal die gleichen Zeichen von Kapitulation. Er beugt sich über den Manni und zieht ihm die Oberlippe hoch. Er sagt: »Der hat ja nur noch Kruken im Maul.« Daß Heroin die Zähne zerstört, weiß er aus dem Elternkreis.

Dann tobt Siebert los: »Dealer sind Massenmörder! Alles abräumen! Weg ins Arbeitslager! Türken raus!« Er schreit: »Auch wenn ick Sozi bin, geht es mir nicht ri, daß ganz Bonn unter Stacheldraht hecht wegen ein paar prominente Köppe, und hier gehn die Kerls druff wie die Fliejen.«

Frau Siebert bittet: »Jetzt fang dich, wir wohnen hier neu!« Und Siebert sagt leise: »Wenn man zählt, was die Terroristen auf dem Gewissen haben, und zählt die, die krepiert sind an Heroin, da stimmt doch von der Polizeiseite was nich.«

Siebert tut, da er mit Mannis Anwesenheit überrumpelt wurde, als sei er innerlich unentschieden und schicke sich, indem der Manni bleibt, in ein nicht abzuwendendes Übel. Zum Abendessen sind »die Kinder« angesagt. »Die Kinder« ist Herrn und Frau Sieberts umarmende Benennung für ihren Ältesten und dessen langjährige Freundin. Die nervlich flatternde Mutter ahnt, daß dieses Zusammentreffen, so schön, wie es sein könnte, ebenso viele Explosionen in sich birgt.

Das Essen verläuft in einer das Thema vermeidenden Harmonie: Manni ist der Penner der Runde; sein Bruder hat ohne Tätowierung eine Frau, lächelt die an wie auf ewig, versteht alles und weiß nichts.

Den Manni quält diese Intaktheit. Die Mutter sagt: er habe sich verlassener gefühlt als auf dem Hochbett. Nachdem Bruder mit Freundin gegangen sind, zieht Manni an den Enden seines zweimal geschlungenen Halstuchs und will sich, am Tisch sitzend, strangulieren. Er zieht so heftig, daß die Mutter schreit und der Vater ihm mit rabiaten Griffen das Tuch entreißt. Dabei fließt Blut. Siebert sagt: »Der machte das, weil dem Bruder alles gelingt und ihm nichts.«

Während Frau Siebert ihren blutenden Jenner auf das Sofa bettet und ihm den Hals kühlt, rennt Siebert mit den Worten »damit hat sich?s« aus der Tür. Frau Siebert räumt noch ab. Als ihr hausfraulich nichts mehr zu tun bleibt, spürt sie Herzflattern.

Sie nimmt ihre obligatorischen zwei Schlaftabletten und legt sich hin. Als sich nach zwanzig Minuten kein Schlaf einstellt, habe sie sich das. ganze Röhrchen reingehauen.

Sie sagt: »Hauptsächlich hat mich mein Mann verletzt, weil er mich zurückließ mit dem Manni.«

Der kommende Tag ist ein Sonntag.

Um sieben Uhr kommt Siebert und legt sich berauscht neben seine Frau; abends um sechs klingelt der älteste Sohn. Siebert öffnet, nachdem er eine Weile gewartet und gehofft hat, daß seine Frau aufsteht. In seiner restlichen Benommenheit findet er es zwar erstaunlich, daß sie es nicht tut, macht sich aber keine Gedanken. Der Sohn erkennt den Zustand der Mutter. Frau Siebert muß im Krankenhaus entgiftet werden.

Beim nächsten Elterntreffen wird auch das allgemeine Suchtverhalten in den Familien besprochen. Sieberts ehrbare Labilität dem Schnaps gegenüber ist mehr ein Thema als die Tabletten der Frau. Obwohl fast alle anwesenden Mütter das Zeug nehmen, zumindest genommen haben. Ein sprachlich antherapierter Vater sagt: »Wir alle müssen unsere eigenen Verhaltensmuster hinterfragen.«

Eine Mutter leidet seit einem halben Jahr unter ihrer Konsequenz, die Tochter nicht mehr aufzunehmen. Das Mädchen geht auf den Strich in der Genthiner Straße. Sie habe das Mädel an die Nadel verloren, sagt sie, und sie bete, daß es den Dreck nicht mehr lange erträgt und fällig wird für die Therapie. Frau Siebert ist eingenommen von dieser Frau. Dennoch empfindet sie deren Klarheit monströs. Sie sagt sich: »Das bring? ich nicht.?

Sieberts versuchen hart zu sein. Manni klingelt am Vormittag, Mittag und Nachmittag. Einmal zeigt sich Frau Siebert am Fenster und ruft aus dem zweiten Stock: »Manni, fang auf!« Sie wirft ein in Packpapier verschnürtes Bündel mit belegten Broten einem Apfel, einer Stanniolplatte Vitamintabletten und zehn Mark runter. Sie beobachtet, wie er das Papier wegreißt und wie ein durch die Höfe ziehender Musikant nach dem Eigentlichen sucht, dem Geld.

Manfred Siebert kann nicht glauben, daß es sogar seiner Mutter ernst ist. Er ruft abends an. Frau Sieberts Eile, das Telephon zu erreichen, kennt man aus Filmen, in denen der Ehebrecher das Unheil abbiegt und »falsch verbunden« sagt. Sie hält aber stumm den Hörer und läßt ihn sich von Siebert abnehmen, der dann durchatmend mit »Ja, ich höre!« den Befehlston einnimmt.

Am anderen Ende sagt Manni: »Heute setz ick mir den Todesschuß!« Siebert antwortet: »Bitte sehr, dann setz ihn dir!«

Nachts wirft Manni Steinchen gegen das Schlafzimmerfenster seiner Eltern. Die Mutter preßt die Hände gegen die Ohren. Sie geht ins Wohnzimmer, um die Steinchen nicht zu hören. Sie findet dann die ganze Unternehmung unnatürlich.

Sie denkt an den Süchtigen, der drei Wochen tot im Keller seiner Mutter lag, und im Haus fragten die Leute: Was riecht hier so komisch? Das ist ein Fall aus dem Elternkreis. Diese Frau hat auch hart bleiben wollen, weil man das muß. Und als sie den Sohn weder unter den Hereintoten des Tages in der Zeitung fand noch daß er bettelnd sich gemeldet hätte, hat sie einem Streetworker ein Paßbild ihres Sohnes gegeben, der ihn, egal wie er ihn auffinde, bitten. sollte, nach Hause zu kommen.

Sieberts Unglück hat durch den Elternkreis nicht abgenommen. Was sich geändert hat, ist die soziale Kategorie, in die sie ihr Unglück zwanghaft eingeordnet haben. Sie wissen, daß Heroin auch die Zehlendorfer Pastorenfamilie trifft. Sie hören regelmäßig den Vater des Fixers, welcher Geige gelernt hat, die »Sinnfrage« stellen. Sie kennen die Diplomatenfrau, die kein Valium nimmt und dafür Waldläufe macht.

Siebert. sagt zwar immer noch »das kommt in den besten Kreisen vor«, weil ihm über dem Problem der Klassenunterschied bestehen bleibt. Doch er ist imstande, von seiner Herkunft her ihm unvorstellbare Bemühungen zu tolerieren. Eine Mutter gibt die Absicht preis, mit ihrem süchtigen Sohn auf dem Fernwanderweg 5 vom Bodensee über die Alpen nach Italien zu wandern. Sie glaube, sagt sie, daß in den alpinen Zonen, dort, wo es weniger Menschen gibt, die Menschen sich mehr achten. Sie möchte ihren Sohn so was erleben lassen.

Herr Siebert hat seine Mitgliedschaft im Angelverein SAV-Blei seiner Frau und des Trinkens wegen aufgegeben.

Manfred Siebert erlebt in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, die Bonnies Ranch genannt wird, seinen ersten klinischen Heroin-Entzug. Im Park der Klinik, erinnert sich Siebert, konnte man über leere Schnapsflaschen stolpern. Es sei ein warmer Tag gewesen, und Manni habe erbarmungswürdig gefroren und zwei Pullover übereinander getragen.

Er schildert seinen Eltern einen »cold turkey« als Grausamkeit, bei der es keine abschirmenden Medikamente gibt. Siebert glaubt, daß Manni gegen Ende seines Aufenthalts auf Alkohol umgestiegen ist.

Manfred Siebert wechselt nach seiner Entlassung in ein Übergangszentrum für Süchtige, die noch keinen Therapieplatz haben. Manni möchte bei »Synanon« aufgenommen werden, einer von ehemaligen Drogenabhängigen selbstverwalteten Therapieeinrichtung. Zu seinem ersten, um neun Uhr angesetzten Kontaktgespräch bei »Synanon« fährt Manfred Siebert eine U-Bahn-Station. zu weit. Er kommt vierzig Minuten zu spät und wird auf den nächsten Tag beschieden.

Manni geht nicht mehr in das Übergangszentrum zurück, sondern klingelt zu Hause. Seine Mutter glaubt ihm die U-Bahn-Geschichte und läßt ihn in die Wohnung. Für den nächsten Morgen nimmt Siebert sich frei und setzt Manni pünktlich vor »Synanon« ab. Die Tatsache, daß Manni nicht aus eigener Kraft, sondern vom Vater chauffiert, auftauchte, läßt wieder kein Aufnahmegespräch stattfinden.

Manfred Siebert kauft sich danach im Intershop am S-Bahnhof Friedrichstraße mehrere Flaschen Schnaps, die pro Stück 3 Mark 70 kosten. Er schleicht sich in den elterlichen Keller am Kadettenweg und Übernachtet dort vier Nächte. Siebert sagt: »Er hat für ein paar Brötchen seine Uhr verscheuert, und jemand aus dem Haus hat ihm Äpfel zugesteckt.«

Siebert kommt mit Fieber von der Arbeit. Er habe sich gerade ins Bett geknallt, als es klingelt und ein Nachbar seiner Frau die Mitteilung macht, daß der Manni im Keller campiert. Die Mutter sieht ihn unten am Geländer stehen, wie er hochguckt und bettelt: »Bitte, Mama, laß mich rein!«

Manni nimmt Stufe um Stufe, ohne daß es seine Mutter wahrnimmt. Als er oben vor der offenen Tür angekommen ist, ruft der fiebernde Siebert raus: »Du kommst rein, wenn du morgen wieder dahin gehst!« Morgens bekommt Manni Geld für die U-Bahn.

Manfred Sieberts dritter Anlauf bei »Synanon« scheitert daran, daß er, befragt, warum er komme, geantwortet hat: »Meine Eltern wollen das.« Manni taucht zwei Tage unter. Gegen Mitternacht des zweiten Tages werden Sieberts benachrichtigt, daß er ml alkoholischen Delirium ins Albrecht-Achilles-Krankenhaus eingeliefert worden ist. Frau Siebert ruft ihren ältesten Sohn an. Der sagt ihr: »Mama, du mußt raus aus Berlin. Der Manni schafft es nie, solange er weiß, du bist da.« Frau Siebert geht am folgenden Tag ins Krankenhaus und besteigt dann den Zug nach Hamburg, wo sie eine Schwester hat.

Zu Hause liegt Siebert immer noch mit Fieber, versorgt von »den Kindern Nach einer Woche, der große Bruder kommt gerade die Treppe hoch, sitzt Manni belagernd vor der Tür. Der Vater öffnet und sagt zu dem Großen: »Du kommst rein, und der bleibt draußen.«

Manni hat sich inzwischen die Hose vollgepinkelt. Siebert, der einen seiner vielen Schwüre wahr machen will, reicht dem Manni eine frische Hose durch die Tür, die er sich, wie er ihm rät, im Keller anziehen könne.

Bevor Manfred Siebert Anstalten macht, in den Keller zu gehen, steht sein Bruder neben ihm. Er faßt ihn um die Schulter. Manni wechselt die nasse Hose in dessen VW. Der Bruder fährt mit ihm spazieren und redet über die Therapie. Er nimmt ihn die Nacht über zu sich und gibt ihm morgens Fahrgeld.

Manni kommt vor neun bei »Synanon« an. Der Bruder steht versteckt in der Nähe und sieht, wie der Manni reingeht. Er wartet bis etwa 16 Uhr, ruft dann den Vater an und sagt: »Papa, ich glaube, sie haben ihn genommen.«

Das war am 12. Mai 1979. In dem halben Jahr seither hat sich Manfred Siebert daheim nicht mehr gemeldet. Sieberta wissen von dem Synanon-Gesetz? Kontakte mit Eltern erst mal zu lassen. Frau Siebert hofft, daß Manni Achtung vor sich selbst bekommt. Gleichzeitig fürchtet sie seine innerliche Entfernung. Sie fürchtet, daß sie ihn verliert. Sie sagt: »Er dürfte nicht wissen, daß ich so was denke.«

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