Auf Nummer unsicher
Eltern erzählen gern stolz von ihren Kindern. Von guten Schulnoten, ausgezeichneten Universitätsabschlüssen und dem ersten tollen Job. Wenn Eltern heute über ihre wohlgeratenen erwachsenen Kinder reden, klingt das meist eher nach Selbsthilfegruppe: »Oje, hat deiner auch noch nichts Festes?«
Sie erzählen vom Sohn, der vier Sprachen spricht und trotz Einser-Examen nur Praktikumsstellen findet. Vom Assistenzarzt, der nach Ablauf seines Jahresvertrags plötzlich auf der Straße steht. Von der Diplommeteorologin, die von Hartz IV lebt und als Ein-Euro-Jobberin an ihrem Institut weiterforscht. Oder von der befristet beschäftigten 32-Jährigen, der die Zukunft so wenig planbar erscheint, dass sie sich kein neues Sofa anschafft - geschweige denn ein Kind.
Für junge Berufseinsteiger hat sich die Arbeitswelt verändert. Während ihre Eltern nach Lehre oder Studium quasi automatisch in ein festes Arbeitsverhältnis rutschten, ist für die Kinder eine gute Ausbildung längst nicht mehr die Eintrittskarte in ein abgesichertes Erwerbsleben. Für jene Hochschulabsolventen, die seit 2001 Examen gemacht haben, sind feste Stellen knapp: Von den bislang gut 22 000 Teilnehmern der Online-Befragung »Studentenspiegel 2 - die Umfrage für Berufseinsteiger«, die der SPIEGEL derzeit mit der Beraterfirma McKinsey durchführt, gab nur ein Drittel an, eine unbefristete Anstellung zu haben.
Stattdessen hangeln sich heute immer mehr Berufsanfänger als Praktikanten, Mehrfachjobber oder Honorarkräfte durch die neue Arbeitswelt, mit befristeten Verträgen oder ganz ohne, mit schlechter oder gar keiner Bezahlung, zeitlich stets flexibel und immer mobil.
Sicherheit bieten diese neuen Formen des Arbeitsalltags nicht - im Gegenteil: Sie fördern einen Prozess der Verunsicherung, den Soziologen mit dem Wort »prekär« beschreiben. »Prekär heißt sehr vieles. Prekarität betrifft alle, die kein altes Normalarbeitsverhältnis haben, sondern vertraglich, zeitlich, räumlich flexibel arbeiten«, sagt der Münchner Soziologe Ulrich Beck (siehe auch Interview Seite 50). »Die Prekarität wird für eine ganze Generation zur Voraussetzung, weil immer mehr junge Menschen überhaupt kein festes Arbeitsverhältnis bekommen.«
Im neuen Jahrtausend lebt nicht mehr bloß der saisonal beschäftigte Hilfsarbeiter prekär - die Entwicklung hat die akademisch gebildete Mittelschicht erreicht. In Frankreich tragen inzwischen junge, zumeist hochqualifizierte Menschen dieses Label. Und die »génération précaire« begehrt auf: Mit Massenprotesten und Straßenkämpfen wehrten sich die Jungen im Frühjahr dieses Jahres gegen ein neues Gesetz, das die Probezeit für Berufsanfänger auf zwei Jahre heraufsetzen sollte. Ein ähnliches Gesetz will auch die Große Koalition in Deutschland nach der Sommerpause beschließen.
Die Ansprüche, die Politik, Wirtschaft und Gesellschaft heute an die Jungen stellen, sind höchst widersprüchlich: Sie sollen die Renten sichern und sich um ihre eigene Altersvorsorge kümmern, nach dem Uni-Abschluss Studienkredite abtragen, aber auch konsumieren und Familien gründen. So gerät die junge Generation zunehmend unter Druck - denn gleichzeitig sind all diese Forderungen kaum zu erfüllen.
In Italien hat die derart beanspruchte Jugend bereits einen Schutzpatron erfunden: »San Precario« ist ein Märtyrer der Gegenwart, der unterbezahlte Arbeiten verrichtet, oft schwarz beschäftigt ist und einer unsicheren Zukunft entgegensieht.
Unter der Obhut ihres Heiligen gingen am 1. Mai im Rahmen des »Euro Mayday« europaweit in mehr als 20 Städten Hunderttausende auf die Straße. In Berlin versammelten sich vor dem Brandenburger Tor schon einen Monat zuvor ausgebeutete
Praktikanten mit weißen Masken als Zeichen ihrer Austauschbarkeit.
Bei Hochschulabsolventen wächst der Unmut darüber, dass sie auch nach dem Abschluss, nach Hospitanzen und Nebenjobs während des Studiums, immer noch als billige Arbeitskräfte auf ihre Berufstauglichkeit getestet werden.
Bis Juni unterzeichneten im Internet mehr als 40 000 Menschen eine Bundestagspetition der Ex-Praktikantin Désirée Grebel, 29. Sie fordert darin, dass Praktika von entsprechend ausgebildeten Hochschulabsolventen nach drei Monaten in ein reguläres Arbeitsverhältnis umgewandelt werden. Begründung: »Unzählige hochqualifizierte Menschen arbeiten ohne Entlohnung oder gegen einen Lohn, der unter dem Existenzminimum liegt. Solche sogenannten Praktika dienen nicht der Aus- und Weiterbildung.«
Den immer wieder erhobenen Vorwurf, Praktikanten jammerten auf hohem Niveau, teilt Désirée Grebel nur bedingt. »Im Gegensatz zu den Nachkriegskindern habe ich es natürlich einfach«, sagt sie, »ich habe genug zu essen, Eltern, die mir aushelfen könnten, und im Notfall eine soziale Grundsicherung. Aber ich denke, jede Generation hat ein Problem gemeinsam. Bei uns ist das die Schwierigkeit, ein reguläres Arbeitsverhältnis zu bekommen.«
Zu den Unterzeichnern ihrer Petition gehört Kirstin Becker. Die 31-jährige Diplomdesignerin macht schon das zweite sechsmonatige Praktikum seit ihrem Abschluss in Weimar, zurzeit ist sie für 400 Euro Monatslohn bei einer Werbeagentur in Düsseldorf beschäftigt. »Ich arbeite dort wie eine volle Arbeitskraft und bringe älteren festangestellten Kollegen zudem Computerprogramme bei«, sagt sie. »Ich kann ja was leisten - es wird nur nicht gebührend honoriert.«
Wie alle Praktikanten hofft auch Becker, dass sich ihre schlechtvergütete Tätigkeit in einer anderen Währung auszahlt: in guten Referenzen und Kontakten, die eines Tages vielleicht zu einer festen Anstellung führen. Es ist ein permanenter Überbrückungszustand, den in vielen Fällen die Eltern finanziell mittragen, weil es anders gar nicht ginge. Kirstin Becker bekommt im Monat 600 Euro von zu Hause, krankenversichert ist sie immer noch über ihre Mutter, der Vater hat eine Altersvorsorge für sie abgeschlossen. »Ohne die Hilfe meiner Eltern wäre ich aufgeschmissen.«
Dass erwachsene Menschen wie Halbwüchsige leben, ist eine Begleiterscheinung des Praktikantendaseins. Während ihrer Zeit in Düsseldorf hat Kirstin Becker sich bei einem älteren Ehepaar eingemietet, im Zimmer der ausgezogenen Tochter. »Ich lebe immer noch wie eine Studentin«, sagt Becker. »Es ist ein Leben aus der Bananenkiste. Einerseits ist es praktisch, wenig Ballast zu haben und flexibel zu sein. Aber andererseits bekommt man bei diesem Leben auf dem Sprung auch das Gefühl, dass man nirgends so richtig sein darf.«
Eine wachsende Zahl hochqualifizierter Berufsanfänger sieht in Deutschland gar keine Perspektive mehr - und wandert deshalb aus. Der Bauingenieur Benjamin König fand hier nach seinem Abschluss vor vier Jahren keine Stelle, dafür aber in England und später in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Heute arbeitet der 32-Jährige festangestellt im englischen Manchester.
»In Deutschland«, sagt er, »hatte ich diese Perspektive nicht.«
Die Streiks und Proteste junger Assistenzärzte, die in etlichen deutschen Städten für bessere Verträge demonstrieren, zeigen ebenfalls, wie sehr sich hierzulande die Aussichten von Berufsanfängern im Vergleich zu früheren Generationen verschlechtert haben. Malochen mussten junge Mediziner schon immer, aber sie konnten damit rechnen, dass sich die Plackerei eines Tages auszahlt - mit einer Praxis als Goldgrube oder einem schicken Chefarztposten. »Früher hat man vieles erduldet, weil man wusste, dass es vorübergehend war«, sagt Jörg-Dietrich Hoppe, der Präsident der Bundesärztekammer. »Das geht heute nicht mehr, die Ärzte wissen nicht, was aus ihnen wird.«
Solche Unsicherheiten, mit denen die jungen Berufseinsteiger umgehen müssen, waren ihren Eltern fremd. Nicht nur die Deutschen durchleben diesen Generationsbruch. Im Rahmen des fünfjährigen Projekts »Globalife« hat ein internationales Wissenschaftlerteam um den Soziologen Hans-Peter Blossfeld von der Universität Bamberg die Lebensverläufe junger Erwachsener in Deutschland und in 17 weiteren OECD-Staaten untersucht. Zentrales Ergebnis: Die Jungen sind die Verlierer der Globalisierung.
»Es scheint paradox«, sagt Blossfeld, »zum einen sind diese jungen Leute ja viel mehr auf die Internationalisierung eingestellt als frühere Generationen: Sie sprechen viele Fremdsprachen und haben viel mehr Auslandserfahrung. Aber auf der anderen Seite haben sich durch die Globalisierungsprozesse die Beschäftigungsverhältnisse der jungen Leute radikal geändert.«
Eine sichere, lebenslange Festanstellung ist für viele Junge heute bestenfalls ein fernes Ziel. Die sogenannten Normalarbeitsverhältnisse, also unbefristete, sozialversicherungspflichtige Arbeitsstellen, deren Anteil 1968 in Westdeutschland noch bei über 75 Prozent lag, sind bis zum Jahr 2002 auf gut 60 Prozent zurückgegangen. Die Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse hat dagegen deutlich zugenommen (siehe Grafik).
Die Auswirkungen dieser Entwicklung spüren vor allem die Berufsanfänger - denn für Unternehmen, die in der globalisierten Wirtschaft konkurrenzfähig bleiben wollen und dafür feste Stellen streichen, ist es am einfachsten, die Verträge von Neueinsteigern entsprechend anzupassen.
Die Globalife-Studie hat ergeben, dass dadurch junge Erwachsene nach Abschluss ihrer Ausbildung eine Übergangsphase von drei bis fünf Jahren erleben, in der sie mit unsicheren Beschäftigungsverhältnissen konfrontiert werden.
Darüber wird geklagt, aber nicht nur. Denn in gewisser Weise kommt die veränderte Arbeitswelt der jungen Generation in ihrem Streben nach Freiheit und Selbstverwirklichung sogar entgegen.
In Städten wie Berlin, Köln, Hamburg oder München bevölkert eine neue Avantgarde von kreativen Multijobbern mittlerweile ganze Stadtviertel. Designer verkaufen tagsüber Filzhandtaschen in minimalistisch gestylten Ladenlokalen und bestücken nachts Supermarktregale mit Toilettenartikeln, junge Menschen, die »eigentlich Drehbücher schreiben«, bedienen in Straßencafés - und alle sind irgendwie »selbständig«.
Claudia Schmidt hat Politikwissenschaft studiert. Heute sitzt sie zwischen freundlich lächelnden Schutzengeln aus Holz, Plastikerdbeeren und anderen bunten Überflüssigkeiten. »Staubfänger«, so hat die 30-Jährige den Laden genannt, den sie gemeinsam mit ihrer Freundin Stephanie York im Münchner Glockenbachviertel betreibt.
Die fliederfarbenen Wände, der Latte macchiato, den Claudia Schmidt serviert, die fröhlichen Begrüßungen, die sie den Freunden zuruft, die kurz den Kopf zur Tür reinstecken - das alles sieht ziemlich heiter und schick aus. »Ich verkaufe gern«, sagt Schmidt, »aber nur Sachen, die ich mag.« Deswegen sind ihr die »Staubfänger« auch »wichtig«, wichtiger als die H & M-Klamotten, die sie früher in einer Filiale der schwedischen Modekette nebenher verkauft hat, weil der eigene Laden nicht fürs eigene Leben reicht, weil die Selbständigkeit nicht selbständig macht.
Derzeit arbeitet sie zusätzlich in Teilzeit beim Fernsehsender Premiere. »Assistentin« heißt Schmidt da, als »Mädchen für alles« übersetzt sie es. 900 Euro ergeben Teilzeitjob und Laden für sie im Monat zusammen, das Ein-Zimmer-Apartment teilt sie sich mit ihrem Freund. Wann der Bruder, der ihr das Startkapital für den »Staubfänger« spendierte, sein Geld zurückbekommt, weiß Schmidt noch nicht. Sie ist froh, dass sie das vollgetankte Auto der Eltern benutzen darf, dass die Mutter manchmal den Kühlschrank füllt und der Vater die Stromnachzahlung begleicht.
Die Mütter und Väter der Wirtschaftswundergeneration haben ihren Kindern und Enkeln einen robusten materiellen Teppich hingelegt, auf dem diese sich austoben konnten. Aufgewachsen in finanzieller Sicherheit und Stabilität, wurden die Kinder der 68er vor allem zur Selbstverwirklichung erzogen. Talente galt es zu fördern, Potentiale auszuschöpfen, von der musikalischen Früherziehung über die rhythmische Sportgymnastik bis zum Aquarellmalkurs in der Kinder-Kunstschule. Das Motto hieß: Tue, was dir Spaß macht, lerne, was dir gefällt, einen Job findest du sowieso - bei den Eltern selbst ist es schließlich auch so gewesen.
Der Imperativ der Selbstverwirklichung machte Flexibilität zum Wert an sich. Flexibilität
bedeutete vor allem Freiheit - die Freiheit, sich nicht festlegen zu müssen. Nur wer sich ständig verändert, kann all seine Potentiale nutzen. Nur wer sich alles offenhält, kann alle Möglichkeiten wahrnehmen.
Und so stricken Jugendliche und Studenten heute an Lebensläufen, die möglichst breitgefächerte Interessen und vielfältige Fähigkeiten aufzeigen. Sie verbringen ein Schuljahr in den USA, studieren nicht nur Volkswirtschaftslehre, sondern nebenbei auch Kunstgeschichte, wechseln den Hochschulort, jobben im Marketingbereich und setzen sich gleichzeitig bei der lokalen Gruppe von Amnesty International ein.
Angespornt werden sie dabei durch Personalverantwortliche, die von Bewerbern heute nicht nur fachliche Qualifikationen, Praxiserfahrung und Fremdsprachenkenntnisse fordern, sondern auch »Soft Skills« und »gesellschaftliches Engagement«.
»Personalchefs achten immer stärker auf den gesamten Lebenslauf als bloß auf das Abschlusszeugnis«, sagt Harro Honolka vom Institut Student und Arbeitsmarkt an der Universität München. »Ohne Zusatzqualifikationen erscheint man auf dem heutigen Arbeitsmarkt nicht flexibel genug.« Bewerbungsmappen, die lediglich gute Noten vorweisen, landen bei vielen Unternehmen direkt im Papierkorb. »Wer außer einem hervorragenden Abschlusszeugnis keine Qualifikationen vorweisen kann, hat bei uns keine Chance auf eine Anstellung«, sagt etwa Nina Wessels, Personalchefin bei McKinsey Deutschland.
Und weil die Wirtschaft Flexibilität und Mobilität sowieso voraussetzt, verlassen sich die jungen Menschen darauf, dass das Projekt Leben mit den Kurzfristetappen, an das sie sich während der Ausbildung gewöhnt haben, ganz selbstverständlich nach dem Abschluss in eine Laufbahn mündet, die für sie selbst und mögliche Arbeitgeber gleichermaßen Sinn ergibt. Wenn dann zum Berufseinsteig nur ein Jahresvertrag winkt, wenn ein Umzug nötig ist, erstaunt das erst einmal die wenigsten - dass Flexibilität ein positiver Wert ist, haben die jungen Leute bereits verinnerlicht. Manch einem auf Selbstverwirklichung trainierten Bewerber erscheint zunächst nichts abschreckender als die bruchlose, 40-jährige Beamtenkarriere bei ein und demselben Arbeitgeber, welche das Leben vorangegangener Generationen bestimmte.
Irgendwann aber, wenn nach dem ersten ein zweiter befristeter Vertrag unterschrieben ist, wenn am Studienort immer noch drei Umzugskisten stehen, die darauf warten, nachgeholt zu werden, dorthin, wo das eigentliche Leben beginnen sollte, wenn die Lebenspartnerin zum dritten Mal umgezogen ist, wenn das gemeinsame Nest nur am Wochenende bevölkert ist und die eigenen Eltern nach Enkelkindern fragen, dann setzt Angst ein. Angst, vor lauter Laufen das Ankommen zu verpassen. In diesem Moment erkennen junge Erwachsene, dass Flexibilität nicht nur frei, sondern auch sehr unsicher macht - denn auf der Grundlage von Zeitverträgen lässt sich kein Leben planen.
»Die Erfahrung zunehmender Unsicherheit beim Eintritt in den Arbeitsmarkt lässt die Jugend vor langfristig bindenden Entscheidungen im privaten Bereich zurückschrecken«, sagt der Soziologe Hans-Peter Blossfeld, »das betrifft vor allem die Familienbildung.« Nicht Werteverfall und Ich-Bezogenheit sind demnach oft Gründe für den vielfachen Verzicht auf Familie, sondern Unsicherheit und Zukunftsangst.
Corinna Schubert*, 31, würde gern bald Kinder haben. Mit ihrem Freund, einem 42-jährigen Werbetexter, ist sie seit zwölf Jahren zusammen. »Irgendwas Stabiles braucht man ja«, sagt sie. Was sie daran hindert, demnächst Mutter zu werden, sind ihre berufsbedingte Mobilität und ihre befristeten Arbeitsverträge.
Bislang hat Corinna Schubert noch keine feste Stelle gefunden - das ist auch der Grund, warum sie ihren richtigen Namen nicht veröffentlichen möchte. Wie viele prekär Beschäftigte befürchtet sie, dass sie nie auf die Seite der Sicheren wechseln kann, wenn sie von den Nachteilen ihres prekären Daseins auch nur berichtet. Sie zeigt sich durchaus gefasst: »Immerhin bin ich nicht arbeitslos.«
Dass sie später überhaupt Schwierigkeiten haben würde, im Berufsleben Fuß zu fassen, damit rechnete Corinna Schubert nicht, als sie vor einigen Jahren im Anschluss an ihre Ausbildung zur Erzieherin als Beste ihres Jahrgangs das Abitur nachholte. In ihrer Heimatstadt Berlin bekam sie gleich einen Studienplatz in ihrem Wunschfach Psychologie. Während des Studiums machte sie vier Praktika in der Marktforschung und im Personalbereich, dort also, wo sie nach dem Universitätsabschluss beruflich hinwollte. »Ich dachte, damit hätte ich mich auf den Arbeitsmarkt bestmöglich vorbereitet.«
Nach ihrem Diplom ergatterte Schubert eine Jahresanstellung bei einem Meinungsforschungsinstitut in Berlin. Als der Vertrag auslief, bekam sie keine Verlängerung.
Neue Jobs werden heute in aller Regel nur auf Zeit vergeben: Fast jede zweite Einstellung erfolgt inzwischen befristet - Anfang der neunziger Jahre war es nur jede fünfte. Untersuchungen deuten darauf hin, dass derartige Beschäftigungsverhältnisse weitere Befristungen nach sich ziehen und das Risiko erhöhen, arbeitslos zu werden. Knapp ein Viertel der deutschen Hochschulabsolventen hat auch vier Jahre nach dem Abschluss zeitlich begrenzte Verträge.
Corinna Schuberts Hoffnung, die einjährige Berufserfahrung würde ihr auf dem Arbeitsmarkt einen Vorteil verschaffen, erfüllte sich nicht. Auf 20 Bewerbungen kamen Absagen, bevor sie schließlich einen neuen befristeten Job bei einem Marktforschungsinstitut an Land zog - allerdings in Mannheim. Im Frühsommer musste Schubert umziehen.
Die Suche nach einer Wohnung gestaltete sich eher mühsam: Vermieter sehen es nicht so gern, wenn Bewerber nur einen Jahresvertrag vorweisen können.
Der Freund blieb in der gemeinsamen Wohnung in Berlin, das Paar sieht sich nun
etwa jedes zweite Wochenende, »häufigere Fahrten wären zu teuer«, sagt Schubert.
Die Zahl der Fernbeziehungen steigt, gerade bei den Jungen. Laut Norbert Schneider, Soziologe an der Universität Mainz und Autor der Studie »Berufsmobilität und Lebensform«, hat heute bereits jeder zehnte der 25- bis 35-jährigen Deutschen eine »long-distance-relationship«. »Die meisten dieser Paare würden gern zusammenleben, müssen aus beruflichen Gründen aber in verschiedenen Städten wohnen«, sagt Schneider. Ein Teil der Betroffenen akzeptiere diese Lebensform, aber nur für eine Übergangszeit. Der andere Teil leide darunter, wenig Zeit mit dem Partner verbringen zu können. »Diesen Menschen fehlt das soziale Umfeld - am Arbeitsort sind sie oft nur in den Kollegenkreis integriert.«
Weit über 90 Prozent dieser Wochenendbeziehungen sind Schneider zufolge kinderlos. »Diese Lebensform verhindert oder verzögert die Familiengründung«, sagt der Soziologe. »Vor allem mobile Frauen bekommen im Schnitt weniger Kinder und gebären sie später.«
Berufliche Sicherheit ist nach einer neuen Studie der Robert Bosch Stiftung die wichtigste Bedingung für die Erfüllung des Kinderwunschs: 57 Prozent der kinderlosen 20- bis 49-Jährigen sagen, dass sie einen sicheren Arbeitsplatz brauchen, um Kinder zu haben (siehe Grafik Seite 50).
Auch Corinna Schubert fehlt mangels eines festen Arbeitsplatzes, an den sie nach der Schwangerschaft zurückkehren könnte, Planungssicherheit für die Familiengründung. »Ich sehe ja im Freundeskreis, was nach einem Kind passiert. Beruflich ist man weg vom Fenster. Wenn ich jetzt, mit meinem befristeten Vertrag, ein Kind bekomme, habe ich danach erst recht Schwierigkeiten, einen Job zu finden«, fürchtet sie.
Zudem verlockt auch ihr Gehalt nicht gerade dazu, ein Kind in die Welt zu setzen. Schubert bekommt derzeit 1100 Euro netto, 500 Euro weniger als bei ihrer vorigen Stelle. »Ich verdiene jetzt wahrscheinlich genauso viel wie eine Erzieherin in einer Kita in Kreuzberg«, sagt sie, »und das nach Abitur, Studium und einem Jahr Berufserfahrung.«
Hochschulbildung verringert zwar das Risiko von Arbeitslosigkeit - diese liegt mit knapp vier Prozent arbeitslos gemeldeten Akademikern weiterhin auf niedrigem Niveau -, der Einkommensvorteil, der sich durch ein Studium ergibt, hat sich in den vergangenen Jahren jedoch deutlich verringert. Zahlen der OECD zeigen: Während Akademiker im Jahr 1992 im Schnitt noch bis zu 75 Prozent mehr verdienten als Realschüler mit Fachausbildung und Abiturienten ohne Studium, betrug diese Einkommensprämie 2002 nur noch 57 Prozent.
»Trotz des beklagten Fachkräftemangels in Deutschland ist ein Hochschulstudium auf dem Arbeitsmarkt immer weniger wert« - zu diesem Schluss kommen die Nachwuchswissenschaftlerinnen Christiane Mück, Uni Oldenburg, und Karen Mühlenbein, Uni Hamburg, die für ihre Untersuchung der Einkommensentwicklung bei Akademikern 2005 mit dem Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung
ausgezeichnet wurden. Fast ein Viertel der Akademiker verdient weniger als ein durchschnittlicher Absolvent einer Berufsausbildung. Sinkende Einkommensvorteile weisen außerdem darauf hin, dass immer mehr Hochschulabsolventen in Tätigkeitsfeldern arbeiten, für die sie eigentlich überqualifiziert sind.
Als Mireille Hincker, 25, im Herbst 2000 an der Fachhochschule in Nürnberg mit dem BWL-Studium begann, glaubte sie, tolle Jobaussichten zu haben. »Das wurde uns auch von den Dozenten vermittelt. Nach dem Motto: Wenn ihr mit dem Studium fertig seid, fährt gleich der Rolls-Royce vor.« Doch je näher ihr Abschluss rückte, desto länger hätte sie ihn am liebsten hinausgezögert, »weil's auf dem Arbeitsmarkt immer schlechter aussah«.
Nach ihrem Diplom im Frühjahr 2004 zog es Hincker in den PR-Bereich, sie absolvierte zunächst ein einjähriges Volontariat bei einer Promotion-Agentur in Hamburg. Anschließend hätte sie dort nur »projektbezogen« bleiben können, für drei Monate. Hincker lehnte ab. »Ich dachte, ich hätte bessere Chancen, gerade wegen meiner Berufserfahrung.« Doch alles, was ihre bis dato rund 300 Bewerbungen einbrachten, waren zwei Praktika in Hamburger Werbeagenturen mit 50-Stunden-Woche und Wochenendarbeit für 500 Euro brutto im Monat.
Vorübergehende Erlösung fand Mireille Hincker kürzlich beim Bummeln in der Hamburger Innenstadt. Im Schaufenster eines Schmuckgeschäfts hing ein Stellenangebot: Verkäuferin gesucht. Am 1. Juli fing Hincker dort zunächst für ein halbes Jahr an, mit 38-Stunden-Woche und 1500 Euro Bruttolohn.
»Ich bin total froh über den Job«, sagt sie - Überqualifikation hin oder her. »Endlich bin ich nicht mehr auf die Unterstützung meiner Eltern angewiesen, zumindest für ein halbes Jahr. Es ist richtig bitter, mit 25 Jahren und abgeschlossenem BWL-Studium noch von zu Hause mitfinanziert zu werden.«
Der Einstieg in den Beruf fällt heute auch denjenigen Absolventen schwer, die vermeintlich »sinnvolle« Studiengänge gewählt haben. »Manchmal haben wir eine Schwemme von BWLern, mal sind es die Ingenieure, die nach dem Studium nichts finden«, berichtet Heike Schierbaum vom BildungsCentrum der Wirtschaft Essen. In Zusammenarbeit mit der örtlichen Agentur für Arbeit und dem Essener Unternehmensverband vermittelt sie Absolventen ein sechs- bis zwölfmonatiges »Praxistraining« in der Wirtschaft. Den Begriff »Praktikum« vermeidet sie inzwischen - weil er in der gegenwärtigen Diskussion um die »Generation Praktikum« in Verruf geraten ist.
»Einen ersten befristeten Arbeitsvertrag« nennt Schierbaum stattdessen das Trainingsangebot, das von den Unternehmen
- darunter die Energieriesen RWE und E.on - mit null bis 800 Euro vergütet wird. Es solle den Diplomierten diejenige »Berufserfahrung« vermitteln, die mittlerweile auch bei Berufseinsteigern erwartet werde - fehlende Praxiserfahrung sei der häufigste Grund für Absagen.
»Die Ansprüche der Unternehmen sind gestiegen«, sagt Schierbaum, »sie benutzen das Praxistraining als eine Probezeit vor der Probezeit.« Gute Noten, ein zügiges Studium, Fremdsprachenkenntnisse und auch die Erfahrung, die die meisten Bewerber bei Nebenjobs während des Studiums erworben hätten, reichten den Personalverantwortlichen heute nicht mehr. Neulich meldeten sich bei ihr zwei Bewerberinnen, die mit 25 Jahren das Diplom in der Tasche hatten, eine hatte sogar promoviert »und somit eigentlich alles richtig gemacht«, wie Schierbaum findet. »Doch die bekamen dann bei der Bewerbung zu hören: Nee, also Sie sind uns dann doch zu jung.«
Das, was einem Jürgen Schrempp noch gelingen konnte - der Aufstieg innerhalb eines Unternehmens von der talentierten Nachwuchskraft zum Führungsstar -, solche Karrierewege werden seltener. »Den einen Karriereweg gibt es heute nicht mehr«, sagt Michel Domsch, Professor für Personalwesen und Internationales Management an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Ein Grund dafür sei die Globalisierung: »Die Sicherheit, dass ein Unternehmen in zehn Jahren noch so existiert wie heute, ist ja verschwindend gering geworden. Deshalb ist es heute fast unmöglich, auf eine Laufbahn in ein und derselben Firma zu vertrauen.«
Viele Akademiker erleben inzwischen, dass ihre Tätigkeit in keinem direkten inhaltlichen Zusammenhang mehr zur Ausbildung steht - oft aus dem einfachen Grund, dass ihr erlernter Beruf nicht zum Leben reicht.
Oliver Kloos, 38, studierte nach seiner Tischlerausbildung Architektur und Stadtplanung in Hamburg. Seinen Studentenjob hat der Hanseat nach dem Diplom behalten: Seit über elf Jahren arbeitet er ein bis zwei Tage die Woche bei Ikea im Verkauf und bekommt dafür rund 700 Euro im Monat. »Das ist meine Grundsicherung«, sagt Kloos, »ohne die geht es nicht.«
Seinem eigentlichen Beruf, mit dem er im ersten Halbjahr 2006 »keinen Cent« verdient hat, ging der Architekt bis Juli als Freiberufler in einem kleinen Erdgeschossbüro nahe der Hamburger Speicherstadt nach, das er sich mit zwei Kollegen teilt. Auf dem Zeichentisch stapeln sich Skizzen zu ihrem aktuellen Projekt: einem kirchlichen Gemeindezentrum für eine Wohnanlage im Norden von Frankfurt am Main. Unter dem Papierwust steht das Modell der Siedlung aus fliederfarbenen Schaumstoffquadern.
Ob sich das ganze Planen, Zeichnen, Modellbauen und seine dauernden Sieben-Tage-Wochen am Schluss auszahlen, weiß Kloos vorher nie. »Wenn ich den Wettbewerb gewinne, kriege ich 17 000 Euro«, sagt er, »aber wegen der großen Konkurrenz geht die Wahrscheinlichkeit, dass ich gewinne, gegen null.«
Die Chancen standen meistens schlecht, und trotzdem machte Kloos in den vergangenen Jahren bei jedem Wettbewerb mit, von dem er erfuhr, wegen der Referenzen. Von denen hat er inzwischen so viele, dass er einiges in seinem Lebenslauf weglassen muss - um glaubwürdig zu bleiben. »Mein Werdegang wirkt auf Arbeitgeber meist total unrealistisch. Die können gar nicht fassen, dass ich das alles schon gemacht habe. Dass ich praktisch immer Gewehr bei Fuß stand.«
Endlich mal wieder ein Wochenende frei haben, Urlaub machen, Zeit für eine Partnerschaft finden - auch aus diesen Gründen hat Kloos vor kurzem eine Anstellung bei einer Wohnungsbaugesellschaft angenommen. Für den Architekten ist das ein Kompromiss. Sein neuer Arbeitsvertrag ist befristet, die Probezeit läuft wie üblich sechs Monate - so lange wird Kloos seinen Ikea-Job noch behalten.
Wenigstens sind die frustrierenden Zeiten, in denen Kloos immer wieder die Stellenangebote beim Bund Deutscher Baumeister durchforstete, vorerst vorbei. »Die Architektenbüros suchen meist Absolventen mit drei, vier Jahren Berufserfahrung - aber nur als Praktikanten.«
Auch in anderen Branchen müssen sich Absolventen immer häufiger erst mal als günstige Arbeitskräfte verdingen. Wie viele Hochschulabgänger es genau betrifft, ist nirgends registriert. Die Bundesagentur für Arbeit spricht von einer Verdoppelung innerhalb von fünf Jahren, berücksichtigt dabei aber nur die wenigen (im Jahr 2004 knapp 8700) sozialversicherungspflichtig beschäftigten Praktikanten - die Masse all jener, deren Gehalt unterhalb der Schwelle von 400 Euro liegt, ist gar nicht erfasst.
»Ist das noch Boheme oder schon die Unterschicht«, singt Christiane Rösinger fragend. Die 45-Jährige ist Songwriterin und Frontfrau der Berliner Band Britta - und eine »verkrachte Existenz«. Das sagt sie selbst, »weil es mir nichts ausmacht, dass ich eine verkrachte Existenz bin. Ich habe dieses Leben freiwillig gewählt«.
Das Leben als Musikerin, das Tingeln durch die Clubs, das Pendeln zwischen Kreuzberger Altbauwohnung, Kneipentresen und irgendwelchen Jobs. Dieses Leben führt Rösinger seit mehr als 20 Jahren, es ist nicht ungewöhnlich für Leute wie sie, »die mit diesem Reihenhausdasein nichts anfangen« können.
Wer »Schrammelrock« auf der Gitarre spielt und dazu »Pärchen verpisst euch« singt - so ein Lied der Band Lassie Singer, mit der es Rösinger in den Neunzigern zu einiger Bekanntheit schaffte -, der dürfe sich nicht wundern, wenn er auf Champagner und Urlaub verzichten müsse, meint sie. »Aber dass Gutausgebildete mit Mitte zwanzig, die da reinwollen in dieses bürgerliche Leben, einfach keine Chance mehr haben« - das findet Rösinger »hart«.
Deswegen reimt sie jetzt »prekär« auf »Millionär«, und wenn Britta dann auf der Bühne steht, in einem der Berliner Clubs, in Kassel oder Hannover, dann wundert sich die Band darüber, wie schick ihr Publikum geworden ist: »Richtig glamouröse Jungs« stünden da mitunter in der Menge und könnten sogar die Britta-Texte mitsingen.
»Besser wohnen, auch mal reisen, das kriegen nur die anderen hin, für uns heißt es weiter rechnen, krebsen, wursteln,
durchschlagen«, singen sie dann oder: »Ist das ein Leben, oder ist es ein Exposé? Und wenn alles bezahlt wird, tut es dann weniger weh?« Auch wenn der große Durchbruch noch nicht gelungen ist und die aktuelle CD »Das schöne Leben« nicht bei einem der großen Labels, sondern den hauseigenen Flittchen Records erschienen ist - die Band trifft da etwas, was man »Nerv« oder »Lebensgefühl« nennen könnte.
Zumindest spricht es junge Männer in Nadelstreifenjacketts an, Studenten, die sich mit Stipendien und Kneipenjobs über Wasser halten, und Leute, »die was im sozialen Bereich machen« und mindestens einmal die Woche so einen »depressiven Tag« haben, von dem Rösinger mit kehliger Stimme singt. Und wenn Britta dann zum »Büro«-Gesang anhebt und halb traurig, halb spottend von denen singt, die »Büro, Büro, Projekt-Projekte« machen und sich mit Arbeit eindecken, »die es gar nicht gibt«, dann fühlen sich diejenigen ein bisschen getröstet, die auch nicht wissen, »wie es weitergeht«.
So einer ist Tim Martens*. Ein Lebenskünstler wollte er eigentlich nie sein, einer, der heute lebt und leichtfüßig ins Morgen stolpert. Martens ist einer, der sich »kümmern« will - um »Bindungen«, »Verpflichtungen« und »die eigene Zukunft«.
Der 27-jährige Industriekaufmann mit dem korrekten Haarschnitt wirkt ein bisschen wie die Antithese zu der Jugend von heute, über die sich diejenigen Älteren ärgern, die unter 30-Jährige gern unter Unzuverlässigkeitsverdacht stellen. Er trinkt Fanta statt Bier und erzählt erst auf Nachfrage von den »erstklassigen Zeugnissen«, die er sich »gerahmt an die Wand hängen« könnte. Es wirkt sofort glaubwürdig, wenn
er beteuert, »fleißig« und »anständig« sein zu wollen.
Und dieser junge Mann spricht nun davon, dass er »schlurig« werde und private Termine verbummele, weil er »vorgelebt bekommt, dass es zeitgemäß ist, sich nicht festzulegen«.
Zeitgemäß ist Zeitarbeit. Das hört Tim Martens von Personalverantwortlichen und Arbeitsvermittlern, von Firmenchefs und Politikern, die Kurzfristjobs als Mittel zur notwendigen Flexibilisierung des deutschen Arbeitsmarkts preisen - und als Sprungbrett in die Festanstellung für Berufseinsteiger und Arbeitslose.
Industriekaufmann Martens ist seit zwei Jahren in Hamburg »auf Zeitarbeit unterwegs«. Zwei Jahre mit fünf Einsätzen in fünf verschiedenen Unternehmen, vermittelt durch vier verschiedene Leiharbeitsfirmen - so hangelt sich Martens von einem befristeten Arbeitsvertrag zum nächsten, von einer Bewährungsprobe zur nächsten Probezeit.
Alles schön flexibel - inzwischen wirkt sich das sogar aufs Privatleben aus. Er selbst, der doch möchte, dass sich andere auf ihn verlassen können, nimmt es mit verbindlichen Äußerungen in letzter Zeit nicht mehr allzu ernst. Alles kann sich schließlich von eben auf jetzt wieder ändern, da wirkt es eher hinderlich, sich klar und zuverlässig festzulegen. Kurzfristige Flexibilität zählt heute mehr als langfristige Verbindlichkeit, so hat es Martens die Arbeitswelt gelehrt.
Die Dauer der Verträge, die ihm Zeitarbeitsfirmen anbieten, richtet sich nach der Dauer der Projekte, für die eine dritte Firma kurzfristig Fachleute sucht, die nach getaner Arbeit ohne Kündigung und Murren wieder von dannen ziehen. Mal verbringt Martens einige Wochen an einem Arbeitsplatz, mal sind es wenige Monate; nie länger als sechs, denn pünktlich zum Ende der Probezeit wird gekündigt. Und manchmal klingelt dasselbe Zeitarbeitsunternehmen eine Woche später wieder an - mit einem neuen Einsatz und einem neuen befristeten Vertrag.
Zeitarbeit boomt in Deutschland. Der Markt, auf dem sich mehr als 7000 Anbieter tummeln, verzeichnet mittlerweile zweistellige Wachstumsraten. Etwa eine halbe Million Menschen werden nach Angaben des Interessenverbands Deutscher Zeitarbeitsunternehmen mittlerweile von diesen Unternehmen beschäftigt - auf Jahressicht eine Steigerung um etwa zehn Prozent. Dabei macht das klassische Helfergeschäft mit Niedrigqualifizierten nur noch etwa 30 Prozent der Arbeitsverhältnisse aus. Es sind Facharbeiter, Dienstleister und Ingenieure, die immer stärker nachgefragt werden.
Für Martens' Eltern, für den Vater, der seit 30 Jahren als Sachbearbeiter in ein und demselben Unternehmen arbeitet, ist die Lage des Sohns nichts weniger als eine Katastrophe. Der Junge, der erst Einser und dann ein erstklassiges Fachabitur nach Hause brachte, der brave Tim, der auf die Eltern hörte, als sie ihm rieten: »Lern etwas Anständiges, dann hast du was fürs Leben« - dass für diesen Jungen nun Kündigungen zur Routine geworden sind, dass er mit rund 1100 Euro im Monat auskommt, alle paar Wochen zum Arbeitsamt muss und seine Urlaubstage für die Suche nach dem nächsten Job draufgehen - das verstehen die Eltern einfach nicht.
Tim Martens selbst ist keiner, der jammert. Zu Schulzeiten, ja, da hatte er sich den Berufseinstieg zwar anders vorgestellt, hatte sich mit den Hamburgischen Electricitäts-Werken (HEW) einen »guten Ausbilder« ausgesucht, der dafür bekannt war, die jungen Leute nach der Lehre zu übernehmen. Doch als dann der schwedische Energieriese Vattenfall die HEW schluckte, als Martens anderthalb Jahre nach der Lehre gehen musste, da spätestens begriff er: »Das Wirtschaftswunderland ist abgebrannt. Für mich geht es darum, irgendwie im Arbeitsprozess drinzubleiben.« »Arbeitsprozess«, sagt der 27-Jährige, die Hoffnung auf einen festen »Arbeitsplatz« hat er erst mal vertagt, ebenso wie die Hoffnung auf »ein Auto, ein Haus, eine Familie«.
Trotzdem bestimmt diese Hoffnung sein Leben. Denn die vage Aussicht auf einen festen Vertrag, auf die Übernahme in ein reguläres Arbeitsverhältnis, lässt Martens immer wieder neu »alles geben, Flexibilität zeigen und Eigenverantwortung«. Denn die eine Stelle, die bei sehr guter Leistung und Führung für einen der Zeitarbeiter vielleicht drin sein könnte - von der ist bei jeder Zeitarbeitsfirma, in jedem Unternehmen
von neuem die Rede. Deshalb strengt sich Martens an, gibt sich selbstverständlich auch mit einem alten Schreibtisch auf dem Flur zufrieden und investiert rund 4000 Euro und zwei Abende pro Woche in eine Fortbildung. Den Ärger, der ihn überkommt, wenn ihm ein Blick in die Tarifverträge der Festangestellten offenbart, dass die für dieselbe Arbeit das doppelte Gehalt kassieren, schluckt er runter. »Natürlich ist das ungerecht, aber ich kann es nicht ändern«, sagt Tim Martens. Und er lächelt freundlich, »denn wer deprimiert wirkt, findet keinen Job«.
Die Festanstellung, das fristlose Dasein mit Bürostuhlgarantie - Sascha Lobo, 31, und Holm Friebe, 33, haben sich dazu entschlossen, das alles »völlig überbewertet« zu finden, »weil in das System sowieso keiner mehr reinkommt«. Die beiden haben in Berlin eine Gruppe von freien Werbern, Journalisten und Web-affinen Kreativen um sich geschart und ein »kapitalistisch-sozialistisches Joint Venture« gegründet: die Zentrale Intelligenz Agentur (ZIA).
Das klingt nach Programm, Provokation und Schaumschlägerei, und ein bisschen ist die Sache wohl auch so gemeint. Denn wer neben journalistischen Kolumnen, Newslettern für Werbeagenturen und Werbetexten auch eigene »Gehirnstrom-Protokolle« anbietet, lässt schon einen Funken Selbstironie aufblitzen.
Durchaus ernst genommen werden die Agenten der ZIA mittlerweile von etablierten Jurys im Kulturbetrieb. Die ZIA-Agentin und Autorin Kathrin Passig gewann gerade in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis, das Weblog »Riesenmaschine«, das die Agenten um Lobo und Friebe gemeinsam betreiben, überzeugte die Juroren in Marl und erhielt den Grimme Online Award.
Für die Zentral-Intelligenten läuft das Leben jenseits des Angestelltendaseins derzeit also gut, und da passt es, dass Lobo und Friebe jetzt »die digitale Boheme« ausrufen. »Wir nennen es Arbeit« heißt das im Herbst erscheinende Buch, das nun ebenfalls zum Lebensunterhalt beitragen soll. Darin wollen die Autoren zeigen, wie das »intelligente Leben jenseits der Festanstellung funktioniert«, wie Webdesigner, Blogger und andere Kreative das Internet als neue, sichere »Einkommens- und Lebensader« entdecken. »Denn welcher feste Job ist heute noch sicher?«, fragt Werbetexter Lobo. Statt auf einen festen Vertrag setzt er auf sein »stabiles Einkommensnetz aus verschiedenen Jobs«, auf »Kontakte und Freiheiten«. Und dabei ist er auch so frei, Kontakt zu halten zu denjenigen, die nicht mehr ganz so frei sein wollen: zu ZIA-Agent Philipp Albers, 32, beispielsweise.
Der sitzt mittlerweile im dunklen Anzug in einer Villa am Wannsee, genießt sein neues feudales Arbeitsumfeld und die »Sicherheit« eines regelmäßigen Einkommens. Er koordiniert das Kulturprogramm der American Academy in Berlin - festangestellt. JULIA BONSTEIN, MERLIND THEILE
* Name von der Redaktion geändert. * Name von der Redaktion geändert.