PROZESSE / HITLERS LEIBARZT Auf Rotglut
Morell vergiftet dich«, warnte Eva Braun ihren Adolf Hitler: »Nimm seine Medikamente nicht mehr.« Das war Mitte April 1945, wenige Tage vor dem gemeinsamen Selbstmord im unterirdischen Führerbunker.
Was Eva Braun damals fürchtete, ist dem ehemaligen stellvertretenden NS-Reichsgesundheitsführer und SS-Divisionsarzt Hans-Dietrich Röhrs, 68, heute gewiß: Hitler sei durch die Therapie des Leibarztes Theodor Morell »quasi langsam vergiftet« worden.
Als Röhrs, jetzt praktischer Arzt in der Heide-Gemeinde Maschen bei Hamburg, 1966 seine These in seinem Buch »Hitlers Krankheit« zu untermauern suchte, fühlte er »das Recht des ganzen deutschen Volkes« auf seiner Seite. Rohrs: »Eine einzige Anklage gegen Morell.«
Inzwischen trug die Anklage dem früheren NS-Mediziner selber eine Klage ein. Vor dem Landgericht München I verlangt Morells Witwe Johanna, 71, Widerruf von 24 »unwahren Tatsachenbehauptungen« und 5000 Mark Schmerzensgeld.
Röhrs soll unter anderem widerrufen, Morell habe »als Arzt nur bestehen« können, »indem er sich kurpfuscherischer Methoden bediente«. Er habe Hitler einer »Aufpulverungstherapie« unterzogen und in »euphorische Zustände« versetzt.
Zurücknehmen soll Alt-Pg Röhrs (NSDAP-Eintritt 1931) aber auch, was er Abfälliges über den Parteigenossen Morell (NSDAP-Eintritt 1933) verbreitet hat: daß Morell die »hygienischen Gewohnheiten eines Schweines« besessen habe« ein »Volksschädling« und »einer der größten Kriegsschieber des Dritten Reiches gewesen ist, der skrupellos seiner Geldgier in einer Zeit frönte, wo das deutsche Volk seinen härtesten Schicksalskampf führte«.
Schon 1939 war Röhrs »von dem furchtbaren Gedanken geradezu geblendet ... welches Schicksal auf das ganze deutsche Volk zukam, wenn es nicht gelänge, dem gefährlichen Scharlatan das Handwerk zu legen«. Und auch anderen war Morell, der am Berliner Kurfürstendamm eine Prominenten-Praxis für Haut- und Geschlechtskrankheiten betrieb, suspekt: Professor Ernst Günther Schenck, damals Beauftragter des Reichsgesundheitsführers Leonardo Conti« verglich ihn »mit dem Koch Friedrichs des Großen"« der dem König, so die Legende, »vergiftete Schokolade brachte«.
Hitlers Chirurg Karl Brandt beschuldigte Morell in einer bisher unveröffentlichten Niederschrift, »Morphinisten gefördert« zu haben und -- nach Unterlagen des Gerichtsärztlichen Instituts Berlin -- »in Abtreibungsverfahren verwickelt« gewesen zu sein. NS-Propagandist Joseph Goebbels nannte ihn gar einen »Verbrecher«.
Hitler jedoch, der sich stets gegen ärztliche Untersuchungen sträubte« setzte auf den korpulenten Medizinmann« der es bei Spritzen und Drogen bewenden ließ und selbst bei einem akuten Magenleiden darauf verzichtete, Hitlers Magensaft zu untersuchen. »Wenn ich meinen treuen Morell nicht hätte«, empfand der Patient, »wäre ich ganz aufgeschmissen.«
Leibarzt Morell, den Leibphotograph Heinrich Hoffmann 1936 seinem Führer zugeführt hatte, verabreichte dem Patienten Mixturen« die er vorwiegend selber herstellte. Wenn Hitler sie geschluckt hatte« erschien er dem Historiker und Tagebuchführer des Oberkommandos der Wehrmacht, Professor Percy Ernst Schramm, wie »eine schlecht bediente Lokomotive ... die ständig auf Rotglut angeheizt wird, um gerade noch bis zur Endstation zu gelangen«.
Zur Rotglut brachten Hitler Morells Anregungsmittel Ultraseptyl, ein Sulfonamid-Präparat« dem Leipziger Pharmakologen nervenschädigende Wirkung zuschrieben« und starke Dosen von Vitamultin, die nach Professor Schencks Proben »erschreckend viel« Koffein und Pervitin enthielten.
Morell spritzte seinem Führer, der ohnedies eine Vorliebe für Süßes wie Pudding und Bonbons hatte, insgesamt fast 3000 Traubenzucker-Injektionen und machte ihn damit, so Röhrs, »süchtig« und »abhängig«, statt Stoffwechsel und Verdauung zu regeln. Hitlers Blähungen wiederum suchte der Hautarzt mit »Doktor Kösters Antigas-Tabletten« zu beheben einer Mischung aus Belladonna und Strychnin, die Hitler erst dann nicht mehr nehmen wollte, als sie im September 1944 zu Darmkolik führten.
Aber auch althergebrachte Hausmittel hielt der Leibarzt hin und wieder für probat. Wenn der Kanzler über hohen Druck klagte, setzte Morell ihm Blutegel hinter die Ohren. »Hitler saß dabei«, wie Kammerdiener Heinz Linge überlieferte, »vor einem Spiegel und sah interessiert zu wie sich die Blutegel mit seinem Blut vollsaugten.« Dann atmete er auf: »Ah, gut! Jetzt habe ich den Kopf wieder frei!«
Belebende Wirkung erzielten auch Morells Hormonpräparate. »Hitler wurde danach sehr ungezwungen«, berichtete seine Sekretärin Maria Schröder: »Einmal erläuterte er plastisch, indem er sich auf dem Sofa wohlig ausstreckte ... wie es ist, wenn zwei Menschen sich lieben.«
Der Patient lohnte es seinem Arzt. Er verlieh ihm Professorenwürde, Goldenes Parteiabzeichen und das Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz. Neben einem Jahresgehalt von 60 000 Reichsmark verdankte Morell seinem Führer Privilege für Herstellung und Vertrieb pharmazeutischer Produkte, die ihm ein Vermögen von rund sieben Millionen Reichsmark einbrachten.
Die »Deutsche Arbeitsfront« lutschte Morells »Vitamultin«-Bonbons, und das Ostheer wurde mit »Rußla-Puder« eingedeckt -- einem aus Pferdehaar und Pferdehorn produzierten Anti-Läuse-Präparat, für das Hitler seinem Medizinmann ein Morell-Denkmal in Aussicht stellte, »wie er mit einem aus einer Pulverdose fließenden Wasserstrahl eine Laus erlegt«.
Allerdings: »Die Läuse lebten munter weiter«, bemerkte ein Militärarzt. Und Morell-Gegner Röhrs ("Ich bin ein militärischer Mensch") schreibt dem schlechten Entlausungsmittel gar »einen Anteil an der Minderung der Kampfkraft der Fronttruppe« zu.
Auch sonst müht sich der Arzt Röhrs bei seiner Kritik an den Behandlungsmethoden seines Kollegen Morell durchweg auch um Korrekturen am Geschichtsbild der Deutschen. Historische Wirkung schreibt er hauptsächlich dem Pervitin zu. Röhrs: »Bei dem im Grunde gesunden Hitler wirkte es sich geradezu verhängnisvoll aus.«
Pervitin sei es vor allem gewesen, das die »genialen Spitzenleistungen« des »begnadeten Politikers« beeinträchtigte, zu euphorischer »Antriebeüberreizung« und schließlich zu Starrsinn führte. Wutausbrüche, Blickkrämpfe und Drangpsychosen waren laut Röhrs die Folgen.
Und Morells Therapie erkläre erst, so läßt der Heide-Arzt durchblicken, die »seelische Wandlung« Hitlers, die den Feldherrn Fehlentscheidungen habe treffen lassen. So begrüßt Röhrs das Fazit eines Röhrs-Rezensenten« der »mit erfreulicher Zurückhaltung eine Möglichkeit andeutet« -- daß nämlich »Deutschland den Krieg gewonnen« hätte, hätte Morell den obersten Kriegsherrn nicht kampfuntüchtig gemacht.
»Alles barer Unsinn«, entrüstet sich die Witwe Johanna Morell »Mein Mann war ein redlicher Doktor. Hitler vergiften? Das durfte er doch gar nicht als Arzt.« Und Frau Morells Anwalt, der Münchner Dr. Heinz-Lebrecht Hermann, glaubt an eine politische Aktion: Vor dem Münchner Landgericht will er beweisen, daß »alte Parteigenossen an einer neuen Dolchstoßlegende bauen«.