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OST-WEST-KONFLIKT Auf Umwegen

aus DER SPIEGEL 18/1964

Der Weg zum Frieden Ist weit, und er kann nur Schritt für Schritt gegangen werden. Präsident Lyndon B. Johnson

Amerikas Präsident Johnson und

Rußlands Regierungschef Chruschtschow haben in der vergangenen Woche einen solchen Schritt getan - er war klein, aber dafür ein Gleichschritt.

Fast zur selben Stunde wurde von den beiden Staatsmännern am Montag letzter Woche bekanntgegeben, daß die Vereinigten Staaten und die Sowjet-Union die Produktion von Uran 235 - dem Grundstoff für Atomwaffen - erheblich einschränken werden. Einen Tag später folgte der britische Premierininister Douglas-Home mit einer entsprechenden Erklärung vor dem Unterhaus nach.

Diese Maßnahmen in West und Ost haben keine militärische Bedeutung: Beide Seiten verfügen bereits über genügend Atomwaffen zur gegenseitigen Vernichtung und haben genügend Vorräte an spaltbarem Material, um ihren Bestand an Atomwaffen verdoppeln zu können.

Bedeutungsvoll aber ist diese Maßnahme für die politischen Beziehungen zwischen den beiden Weltmächten. Welche Hoffnungen sich daran knüpfen, beweisen Sätze aus der Rede des amerikanischen Präsidenten Johnson, in der er seinen Entschluß begründete:

»(Der Frieden) wird nicht in dramatischer Weise aus einem einzigen Abkommen oder einer einzigen Begegnung hervorgehen, er wird vielmehr durch konkrete und begrenzte Anpassungen, durch das allmähliche Wachsen gemeinsamer Interessen, durch eine größer werdende Erkenntnis der sich verändernden Gefahren und Bedingungen sowie durch ein zunehmendes Vertrauen in den guten Willen gefördert, der fest auf einer vernünftigen Beurteilung der Weltlage beruht.«

Der sowjetische Ministerpräsident Chruschtschow hatte die Methode der kleinen, Schritte bereits zum' Jahreswechsel in einem. Interview mit der amerikanischen Nachrichten-Agentur UPI gepriesen. Chruschtschow erklärte damals:

»Nehmen Sie zum Beispiel die Frage der Militärhaushalte. In Der Oberste Sowjet hat bereits entschieden, unsere Militärausgaben im Haushalt 1964 zu verringern. Es wäre eine gute Sache, wenn andere Staaten dasselbe täten. Ich bin sicher, daß die Völker aus ganzem Herzen eine solche Politik begrüßen würden - ich würde sie eine Politik des gegenseitigen Beispiels nennen -, die den Rüstungswettlauf begrenzt.«

Diese Politik des »gegenseitigen Beispiels« wurde in dem streng geheimen Briefwechsel entwickelt, den Präsident Kennedy mit Chruschtschow geführt hat. Ein Resultat dieses Briefwechsels war die Einrichtung des »heißen Drahts«, einer direkten Fernschreibverbindung zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml. Diese Verbindung soll sicherstellen, daß die amerikanische und die

sowjetische Führung in Krisenzeiten in unmittelbarem Kontakt bleiben. 'Dadurch soll eine falsche Beurteilung der Lage, und eine Fehl-Interpretation der Absichten der anderen Seite verhindert werden.

Kurz vor seiner Ermordung am 22. November 1963 hatte Kennedy angeregt, beide Staaten sollten nach vorheriger Absprache bestimmte Abrüstungs- und Entspannungsmaßnahmen von sich aus in Kraft setzen. Auf diese Weise sollten die Schwierigkeiten umgangen werden, die dem Abschluß förmlicher Abrüstungsabkommen entgegenstehen.

Präsident Johnson hat den Briefwechsel mit Chruschtschow unmittelbar nach seiner Amtsübernahme fortgesetzt. Besucher weist er gern auf die gebündelten Briefe hin, die oft auf seinem Schreibtisch liegen.

Erstes Ergebnis der Privatdiplomatie zwischen Johnson und Chruschtschow war eine von den USA und der Sowjet-Union gemeinsam formulierte und von den Vereinten Nationen angenommene Erklärung über das Verbot, Satelliten, die Atomwaffen tragen, in den Weltraum zu schießen.

Zweites Ergebnis war die Kürzung der Militärausgaben: Nachdem die Sowjets Mitte Dezember vorangegangen waren, zogen die USA Anfang 1964 nach und verringerten ihren Militärhaushalt um fast eine Milliarde Dollar. Außerdem ordnete Johnson bereits zu diesem Zeitpunkt eine erste Einschränkung der Uran-Produktion sowie, die Schließung von vier Atomkraftwerken an, die militärischen Zwecken dienten. Er forderte Moskau auf, dem amerikanischen Beispiel zu folgen.

Bevor Chruschtschow diese amerikanische Vorleistung honorierte, kam es Ende Januar zu einer Milderung des Propagandakrieges zwischen Ost und West. Der amerikanische Sender Rias Berlin stellte auf Wunsch der Sowjetregierung sein Langwellenprogramm ein, weil dieses durch Frequenz-Überlagerung den Empfang von Radio Moskau in weiten Teilen der Sowjet-Union beeinträchtigte. Schon vorher hatten die Sowjets ihre Störsendungen gegen die »Stimme Amerikas« aufgegeben.

Anfang März fragte Johnson bei Chruschtschow nach, wann nun auch die Sowjets die Produktion spaltbaren Materials einschränken würden. Er bat um eine schnelle Antwort - aber die Antwort blieb aus.

Am Freitag vorletzter Woche rief der amerikanische Präsident daraufhin den russischen Botschafter Dobrynin zu sich und teilte ihm mit, er wolle nicht länger warten und am darauffolgenden Montag seine Entscheidung bekanntgeben, die amerikanische Uran-Produktion noch einmal zu kürzen. Zugleich aber werde er der Weltöffentlichkeit mitteilen, daß die Sowjet-Union nicht bereit sei, ein Gleiches zu tun.

Der sanfte Druck wirkte: 36 Stunden später bekam Johnson die Mitteilung, daß Chruschtschow sich der Initiative anschließen wolle und - ebenfalls am Montag - nicht nur eine Kürzung der Uran-Produktion, sondern auch die Einstellung des Baus von zwei neuen großen Atomreaktoren bekanntgeben werde.

Präsident Johnson ist nun erst recht entschlossen, die Politik der kleinen Schritte fortzusetzen. Welche Überlegungen ihn dabei leiten, hat einer seiner engen Vertrauten, der amerikanische Botschafter in Bonn, George McGhee mit deutlicher Blickrichtung auf jene deutschen Politiker, die eine Entspannung ohne vorhergehende deutsche Wiedervereinigung ablehnen -, erst kürzlich in einem Vortrag vor der deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik erläutert:

»Wir müssen Lösungen auf Umwegen suchen, durch die Förderung eines evolutionären Wandels der Gesamtzusammenhänge.«

Daily Mail, London

Strip-tease auf Raten

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