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ITALIEN / NEAPEL Auf Löchern

aus DER SPIEGEL 43/1969

An der Via Aniello Falcone, die sich oberhalb des Golfs von Neapel zum Prominentenhügel Vomero emporwindet, diskutierten drei Männer über Risse, die sich tags zuvor in der Straßendecke aufgetan hatten: der Apotheker Alfredo Cerrato, 51, der Maurer Pasquale Amato, 49, und der Verkäufer Luigi Sorrentini, 17.

Plötzlich barst der Boden unter ihnen. Ein 50 Meter langer Trakt der Via Aniello Falcone versank, und die drei stürzten in einen 25 Meter tiefen Abgrund. Maurer Amato und Verkäufer Sorrentini konnten -- verletzt -- geborgen werden. Apotheker Cerratos Leiche fand man erst eine Woche später.

An den darauffolgenden Tagen registrierte die Polizei 18 weitere große Erdrutsche in der Stadt. Im Viale Maria Cristina versank gleich ein 200 Meter langer Straßenabschnitt, und an der Piazza Pignasecca, im Herzen Neapels, flüchteten die Bewohner zu Hunderten, als weite Teile des Platzes plötzlich metertief absackten.

Am 7. Oktober verhinderte der Verkehrspolizist Amedeo Santangelo eine Katastrophe. Während er in der Via Cilea den Verkehr regelte, wurde ihm plötzlich schwindlig, und er spürte, wie die Erde unter ihm nachgab. Santangelo ließ sofort die Straße sperren und rief Straßenbautechniker, die unter der Via Cilea und den anliegenden Wohnhäusern ausgedehnte Hohlräume entdeckten.

Neapels Flughafen Capodichino, auf dem täglich 300 Flugzeuge starten und landen, mußte vorübergehend gesperrt werden, als sich auf der Hauptpiste breite Risse und Löcher bildeten.

»Wenn Piloten und Fluggäste meinten, sie seien glücklich gelandet, schwebten sie in Wahrheit noch auf einem hauchdünnen Asphaltmantel über dem Abgrund«, schrieb das römische KP-Blatt »L'Unità«.

Das Häusermeer der 1,3-Millionen-Stadt Neapel steht »auf einem riesigen Schweizer Käse« ("L'Espresso"): In dem weichen Tuffstein-Untergrund gibt es Tausende von Höhlen, Trichtern, Tunneln und Auswaschungen.

Jedes Jahr im Herbst, wenn der Regen kommt, gerät Neapels löcheriger Untergrund in Bewegung. Das noch aus der Zeit der Bourbonen stammende Kanalsystem kann die Wassermassen nicht ins Meer lenken. Die unterirdischen Kanäle bersten, das Wasser wäscht unter den Straßen und Wohngebäuden immer neue Hohlräume aus. Gärten und Grünflächen, die einen Teil des Regenwassers aufsaugen könnten, sind der Bauspekulation zum Opfer gefallen. Folge: 3911 Erdrutsche und 13 Todesopfer in fünf Jahren.

Aus den Unglücksfällen zog die Stadtverwaltung nur eine Konsequenz: Sie versicherte ihre Bürger -- für eine Jahresprämie von 70 Millionen Lire (416 000 Mark) gegen Unfälle, die vom unzureichenden Kanalsystem herrühren.

»Eines Tages«, unkte die Mailänder Wochenzeitung »ABC«, »wird Neapel untergehen. Sicher wird es im Herbst sein, wenn die großen Regenfälle begonnen haben. Dann werden die am Vomero, am Posilippo und an den anderen Hügeln hängenden Neubauquartiere anfangen, ins Meer zu rutschen: Es wird eine Art Stapellauf Neapels sein.«

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