FLIEGEN / VOGELMENSCHEN Auf Flügeln zur Erde
Das Flugzeug kreiste in dreitausend Meter Höhe. Oberfeldwebel Léo Valentin, Ausbilder an der ersten Fallschirmspringer-Schule der französischen Luftwaffe in Pau, stand sprungbereit neben der geöffneten Tür der Maschine.
Er empfand keine Angst. Springen war für ihn Routine. Über einhundertfünfzig Mal hatte er sich schon - den Hauptfallschirm auf dem Rücken, den Reserveschirm auf der Brust - in die Tiefe geworfen.
Valentin kannte die Tücken des freien Falls ohne Einflußmöglichkeiten auf die Körperhaltung. Oft genug hatte er erlebt, daß sich Kameraden während des Absprungs in den Leinensträngen des Schirms verhedderten. Als sie dann die Reißleine zogen, bildete sich über ihnen statt des geblähten weißen Schirms eine »Fackel«, ein flatterndes und nutzloses Stoffgebilde. Die Folgen waren stets die gleichen: Salutschüsse über einem offenen Grabe.
Jahrelang hatte Sprunglehrer Léo Valentin vergebens über die Frage nachgegrübelt, weshalb Tänzer, Akrobaten und die Turmspringer des Schwimmsports während des Fluges durch die Luft ihren Körper in der Gewalt behalten könnten und ein Mann mit Fallschirmpaketen auf Rücken und Brust nicht. Der Vergleich hinkte natürlich, denn gegenüber den 200
bis 210 Stundenkilometern, mit denen der Fallschirmspringer während des freien Falls in die Tiefe stürzt, sind die Fluggeschwindigkeiten der Turmspringer gering. Aber sollte es nicht trotzdem eine Möglichkeit geben, den Körper auch beim Fall aus großen Höhen zu steuern?
Auf die Idee, wie das zu schaffen sei, kam Oberfeldwebel Valentin dann durch einen simplen Küchentrichter, der zufällig aus einem Küchenfenster im zweiten Stock eines Wohnhauses fiel. Augenzeuge Valentin stellte verblüfft fest, daß das nützliche Gerät weder trudelte noch sich überschlug, sondern ruhig mit der Spitze voran zu Boden plumpste.
Valentin überlegte: Wenn es ihm gelingen sollte, seinen Körper während des Fallens in eine trichterähnliche Stellung zu bringen, würde er vielleicht auch nicht mehr hilflos durch die Luft wirbeln, sondern - wie der Trichter - das Gleichgewicht halten können.
Vor dem Wandspiegel seiner Kasernenstube probierte er trichterähnliche Stellungen aus: hohles Kreuz, gewölbter Brustkasten, so weit wie möglich nach rückwärts gespreizte Arme und Beine. So würde der Springer der Luft eine konvexe Fläche bieten, so würde er mehr einem Vogel als einem Sandsack gleichen. Vorausgesetzt, daß es ihm überhaupt gelänge, bei der rasenden Sturzgeschwindigkeit diese Haltung einzunehmen.
Es kam auf einen Versuch an, auf den Versuch, der Léo Valentin bevorstand, als das Trainingsflugzeug der französischen Fallschirmspringer-Schule mit ihm über dem Luftwaffen-Übungsgelände von Pau in dreitausend Meter Höhe kreiste.
Noch einmal holte der Oberfeldwebel tief Luft. Dann machte er das Kreuz hohl, streckte den Brustkasten heraus, spreizte die Arme und Beine und warf sich ins Nichts.
Die nächsten Sekunden beschreibt Léo Valentin in seinem Buch »Der Vogelmensch«, das soeben in Deutschland erschienen ist*): »Plötzlich durchströmte mich unbeschreibliches Wohlbehagen. Wäre der Wind nicht gewesen, so hätte ich glauben können, unbeweglich im Himmel zu liegen. Flach auf dem Bauch, fast ohne mich zu rühren, bettete ich mich in diese Luftschichten ein.« Fünfhundert Meter über dem Erdboden zog er die Reißleine. Sicher schwebte er am Fallschirm zu Boden.
An diesem Tage sprang Valentin noch dreimal in dreitausend Meter Höhe aus der Trainingsmaschine. Jedesmal ließ er sich in der neuentdeckten Haltung - die später als »Position Valentin« bekannt wurde - bis fünfhundert Meter frei durchfallen und machte währenddessen Steuerungsexperimente. Er lernte, daß er nur die eine oder
*) Léo Valentin: »Der Vogelmensch«, Eberhard Brockhaus Verlag, Wiesbaden. 156 Seiten, 5,50 Mark. andere Hand aus der Waagerechten in die Senkrechte zu drehen brauchte, um nach rechts oder links zu fallen. Wenn er die gespreizten Beine zusammenklappte, begann sofort das übliche Kreiseln, das die Fallschirmspringer in ihrem Jargon »eine Majonäse machen« nennen.
Um die gefährlichen Kreiselbewegungen zu beenden, die oft eine Ohnmacht auslösen, genügten winzige Handbewegungen und das Öffnen der Beine. Valentins Glieder erwiesen sich als natürliche Flossen, derer es sich nur zu bedienen galt.
Bis dahin hatten die militärischen Vorgesetzten des Oberfeldwebels Léo Valentin die waghalsigen Eskapaden ihres Springers gegen den Widerstand des zuständigen Ministeriums unterstützt. Als aber Valentin vorschlug, die Periode des freien Falls mittels angeschnallter Flügel zu verlängern, verweigerten ihm auch seine Gönner die Unterstützung.
Die Sprung-Experimente des Oberfeldwebels hatten immerhin noch einen gewissen militärischen Wert gehabt. Zwar nicht für die Angehörigen der Fallschirmjägertruppe, die im allgemeinen in so niedrigen Höhen abgesetzt werden, daß sie sofort nach Verlassen des Transportflugzeuges die Reißleine ziehen müssen, aber wohl für Flugzeugbesatzungen, die in größeren Höhen zum »Aussteigen« gezwungen sein könnten. Wenn auch keiner dieser Piloten, Bordfunker und Mechaniker über die Fallschirmroutine eines geübten Springers verfügt, so geben ihnen doch die Erkenntnisse Valentins die Gewißheit, daß der menschliche Organismus Stürze von mehreren tausend Metern ohne Schaden überstehen kann. Würden sie dagegen den Fallschirm in mehr als viertausend Meter Höhe öffnen, so müßten sie in diesen eisigen, sauerstoffarmen Schichten der Atmosphäre erfrieren oder ersticken. Mithin hatten die Sprungversuche Valentins praktische Erkenntnisse vermittelt.
Romantische Flügel-Schwärmereien im Stil eines Ikarus oder eines Schneiders von Ulm wollte die französische Luftwaffe jedoch nicht dulden. Als Valentin das merkte, quittierte er kurz entschlossen den Dienst.
Seine Karriere als »Vogelmensch« begann am 30. April 1950 auf einer Flugveranstaltung im Villacoublay. Vor 300 000 Zuschauern sprang er in 4500 Meter Höhe zu seinem ersten »Vogelflug« mit Segeltuchflügeln
aus der Maschine: »Ich wurde fast gevierteilt, als der Wind meine Flügel erfaßte. Die Wucht des Windstoßes kippte meinen Kopf vornüber. Ich konnte einfach nicht die beim freien Fall gewohnte Sicherheit finden. Wenn das alles war, was man mit Flügeln anfangen konnte, war es nicht der Mühe wert. Als Schauspiel vielleicht, aber es war kein Fortschritt in der Falltechnik.«
Nach Entfaltung des Schirms landete Valentin zwar wohlbehalten auf dem Flugplatz, aber die Masse des Publikums war enttäuscht. Es hatte keinen leichtbeschwingt durch die Luft segelnden Vogelmenschen gesehen, sondern einen in Lederzeug vermummten Mann, der trotz seiner Flügel wie ein Stein zu Boden sauste.
Wenige Tage später wiederholte Valentin seinen Versuch über dem Flugplatz von Meaux-Esbly. Nur Journalisten, Vertreter des Aeroclubs und ein Notar waren eingeladen. Und diesmal gelang es dem »Vogelmenschen«, mit ausgebreiteten Flügeln in seiner berühmten »Position Valentin« aus dem Flugzeug zu springen und diese Haltung bis zum Öffnen des Fallschirms beizubehalten.
Nach einer glatten Landung schlossen ihn die Zeitnehmer in die Arme und küßten ihm begeistert die Wangen. Die Uhren bewiesen nämlich übereinstimmend. daß er dank der Flügel nicht mit den üblichen zweihundert, sondern nur mit etwa einhundertfünfzig Stundenkilometern gefallen war. Das war der Beginn des Vogelfluges.
Verbissen arbeitete Valentin an einer Verbesserung der Flügel-Konstruktion. Im Windkanal einer Flugzeugfabrik probierte er Holzflügel aus, die ihm sein Freund Collignon gebaut hatte, ein kleiner Vorstadtfabrikant, der seine ganze Freizeit und sein ganzes Vermögen auf die Verwirklichung des Ikarus-Traumes verwendet.
Mit diesen Holzflügeln gelang Valentin am 3. Mai des vergangenen Jahres die bisher überzeugendste Leistung. Bis zum Öffnen des Fallschirmes sauste er nicht mehr senkrecht zu Boden, sondern schwebte über fünf Kilometer weit in diagonaler Richtung.
Seitdem hat sich Valentin ein neues Endziel gesteckt: Er will seine Flügel soweit verbessern, daß er eines Tages ohne Fallschirm abspringen kann. Die Flügel sollen ihn bis zur Erde tragen.