Zur Ausgabe
Artikel 20 / 81

WANDERBURSCHEN Auf die Glocke

Die Handwerker-Zünfte haben wieder Konjunktur, auch Frauen tippeln mit. *
aus DER SPIEGEL 47/1985

Sie tragen Schlapphut und Ohrringe, schwarze Trichterhosen und eine perlmuttgeknöpfte Weste über dem weißen Hemd. In ihrer Kluft fallen sie auf wie Pinguine in einer Spatzenschar.

Sie ziehen spätabends durch Lokale, bitten »mit Gunst und Verlaub« um »einen Nachtgroschen«, und kaum einer der Gäste kann dem Charme der selbstbewußten Burschen widerstehen.

Es sind Handwerker, wie sie in der Bundesrepublik zuletzt nur noch auf Operettenbühnen vorkamen, die aber neuerdings wieder Zulauf haben: die sprichwörtlich armen Wandergesellen.

Sie tippeln wieder. Rund 350 westdeutsche Bauhandwerker sind derzeit weltweit auf der Walz, vor zehn Jahren war es nur ein Dutzend. Die fünf »Schächte«, in denen sich die Gesellen zusammengeschlossen haben, sind auf 2000 Mitglieder angewachsen.

Den Boom mitbewirkt haben alternative Handwerker, die sich vor drei Jahren in der Vereinigung »Axt und Kelle« zusammenfanden und alte Zöpfe wie das Prinzip des reinen Männerbundes kappten. Seither ziehen auch Frauen von Baustelle zu Baustelle.

Schon wittern Politiker eine Chance, die Arbeitslosenzahlen zu retuschieren. Da Wandergesellen nicht in den Arbeitsmarkt-Statistiken auftauchen, könnte man, so das Kalkül, einen Teil der rund 170 000 Bauhandwerker ohne Job einfach zu Reisenden erklären. Im Straßburger Europaparlament wurde dafür schon die Berufsbezeichnung »Europageselle« erfunden.

Gegen solche Vereinnahmung wehren sich die Zunftgesellen. »Tippeln aus Not«, versichert Hans Lau, 50, Altgeselle des Schachtes »Rechtschaffene Fremde«, komme »von jeher nicht in Frage«. Schon aus »Traditionsstolz«, so auch Jürgen Rehren, 25, von den »Freien Vogtländern Deutschlands«, greife er »auf das Vorsprechen in Lokalen« erst dann zurück, wenn »der letzte Groschen verbraten« und »echt keine Arbeit in Sicht« sei.

Tradition wird bei den Wandergesellen großgeschrieben. Denn der Brauch ist 700 Jahre alt, bis zum 19. Jahrhundert war das Wandern sogar Gesellen-Pflicht.

Zusammengeschlossen hatten sich die Jung-Handwerker einst, um Forderungen nach mehr Lohn, besserer Kost und erträglichen Arbeitsbedingungen gegen die patriarchalisch strukturierten Meisterzünfte durchzusetzen. Sie gründeten eigene Sozialeinrichtungen, beispielsweise Krankenkassen, und waren Vorläufer der Gewerkschaften. Wegen ihrer Nähe zur SPD und Arbeiterbewegung - auch August Bebel ging auf die Walz - wurden sie von den Nazis verfolgt.

Die Wanderschaft dauert, je nach Schachtzugehörigkeit, zwei oder drei Jahre. In dieser Zeit arbeiten die Gesellen jeweils sechs bis acht Wochen auf einer Baustelle. Dann ziehen sie weiter, zu Fuß, per Anhalter und bei Fernreisen mit Zug oder sogar Flugzeug, wenn der Lohn es erlaubt.

Unterwegs schlafen die mobilen Handwerker, je nach Wetterlage, mal im

Freien, mal in ihren »Buden«. So heißen Unterkünfte, die seßhaft gewordene Ex-Reisende ihnen anbieten, in Lübeck, Kassel oder Bern, aber auch in den USA, in Japan und Australien.

Doch die Wanderidylle trügt. Romantiker, sagt Bernhard Schwarz von den »Rolandsbrüdern«, die »in ihrer Marlboro-Phantasie« glauben, das Wandern bestünde darin, »sich ein Hähnchen zu jagen und am Lagerfeuer zu hocken«, haben auf der Walz »nichts zu suchen«. Schwarz, in den fünfziger Jahren von Südafrika bis Grönland gereist: »Wir erleben mal ein Abenteuer, aber wir sind keine Abenteurer.« Hauptanliegen des Schachtwesens seien vielmehr »die Pflege der Handwerkskultur und die Völkerverständigung«.

Schwarz, im Nebenberuf Holzbildhauer, wundert sich denn auch »kein bißchen, daß die Zünfte wieder im Kommen sind«, seit »der Beton-Boom zurückgeht und alte Materialien wie Holz und Schiefer wieder an Wert gewinnen«. Und was das geeinte Europa angeht, da sind die Gesellen den Politikern ein gutes halbes Jahrhundert voraus: Seit 1921 bestehen enge Kontakte zu den französischen Wanderschächten. 1980 schlossen sich die rund 10 000 deutschen, französischen und skandinavischen Zunft-Handwerker zu den »Compagnonnages Europeens-Europäische Gesellenzünfte« (C.E.G.) zusammen. Sie treten, so C.E.G.-Präsident Lau, für ein »freies und vereintes Europa« ein.

Die Gesellen auf der Walz pflegen einen eigenen Jargon, ähnlich dem Rotwelsch der Gauner und Vagabunden. Wäsche und Handwerkzeug verstauen sie im »Charlottenburger«, einem zur Rolle gebundenen Tuch. Auf dem Kopf tragen sie den »Obermann«, den sie nur, so Rehren, »zum Essen, Schlafen oder zum Geschlechtsverkehr« abnehmen.

Die »Fremdgeschriebenen«, wie die herumreisenden Handwerker genannt werden, müssen unverheiratet sein - Jung-Gesellen eben. Während der Wanderschaft dürfen sie ihrem Heimatort nicht näher als 50 Kilometer kommen.

Die Schacht-Abzeichen heißen »Ehrbarkeit": schwarze, blaue oder rote Schlipse, bei den »Vogtländern« eine goldene Nadel an der »Staude« (Hemd), ein einheitlicher Ohrhänger weist den Träger als Mitglied von »Axt und Kelle« aus. Ihre Statuten halten die Schächte geheim, ursprünglich, um sich gegen die Obrigkeit zu schützen. Ihre harten Strafen gegen ungehorsame Mitglieder - körperliche Zucht bis aufs Blut - haben die Bruderschaften erst in diesem Jahrhundert abgeschafft. Bei ihren monatlichen Gelagen »auf dem Handwerksaal« sind Außenstehende nicht zugelassen.

Die strengen Sitten waren auch ein Grund dafür, daß sich vor drei Jahren jüngere Gesellen von der lebenslangen Mitgliedschaft bei den traditionellen Schächten lossagten. Die achtzig Mitglieder von »Axt und Kelle«, darunter viele Abiturienten, wollen beispielsweise nicht einsehen, daß wanderlustige junge Frauen, die ein Bauhandwerk erlernt haben, von den etablierten Zünften abgewiesen werden.

Es gehe, verteidigt Rolandsbruder Schwarz den Männerbund, unter lauter Kerlen »eben manchmal sehr menschlich zu«, und das sei »doch nichts für Frauen«. Vogtländer Jürgen Rehren redet nicht lang drumrum: »Die Schicksen müssen draußen bleiben.«

Tischlerin Annemarie Connertz, 24, ließ sich »von den Männersprüchen« nicht beeindrucken: Seit zweieinhalb Jahren ist sie als »Axt und Kelle«-Gesellin auf der Walz. Probleme auf der Bude hat sie »überhaupt keine«. Schließlich sei das doch »eine Frage des Vertrauens« und »im Prinzip das gleiche wie in der Wohngemeinschaft«. Und auf der Baustelle komme es »am Ende bloß darauf an, was du schaffst«.

Nicht einsehen, so »Axt und Kelle«-Mitbegründer Stefan Zyzik, 30, konnten die Alternativen auch, daß sich die Schächte »immer aus allem raushalten sollen, was nach Politik riecht«. Gerade Wandergesellen, so Zyzik, »die mit offenen Augen durch die Welt reisen«, könnten »nicht neutral bleiben in dieser Zeit am Rande der menschlichen und ökologischen Katastrophe«. Bevorzugt

arbeiten »Axt und Kelle«-Leute auf Baustellen, mit denen die Gesellen »sich handwerklich und inhaltlich identifizieren« können (Zyzik).

Wie jetzt im Wendland: Dort zimmern acht von ihnen an einem kunstvollen Fachwerkhaus, gedacht als Bildungszentrum und als Treffpunkt für die Gegner des atomaren Zwischenlagers Gorleben. Das paßt zum Motto der alternativen Gesellen: »Kasernen, Schießstände und Festungen errichten, der Freie vom Schacht sollte darauf verzichten.«

Zwar betonen die »Axt und Kelle«-Burschen, sie seien »absolut wertkonservativ«, wollten lediglich »nicht in alten Formen und Ritualen erstarren«. Doch die etablierten Schächte machen gegen sie Front.

Das sei, schimpft der »Rechtschaffene Fremde« Lau, doch »keine Handwerkszunft, sondern eine linke politische Gruppe«. Und der »Vogtländer« Rehren rät den Gesellen vom anderen Schacht, ihm nicht über den Wander-Weg zu laufen: »Wenn ich einen von Axt und Kelle treffe«, droht er, »kriegt der welche auf die Glocke.«

Zur Ausgabe
Artikel 20 / 81
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten