ARBEITSMARKT Aufbruch für Europa
Draußen in der von privaten Sheriffs gesicherten Lobby der Intel Corporation, 50 Autominuten südlich von San Francisco, erinnert ein Aushang am Schwarzen Brett Mitarbeiter und Besucher daran, daß nur Auserwählte Zutritt haben. Die Befugten müssen sich ausweisen mit einem Abzeichen »You are somebody«.
Wer die Plakette »Du bist wer« trägt, der ist entweder Angestellter dieses zu den führenden Technologiefirmen Amerikas zählenden Unternehmens oder wenigstens Anhänger der Computergesellschaft, wie sie sich im legendären kalifornischen Silicon Valley, dem Herzstück westlich-kapitalistischer Fortschrittsgläubigkeit, zeigt.
Drinnen im Konferenzraum 106 saß am Aschermittwoch einer ohne Abzeichen, der meinte, dringend »etwas für den Kopf tun zu müssen": Bundesarbeitsminister Norbert Blüm.
Dort, wo nach Meinung vieler koalitionsfreundlicher Unternehmer die postmaterialistische Zukunft schon zu Hause ist, wo auf einer Fläche von 150 Quadratmeilen ehemaligen Plantagenlandes hinter den Fassaden von mehr als 2000 High-Tech-Companies der technische Fortschritt angetrieben wird, wollte er erkunden, wohin die neuen Technologien die Menschen treiben: ins Paradies oder wenigstens in eine Zukunft ohne Arbeit und ohne Aufgaben.
Zu Hause hatte Blüm die Antwort immer schon gewußt. Mit forschen Formulierungen war er stets auf der Seite jener Himmelsstürmer, die - gegen »politische Pessimisten und professionelle Frustrationspfleger« (Blüm) - auf Risiko und Rationalisierung setzen. Der ehemalige CDU-Linke pries »wagemutige Unternehmer« als »Verwandte des Christoph Columbus«, die wie der Seefahrer und Entdecker Amerikas beständig auf der »Suche nach dem Neuen« seien. Blüm: »Die Eroberung des Mondes und Silicon Valley sind Fortschrittszwillinge. Auch das alte Europa braucht einen neuen industriellen Aufbruch.«
Wer zu behaupten wagte, Rationalisierung vernichte auch Arbeitsplätze, der baute laut Blüm einen »jobkillenden Popanz« auf. »Das Neue« in der Sicht des Arbeitsministers: »Innovation und Investition bringen uns aus der Arbeitslosigkeit heraus.«
Beim viertgrößten Halbleiterproduzenten der USA erfuhr Norbert Blüm, daß seine Meinung voreilig war. Seinem Gastgeber, dem Firmengründer Robert
Noyce, stellte der Bonner, »damit das nicht wie ein Gewitter über uns kommt«, die »Schicksalsfrage": Ob die neuen Techniken neue Arbeitsplätze schaffen oder doch nur die Angst untermauern, daß die Arbeit ausgeht?
Der Amerikaner mochte sich nicht festlegen. Keiner wisse bei den neuen Technologien, »wo das Ende ist«. Und deshalb sei es nötig, auf der Schule, auf der Uni und im Betrieb die Arbeitnehmer ständig weiterzubilden - für den Dienst am Computer.
Ob er eine Vision für die Gesellschaft des Jahres 2000 habe, fragte Blüm den Unternehmer: Die werde sich, erwiderte Noyce, vom heutigen Amerika so unterscheiden wie die heutigen USA vom einstigen Agrarstaat. Und was mit jenen Arbeitskräften geschehen solle, die in der Welt der Computer und Mikroprozessoren keine Arbeit mehr finden, damit mochte sich der Intel-Mann nicht befassen:
Sein Blick nach vorn richtet sich auf niedrigere Kosten, noch leistungsfähigere Computer, auf neue Anwendungsgebiete, »auf die Tür, die sich öffnet, wenn man sagt 'ich bin's', auf das selbstfahrende Automobil, auf die Fabrik, in der nur noch einige Programmierer und sonst keine Leute arbeiten«.
Ob Amerika an Arbeitszeitverkürzung im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit denke, wollte Blüm wissen. Noyce: »Nicht, solange wir die japanische Konkurrenz haben.« Welche Rolle die Gewerkschaften bei Intel spielten? Antwort: »Wir haben keine.«
Dann hatte Blüm eine Bitte: Der Amerikaner möge sich doch einmal in die Rolle des deutschen Ministers versetzen, der mit der Arbeitslosigkeit fertig werden müsse, und sagen, wie er sich dann fühlen würde: »Sehr unwohl«, kam es prompt zurück.
So ging es dem Besucher wohl auch. Zwar schwärmt der gelernte Opel-Schlosser nach der Visite bei Intel und den Elektronikfirmen Hewlett Packard, Apple und Wang immer noch vom Wunderland, in dem sich Jungmanager mit beträchtlichem Mut zum Risiko selbständig machen. Doch er ist auch an die Grenzen dieses Fortschritts gestoßen. Blüm: »Die Absturzstellen sind mir klarer geworden. Es darf nicht so sein, daß High-Tech die ganze Wirtschaft dominiert.«
Und Blüm sieht schärfer als die amerikanischen Marktwirtschaftler die sozialen Risiken für die einzelnen. Jene, die nicht an Personalcomputer oder Terminals ihr Auskommen finden, weil sie nicht ausgebildet oder weil sie zu alt sind, dürften keinesfalls »mit Barmherzigkeit abgespeist werden«.
So ist es aber im Dorado der Chips und Computer: Im Silicon Valley gibt es 730 000 Arbeitsplätze, davon 220 000 bei den High-Tech-Unternehmen; doch die Arbeitslosenrate ist mit knapp sieben Prozent ähnlich hoch wie im Durchschnitt der USA. Und: Die Arbeitnehmer werden nach gespaltenen Lohnskalen bezahlt; neu eingestellte Arbeitskräfte erhalten für gleiche Arbeit weniger Stundenlohn oder weniger soziale Leistungen als Beschäftigte, die schon länger bei den Unternehmen arbeiten.
Arbeitsminister Blüm erfuhr hautnah, daß auch die Zukunftstechnologien konjunkturellen Schwankungen unterworfen sind. Am Tag seines Besuchs bei Intel entließ die Firma 900 Mitarbeiter.