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Artikel 55 / 83

Aufbruch zur letzten Grenze

SPIEGEL-Redakteurin Ariane Barth über den Wilden Westen am Amazonas *
aus DER SPIEGEL 40/1983

Er könnte aus einem Western von John Ford stammen, eine epische Figur des Scheiterns, aber er ist von der Wirklichkeit geschliffen, zu finden am Rio Napo, der die stürzenden Schmelzwasser der Schneeberge Ecuadors sammelt und träge mäandernd durch den Urwald an einigen seltenen Stellen Gold verliert.

Nun schon ein halbes Jahrhundert lang tut er, was er als Junge von zehn Jahren gelernt hat: das steinige Flußufer aufzuhacken bis zu den groben Sanden, ihnen in einer Schütte das Feine auszuwaschen und den hoffnungsgeladenen Rest in einer Schale so zu wiegen, daß die leichten Teile vom fließenden Wasser davongetragen werden und in der vertieften Schalenmulde nur das Schwere zurückbleibt. Vielleicht Gold.

Wieder nichts. Der Goldwäscher Jose Rojas ist vertraut mit der Vergeblichkeit seines Tuns. Er schüttet den wertlosen Sand in den Fluß zurück und beginnt von neuem, die Steine zu hacken. Hacken und waschen, was war sein Leben schon anderes als hacken und waschen. Und war es manchmal nicht vergeblich, dann blieb ein Körnchen Gold, ein winziges Körnchen bloß, in seiner Schale zurück.

Er hat eines nach dem anderen, ein paar Kilo mögen schon zusammengekommen sein während seiner vielen Jahre, den geierhaften Zwischenhändlern verkauft, weit unter Wert, bloß für ein bißchen Essen. Jose Rojas besitzt nicht viel mehr, als er am Leibe trägt. Er hat auch kein Haus. Unter dem Blätterdach des Regenwaldes schläft er in einer Hängematte. Ein Einsamer: Eine Familie hat er nie ernähren können. Wohl zeugte er ein paar Kinder. Bei ihm, dem glücklosen Goldsucher, blieb keine Frau. »Arm bin ich geboren«, sagt er, »arm werde ich wieder gehen.«

Er steht für das alte Amazonien, das Amazonien der Waldläufer, der Jäger und Sammler, auf deren Schätze, den Körnchen Gold und den Stapeln der Häute, der Milch aus den wilden Gummibäumen und den Bergen von Paranüssen die ersten Städte begründet wurden.

Das elendige Arbeitsheer, das sie gewann, verblieb in der Unwirtlichkeit des Dschungels und zeugte sich fort.

Amazonien ist aus der alten Apathie erwacht, voller Verheißungen: Gold in Hülle und Fülle, eiserne Berge, Öl, Menschen ohne Land ist ein Land ohne Menschen versprochen. Der Wilde Westen unserer Tage, er befindet sich hier im Stromland Südamerikas.

Doch am Ufer des Napo ist von dem neuen Aufbruch noch nichts zu spüren. Für eine Schar indianischer Kinder, die in ihren hölzernen Schalen die Sande in der Hoffnung auf Gold wiegen, beginnt der Lebenszyklus des Scheiterns, wie ihn der alte Rojas schon beinahe hinter sich hat.

Als er so dasteht, gestützt auf seine Hacke, doch aufrecht, vergoldet ihn schräges Gegenlicht, und am gleißenden Wasser scheint El Dorado zu stehen, Der Goldene, König eines wunderbaren Reiches im Regenwald, der zum Zeichen des Überflusses allmorgendlich mit Goldstaub bedeckt wurde, um ihn allabendlich in einem gülden schimmernden See wieder abzuwaschen. So verkehrt mein überhitztes Hirn die trostlose Gestalt in ihr glänzendes Gegenteil. Der Mythos von El Dorado mag ähnlich aus Lichtspiel und fiebriger Phantasmagorie entstanden sein, eine Paradoxie zur dumpfen Wirklichkeit, und gerade deshalb trieb er Menschen in irrsinnige Abenteuer.

Das sagenhafte Reich suchend, war Gonzalo Pizarro, Gouverneur der eroberten Inka-Stadt Quito, mit 200 spanischen Konquistadoren und Tausenden aneinandergeketteten Lastenträgern indianischen Blutes die Kordilleren herabgezogen in das grüne Gemenge, das sich bis zum heutigen Tag, als ich über die Berge kam, unübersehbar weit dahinzieht und pathetisch dampfend die Wolken gebiert für den die Menschen-Generationen überdauernden Himmelslauf des Wassers. Kein El Dorado war zu finden und nicht einmal eine Spur von »La Canela«, dem legendären Land des duftenden Zimts.

Es herrschte Hunger, als Pizarros Hauptmann Francisco de Orellana mit 57 Mann aufbrach, um Proviant zu beschaffen. An einem Ufer wie hier am Napo, wo der sonnenüberflutete Goldsucher mir gegenübersteht und ein Schweißtuch über die glänzend feuchte Stirn knotet, muß es gewesen sein, daß die Männer mit ebenso feuchtglänzender Stirn ihr grobgezimmertes Schiff aus Urwaldholz in den Fluß geschoben haben. Sie begingen einen Treuebruch und kehrten nicht zurück.

Von dem kleineren Fluß Napo kamen sie in einen großen Fluß, dessen weißtrübe Wasser sich schließlich mit den braungrauen Wassern eines anderen großen Flusses zu einem noch größeren Fluß vereinigten: Wasserwolkenlärm, Amacunu in der Sprache der Tupi-Indianer. Und wie von der wälzenden Flut wurden die Männer von indianischen Kriegerinnen mit nackten Brüsten beeindruckt, die ihre Pfeile handbreittief in die Schiffsplanken trieben: Amazonen, Amacunu, Amazonas, der Fluß bekam seinen Namen.

Nach schweren Kämpfen um Nahrung, nach Ausplünderung und Unterwerfung sanftmütiger Indianerstämme erreichten Orellana und seine Männer nach achtmonatiger Reise am 26. August 1542 den Atlantik. Sie hatten das weitläufigste Flußsystem der Erde entdeckt, das aber erst in der Satellitenära mit Radar und flächendeckender Photographie genau vermessen und damit in das letztgültige Kartographiestadium der Besitznahme gehoben wurde.

Amazonien, durchschlungen von dem Strom mit seinen über tausend Armen, dieses Reich aus Wasser und Urwald, sieben Millionen Quadratkilometer, fast zweimal so groß wie Westeuropa, doch noch immer leer mit einem, vielleicht auch schon zwei Menschen pro Quadratkilometer, zumal sich diese vor allem in den Städten ballen: Sagenhafte Möglichkeiten sollen hier zu finden sein. El Dorado lockt wie nie zuvor, und im Rausch schieben Glücksucher die letzte Grenze immer weiter in den Dschungel vor.

Eines der gewaltigsten Kolonisationswerke der Menschheitsgeschichte, das mit Orellanas Flußfahrt begann und sich im langen Atem der Jahrhunderte dahinzog, vollzieht sich in rasantem Tempo der technologischen Zeit. Durch jungfräuliches Land wurden Straßen gefräst, in die Wildnis Landebahnen für Flugzeuge eingeschnitten: Menschen der Zivilisation

kommen, die Indianer müssen gehen.

In Ecuador ist es Oro Negro, schwarzes Gold, das die technische Konquista in die Jagdgründe der Ureinwohner trieb. Im Dschungel ist ein Archipel des Öls entstanden.

Ich lande in einer Fokker Friendship voller arbeitsgestählter Männer, die nach einer Woche Freizeit in der kühlen Höhe der Hauptstadt Quito ihre dreiwöchige Schicht im Urwald antreten, und werde, als ich im Pulk aussteige, von sieben Soldaten mit Maschinengewehr gesichert. Nachdem ich mein Gepäck durchsuchen ließ, darf ich die Gefilde der Ölstatthalter betreten.

Hübsch haben sie es sich hier gemacht, der Rasen aus dem groben Schneidegras der Tropen von Rabatten umsäumt, die Stämme der Palmen weiß bandagiert, ein Gewässer zum künstlichen See gestaut, im Club von gefälliger Rundbogenarchitektur sechs automatische Bowlingbahnen. Von schwerem Regen frisch gewaschen, schimmert die silbrige Welt der Tank- und Leitungssysteme.

In Lago Agrio läuft das Öl aus 184 Löchern zusammen, um in einer Pipeline aus der Niederung hoch über die Anden zum Pazifik gepumpt zu werden. 230 000 Faß pro Tag werden dem Urwald abgewonnen, ein Reichtum, der Ecuadors archaische Wirtschaft zu entwickeln half und doch nur knapp ein Zehntel von dem ausmacht, was die Bundesrepublik zur selben Zeit verbraucht.

»Eine Goldgrube ist das hier nicht«, sagt mit wegwerfender Handbewegung Hans Stech, ein Deutscher, der in Lago Agrio für Texaco die Stellung hält. Der Multi explorierte und investierte, als gelte es, Klein-Kuweit zu kreieren, wurde aber dann als der kleinere Partner in ein Konsortium, mit der ecuadorianischen Staatsgesellschaft Cepe komplimentiert. Damit nicht genug: »Siebenundachtzig«, Stech kaut die Zahl wie einen sauren Bonbon, »87 Prozent Gewinnsteuer werden uns abgeknöpft.« Das Verhältnis zwischen den Konsorten ist gespannt.

Der rotweiße Schlagbaum wird geöffnet, in einem Pick-up der Cepe verlasse ich den geschniegelten Kleinkosmos des Öls, und der Chaosmos einer Stadt springt mich an: Schäbige Buden mit Wellblechdächern, aber überquellend von Waren, Hochbetrieb in den Saloons, ein Gewusel von Kleinlastern voller Menschen und Menschen selbst auf dem Dach eines Busses, im schlammigen Straßenpfuhl schleudert der Dreck, während aus verrosteten Benzinfässern der regennasse Müll stinkt, doch in allem Schluder schon die Dynamik einer aufstrebenden Stadt.

Im Restaurant Utopia ist die Betonzeit bereits ausgebrochen, aber das Bretterhotel Oro Negro sieht noch aus, als würde gleich der Westernheld vom Balkon auf ein Pferd springen und vorbeipreschen an diesem absurden Hügelfriedhof, wo sich der Ort mit einem Willkommensschild empfiehlt: Bienvenido.

Die westliche Zivilisation, deren erstes und letztes Zeichen die Kreuze auf geordneten Gräbern sind, reduziert sich auf die Straße, die von den Ölgesellschaften durch den Urwald geschlagen wurde, verliert sich in den Bretterhütten der Siedler, die im armseligen Nachzug des Kapitals ein Stück Land urbar machen. Die Leitungen entlang der Fahrspur zweigen zuweilen ab. Ein verrohrtes Loch auf kleinem Rasenstück, und rundum kreischt der Dschungel: Surreal wirken die Quellen, aus denen, unumzäunt, unbewacht, der Schmierstoff allen Wohlstandes fließt.

Der Bohrturm, ein Ungetüm. Wie er dasteht in der Urlandschaft, die er zerstört und beherrscht, muß ich ihn doch bewundern als ein Denkmal des menschlichen Technikverstandes. Auf 2700 Meter Tiefe ist die Bohrung schon niedergebracht. Ein paar hundert Meter noch, und sie wird fündig sein.

Vom Turm, von dem Lärm und der Glut erholen sich die Männer in gekühlten Containern mit Eisschrankverschluß. Der Chef hat einen für sich, die qualifizierten Techniker teilen sich einen zu zweit, und die Handlanger schließlich schichten sich zu sechst in so einem Kasten: futuristische Wohnmaschine in Kleinbürgergeschmack, ausgeschlagen mit Holzimitation, Perlonspitzengardinen

vor den Luken. In den Kantinencontainern wird den Schwerarbeitern, nach Klassen getrennt, ein klassenlos gutes Essen aufgetischt, dessen frische Zutaten aus Quito eingeflogen sind. Während im Fernseher Fellatio von der neuesten Pornokassette läuft, schaufeln die urtümlichen Mannsbilder gewaltige Portionen in sich hinein, Geschmatz, Geschnalz.

Wie Inseln liegen die Wohn- und Materiallager im Wald, und aus der grünen Undurchdringlichkeit führt nur die Schotterpiste hinaus, zur nächsten Insel in dem auf 600 Kilometer verstreuten Öl-Archipel. Manchmal schießt ein Vogel hervor, um sich, wie besoffen vom Licht der Straße, schnell wieder ins blättrige Dunkel zu flüchten.

Ein paar Stunden schon sind wir unterwegs, da taucht ein geisterhafter Ort auf. Verlassene Häuser mit

vernagelten Fenstern modern in der fahlen Farbe ausgeblichenen Holzes vor sich hin wie die Schilder, die sie zum Verkauf ausweisen. Irgendwo schlägt eine Tür, und leises Weinen zittert in der Luft.

Die Straßenbaukolonnen, die diesem Ort ein kurzes Leben einhauchten, sind längst weitergezogen, nur ein paar Siedlerfamilien blieben zurück. Eine trauert um ihr Kind, das ganz in Weiß zwischen Kerzen auf der Loggia aufgebahrt liegt. 25 Tage nur ist es alt geworden. In diesem fieberheißen Brodem, Gott wird's geklagt, als könnte ein Allmächtiger die Schöpfung korrigieren, sterben zarte Wesen schnell dahin.

Fort geht die Fahrt durch diesen Stirbund-werde-Biotop, in dem ein Blatt, kaum daß es vom Baum gefallen ist, verfaulend den Baum wieder ernährt. Über den geschlossenen Kreislauf der Natur hat der Mensch mancherorts Katastrophen gebracht. In schmierigen Ölseen von schillerndem Regenbogenglanz stehen sterbende Bäume. Wie vergessen liegen die Reste zerborstener Rohrleitungen da. Zu tief ist hier der Wald, als daß Sorge zur Beseitigung von Umweltschäden getragen würde. Die nächste Insel ist noch weit.

Unverhofft grüßt da wieder Zivilisation in Gestalt von Tennisplätzen. Auch Billard weiß man im Club zu schätzen und Klassiker, Flaubert, Dostojewski, James, wie sich in der Bibliothek erweist. Die Ästhetik abgeschliffener Bohrköpfe ist erkannt: Sie dienen als Schmuckstücke im ältesten Camp, dem historischen Ort der Öleroberung.

Hier fand zu Beginn der 70er Jahre die größte Luftoperation nach dem Vietnam-Krieg statt, von der Lagerverwalter Guillermo Jaramillo, Mitte Fünfzig, erinnerungsselig erzählt, während seine Vicky, die kleine Wildkatze, die er von Indianern gegen etwas Zucker eintauschte, durch seinen Hort von Millionenwerten tollt. Sein Raubtierchen liebt der sanfte Mann wie jene Frau, die er bei seinem dem Öl geweihten Leben nicht fand. Er erlag der Faszination des Dschungels schon, als er ein Junge war und, wie andere Karl May lasen, die Abenteuer der Shell in der Zeitung verfolgte.

Die Ölgesellschaft war zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges auf der Suche nach dem dringend benötigten Rohstoff in die Jagdgründe der Auca vorgedrungen. Die noch in der Steinzeit lebenden Indianer töteten mit ihren Speeren an die 20 Ölarbeiter. Mut hatte der junge Jaramillo, und als er endlich 18 war, fing er gleich nach dem Abitur bei der Shell an.

Das Öl war zu teerig, der Krieg war aus. Die Gesellschaft zog sich vor den Wilden zurück. In Ecuador interessierte das schwarze Gold zwei Jahrzehnte lang niemanden mehr.

In Kolumbien aber herrschte Ölrausch. Jaramillo fing bei der Texaco an und blieb 18 Jahre. Unglückliches Land, es wurde ausgepowert zu den Schleuderpreisen der Vorkrisenzeit und mußte nach der Krise schließlich teuer gewordenes Öl importieren. Aus dem Hochland kam die Exploration schließlich in den Urwald, und wenngleich das Vorkommen im kolumbianischen Zipfel Amazoniens dürftig war, so wies es doch dem Multi den Weg über die Grenze auf ecuadorianisches Gebiet.

Jaramillo war unter den 300 Männern, die in ein seismographisch ausgesuchtes Stück Dschungel geschickt wurden. »Wir fällten Bäume und machten eine Plattform, worauf wir unsere Zelte stellten. Drei Jahre lebten wir so. Auf dem sumpfigen

Grund konnten wir nicht bauen, weil wir einfach keinen Kies fanden. Erst nachdem wir uns eine Straße gemacht hatten, 40 Kilometer weit zu einem Fluß, bekamen wir genug Material, um uns unsere kleine Welt hier zu schaffen. Wir arbeiteten wie verrückt, von morgens bis spät, da wir mit nichts anderem unsere Zeit totschlagen konnten.

»Die Maschinen, die wir brauchten, wurden Teil für Teil von Hubschraubern eingeflogen. Wir setzten sie zusammen. Es war unser Puzzlespiel. Als wir schließlich ein Flugfeld planiert hatten, kamen die Hercules. Sie landeten nur nachts, denn nachts, das müssen Sie wissen, ist hier der Luftdruck höher. So konnten die Transportflugzeuge schwerer beladen werden. Eine Million Pfund, stellen Sie sich das bitte vor, eine Million Pfund kamen zu uns durch die Luft geflogen, bis wir den Bohrturm stehen hatten.«

Aus der Bohrung »Marian I« sprudelte 1971 das erste Öl.

Wenn die Löcher nicht nach den Frauen der Vorarbeiter benannt wurden, so erhielten sie indianische Namen: Hommage an »Auca« oder »Tarapoa«, die kleine Schildkröte, die auf höhere Weisung die Hure Patricia als Patronin eines Loches zu ersetzen hatte. Die dennoch berühmt gewordene Dame ist inzwischen ehrbar geworden und besitzt in Lago Agrio, wie eine noch praktizierende Kollegin mit rollenden Augen erzählt, »ein zweistöckiges Haus, zwei Stockwerk hoch«.

Die Ölwelt der Männer, die einander Hermano, Amigo, Companero nennen und einander als Bruder, Freund, Gefährte berühren, wenn sich Nähe ergibt wie beim Grüßen oder Feuergeben, diese sinnenfreudige Machowelt bedarf der weiblichen Gegenwelt von Prostitution.

Im jüngsten Camp der klimatisierten Container, wo der Alkohol verboten ist und verbotener noch die Frau, wird selbst Waschen, Kochen, Putzen von männlicher Bedienung besorgt. Wie der große Bruder aber hält der Ingeniero Fernando Moreno, Mitte Dreißig, bärtig-kumpelhafter Chef des Camps, die Hände über Mamanina, die in anstandsvoller Entfernung von zehn Minuten für den Rum sorgt und die Chicas, die Mädchen, immer wieder neu im Angebot.

Zehn Minuten durch den Wald in andere Richtung hat Leda Lisa, ebenfalls Mitte Dreißig, keusche Schwester von San Miguel de Sucumbios, ihr sauberes Holzhaus im Gärtchen. Dem Ingeniero Moreno, mit dem ich komme, wünscht sie ganz unchristlich die Moskitos an den Hals. Verlegen steht er da, und die Schwester zürnt und zürnt, ruft ihre himmlischen Heerscharen, »stechen sollen sie diese Cepe-Leute wie toll, holen hier soviel Geld aus dem Boden und tun nichts gegen das Elend ringsum«.

Die Ordensfrau, zur Hebamme ausgebildet, ist verantwortlich für die medizinische

Betreuung der Siedler, etwa 3000 entlang 45 Kilometer Dschungelstraße. 400 bis 500 Kranke hat sie derzeit zu versorgen. »Es ist hart«, sagt sie, »nicht helfen zu können.« Denn daß ihre Medizin nichts nützt, wo chronische Mangelernährung der Untergrund von Krankheit ist, weiß sie nur zu genau.

Fünf Jahre ist sie hier, und fünf Jahre kämpft sie um ein Zentrum zur Speisung von Unterernährten. »Warum«, faucht sie den Öl-Mann an und sieht so glutvoll aus, als würde sie gleich die Carmen schmettern, »warum kann die Cepe nicht helfen?« Vor der Nonne im kurzen Rock trollt sich das kleine Chefchen mit hochroten Ohren.

Im Hurenhaus aber wird der Boß mit Ola-Ola empfangen. Mamanina, schwarze Frau, »185 Jahre alt«, wie sie sagt und dazu lacht ohne ihre Vorderzähne, die sie sich an einem Hühnchen ausbiß, füllt mit ihrer Wucht von gutturaler Wärme die Bretterbude aus. Ein paar bunte Lämpchen, die Musicbox hinter Gittern, zum Sitzen ein paar Baumstümpfe - karg ist dieses Freudenhaus, durchzogen vom Geruch des Urins, den die Gäste wie die Hundemarken draußen vor der Tür hinterlassen, wo sich auch das Schwein »Reina«, die Königin, wohlig im Suhle wälzt.

Dabei befindet sich der »Nightclub« bereits auf höherem Niveau. Mamanina hat klein angefangen, als sie vor acht Jahren dem Ruf des Öls von der Küste folgte, weil sie es satt hatte, auf dem Markt hinter ihrem stinkenden Fisch zu stehen. Mit einer Kiste Rum auf dem Buckel und der Machete in der Hand schlug sie ihren ersten drei Mädchen den Weg zu den Männern, die von einem Helikopter im Urwald abgesetzt worden waren. Ein Tuch wurde hingehalten - und hopp, hopp hub das Gunstgewerbe an.

Fünf Jahre mußte sie als Marketenderin herumziehen, bis sie es zu ihrem festen Haus brachte, dessen Konkurrenzlosigkeit sie mit Zunder verteidigt hat. Wer wagte denn noch, in ihr Revier einzudringen: Das Gerippe von einem ausgebrannten Bordell steht nicht weit.

Die umherschweifenden Mädchen, »ein jedes mit Problemen belastet«, wie die anteilnehmende Puffmutter weiß, bleiben ein paar Tage, ein paar Wochen, ein paar Monate, gehen und kommen wieder: »Wie eine große Familie sind wir.«

Ein Kind mit verrutschten Windeln wackelt durch den Animierbetrieb, und mein Blick ihm nach genügt schon, daß es mir als Geschenk angeboten wird. Ein Spaß? »Aber nein, hier werden die Kinder schnell verschenkt«, sagt Mamanina, geht ab und kommt wieder, ihr jüngst empfangenes Geschenk vorzuzeigen. Jämmerliches Babeduttchen, du dauerst mich, Greisengesichtchen mit entzündeten Augen, ruderst mit ausgetrockneten Ärmchen in dem bißchen Leben herum und wirst es nicht zu fassen kriegen, ach

Kindchen, deine geschenkte Mutter ist stolz auf dich und weiß deinen Namen nicht, sie muß ihn erst in ihrem Notizbuch nachschlagen: Duglon Joselito, 21 Tage alt.

»In meinem Haus wurde er gezeugt, in meinem Haus wird er bleiben«, Mamanina wiegt ihr moribundes Kind, geschädigt in ihrem Haus schon vor der Geburt durch einen Leibriemen, der die begehrteste ihrer Huren bis zur Niederkunft im Geschäft hielt. Sie tanzt schon wieder, hübsch anzusehen in ihren engen Jeans, und jemand gibt ihr einen Klaps auf den Po, Mädchen, wie wär's.

Widerschein vom Feuerglanz abgefackelten Gases liegt auf dem Hurenhaus. »Schöneres als diese Fackel über dem Nachtwald«, fragt mich der Ingeniero, »haben Sie Schöneres je gesehen?«

Mit seinen langen Haaren und seinem indianischen Gesicht fällt der Mann mir gegenüber auf in der Halle des Hotels Colon, das sich betonklotzig an der Renommierallee Amazonas im modernen Teil Quitos erhebt. Samuel Caento, Anfang Dreißig, ist einer der seltenen Menschen, die sich in blütenweißem Hemd und heller Hose, das Samsonite-Aktenköfferchen in der Hand, durch den geschäftigen Internationalismus eines großen Hotels mit derselben Sicherheit zu bewegen vermögen wie durch den Urwald auf der Jagd mit dem Blasrohr, nackt bis auf die Hüftschnur der Aucas. Wie sich ihm jede der zwei Welten, die der Archaik und die der Zivilisation, durch ihr Gegenteil zeige, so daß er sich stets außerhalb befände, diese einsame Anstrengung, doch auch diesen Genuß der Erkenntnis, beschreibt er in eloquentem Englisch.

Exzellent erzogen haben ihn die Wycliffe Bible Translators, sogar in den Staaten aufs College geschickt. Durch die Propaganda-Maschinerie haben sie ihn gedreht, den christianisierten Sammy-Sunnyboy, der mit seiner den Wilden entsprungenen Mama Spenden einspielte für die hydraköpfige US-Organisation mit Linguistik-Instituten und Missionsstationen, Handel und Wandel zur Heidenbehandlung, Flug- und Funkdienste eingeschlossen.

Von Dayuma, seiner Mutter, erzählt er, wie sie aufwuchs im Auca-Wald zu blutiger Zeit, als die Eindringlinge der Shell ebenso leichthändig gespeert wurden wie ganze Familien des eigenen, in verfeindete Horden zerfallenen Stammes; wie sie sich aber mehr noch als vor dem Kriegs-Tamtam während ihrer vielen Krankheiten vor der eigenen Mutter fürchtete, ihren Händen, die sie strangulieren würden, weil es üblich war, das Schwache auszumerzen, zumal die Jagd bei all dem Morden zu kurz kam und Nahrung stets knapp war. Nachdem die Mutter den Vater Caento mit schweren Speerwunden, aber noch lebendig begraben hatte, paddelte das Indianermädchen im Kanu als erste ihres Stammes zur Zivilisation.

Auf der am oberen Napo gelegenen Hazienda von Don Carlos Sevilla, einem Spanier, der für sich Ketschua-Indianer als Baumwollpflücker und Kautschukzapfer arbeiten ließ, fand es Aufnahme, und geblendet von der ganzen Pracht der weißen Herrschaft, war es dem Sohn des Hauses gern zu Willen. Mein Gegenüber, das Halbblut, war die Folge, katholisch getauft auf den Namen Ignacio, protestantisch umgetauft auf Samuel von einer fanatischen Frau: Rachel Saint, aus Philadelphias Bürgertum abstammend, wollte das Besondere, und was gab es Exotischeres, als Wilden die Bibel zu bringen.

Während sie sich Dayuma krallte als die einzige, die sie in die unbekannte Sprache einführen konnte, landeten in Kreuzzugs-Konkurrenz fünf US-Missionare auf dem von ihnen »Palm Beach« genannten Sandufer im Auca-Land, nachdem sie Töpfe, Kleider und ein lebendes Huhn abgeworfen hatten und als Gegengeschenk an einer Leine Federschmuck und einen Papagei mit Banane

im Körbchen in ihr Flugzeug gezogen hatten.

Der Pilot der Piper war Rachels Bruder Nate Saint, in dessen Notizbuch sich die Eintragung fand: »Ist es recht, wenn wir die Zukunft wägen und Gottes Willen suchen, daß wir unser Leben wagen nur für ein paar Wilde? Indem wir uns so fragen, erkennen wir, daß es nicht der Ruf elendiger Tausendschaften ist, sondern der Wink des prophetischen Wortes, am Jüngsten Tag würden von jedem Stamm einige in seiner Gegenwart sein, und in unserem Herzen fühlen wir Sein Wohlgefallen, daß wir in das Auca-Gefängnis eine Öffnung für Christus brechen wollen.« Alle fünf wurden getötet.

Gekränkt vom Alleingang des Bruders, doch auch beseelt von christlicher Vergebung, zog Wycliffe-Missionarin Rachel Saint, nachdem sie sich und Dayuma in Hollywood und im New Yorker Square Garden, im Fernsehen wie auf einer Billy-Graham-Show vorgeführt hatte, zu den Auca in den Wald. Die indianische Freundin trieb ihr anverwandte Wilde zu, und bald konnte sie drei der Mörder ihres Bruders wenigstens zur Hose bekehren. Gefeiert in USA als »Missionary superstar«, baute sie mit der Verlockung der Waren in 20 Jahren die Missionsstation Tiwaeno auf.

Erbittert spricht Samuel Caento von der Polio, die als Nebenwirkung des Bekehrungswerkes über seinen Stamm kam. Die Zivilisation ließ mit Rollstühlen grüßen. Zu seinem Bedauern stellte er fest, daß die traditionelle Medizin, die er selber sehr zu schätzen weiß, verlorenging und sich statt dessen eine Abhängigkeit von Medikamenten ausbreitete.

Die Blasrohre wurden von Gewehren verdrängt, aber um Kugeln kaufen zu können, mußten die Jäger Blasrohre für den Souvenirmarkt basteln. Geschenkte Transistorradios beschallten den Wald und schufen ein Bedürfnis nach Batterien. Die T-Shirtisierung und Coca-Colaisierung der Indianer setzte viele Wünsche frei.

Aber der Verkauf von lebenden Papageien und Affen brachte nicht viel ein. Jaguar und Anakonda wurden so selten, daß der Handel mit deren Häuten verboten wurde. Wie bloß sollten Entsprungene der Steinzeit im Kapitalismus erfolgreich sein? Unzufriedenheit mußte sich, wie Caento meint, zwangsläufig einstellen.

»Die Missionare«, sagt er, »sind im Grunde wie die Konquistadoren, nur schießen sie nicht, sie töten meine Brüder im Gehirn.« Als einzigen Segen der Mission wertet er, daß die christianisierten Aucas zu töten aufgehört haben.

Profiteure waren die Ölgesellschaften. Ein Gebiet, in das sie eindringen wollten, bereiteten die Missionarin Saint und ihre indianische Freundin Dayuma vor, indem sie noch unbefriedete Horden über einen Lautsprecher, der in einem Korb aus dem Flugzeug gelassen wurde, zum Umzug nach Tiwaeno bewogen, natürlich unter Versprechung von Geschenken. Caento selber diente bei geologischen Explorationen als Führer und Übersetzer.

Der Missionar, zu dem er bestimmt war, wollte er keinesfalls werden. Auch seine Mutter löste sich schließlich mit einer Gruppe von ungefähr 50 Anhängern aus dem überjagten Bannkreis der Missionsstation und kehrte, ganz nahe bei »Palm Beach«, zurück zu mehr Natur, allerdings mit Moskitonetz und Nähmaschine.

Als im Jahre 1977 das Unerwartete geschah, die Speerung von drei Ölarbeitern, verbrachte das Militär einen Teil der Auca aus dem Umfeld des Tatortes zur Missionsstation. Caento aber zog mit dem letzten Rest der Wilden tiefer in den Urwald, weil er sie vor Verelendung am untersten Rand der Zivilisation bewahren wollte.

In ihrem Revier am Rio Cononaco leben sie nach seiner Schilderung in einfachen Palmhütten, fern von der Außenwelt mit ihrer Materialkultur, die ihnen allein Töpfe und Macheten beschert hat. Sie gehen nackt, nur mit Hüftschnur, und schlafen nachts eng aneinandergedrängt um ein Feuer, sie jagen mit dem Blasrohr, sie schmücken sich gern mit Körperbemalungen und Pflöcken in ausgeweiteten Ohrläppchen, sie tragen ihre Kinder in Rindenbändern mit sich herum, aber unerwünschter Kinder entledigen

sie sich im Wald, so wie es immer war.

In die »Steinzeit der Menschheit« kann man mit Caento fliegen, er führt Exquisit-Touristen auch zum Jagen nach »Palm Beach«, wo der Urwald über die Gräber der Missionare gewachsen ist, gern heißt seine Mutter Dayuma ausländische Gäste willkommen, und er hat auch einen Medizinmann an Hand, der die überaus halluzinogene Droge Ayahuasca reicht. Der Preis ist Verhandlungssache, doch unter 2000 Dollar, die Anmietung eines Flugzeuges ist schließlich teuer, dürfte kaum etwas zu machen sein.

Sam, »call me Sam«, klappt seinen Samsonite auf und präsentiert Auca-Idylle in Bildbänden. Die Vereinigten Staaten sind gut bedient, prächtig das Schweizer Hochglanzwerk, man kann ihm nur gratulieren zu seiner Vermarktungsstrategie. Dieser Tage ist er groß in der Zeitung, mit dem Kultusminister abgebildet, und der Agrarminister versprach ihm, dem Auca-Reservat (66 570 Hektar), einst von seiner mit Karten unerfahrenen Mutter eingezeichnet, ein Zehnfaches als Jagdgründe zuzuschlagen. Was sich unter der Erde befinden sollte, das allerdings gehört dem Staat.

Das Öl treibt die Straße vor. Bald wird der Urwald im Quellgebiet des Cononaco von Siedlern gebrochen sein. Caento bereitet den Exodus der letzten Wilden seines Stammes vor.

Weiter flußabwärts sollen sie ziehen. Noch gibt es für sie, die sich nicht Auca, Wilde, nennen, wie sie für die Außenwelt heißen, sondern Huaorani, »Wir, die Menschen«, Jagdgründe in dem Gebiet, das sich in Richtung Peru hinzieht.

Von Quito gibt es keinen Flug in das peruanische Amazonien, über Lima führt der 1600 Kilometer lange Umweg nach Iquitos, denn Iquitos ist nach ecuadorianischer Lesart geklaut. Nachdem das von den Brüdern Pizarro zusammengeraubte Reich der spanischen Krone zerfallen war in Bolivien, Peru und Ecuador, aber die Grenzen in Amazonien für die Menschen sowenig galten wie für den Jaguar, raffte sich Peru ein Stück Urwald nach dem anderen von Ecuador, während sich der aus portugiesischer Herrschaft entlassene Gigant Brasilien an bolivianischem Dschungel gütlich tat. Als die Welt auf den Zweiten Weltkrieg schaute, schlug Peru wieder einmal zu, die Jahre vergingen, und aus dem Dschungelkrieg wurde im nachhinein der große Coup.

Natürlich zieht sich das in Ecuador angebohrte Ölvorkommen nach Peru herüber, das schon das Nachbarland in der Förderung überflügelt hat. Vor zwei Jahren lieferten sich die beiden Staaten einen Fünf-Tage-Krieg. Von der Ordnungsmacht Brasilien wurden sie einstweilen zu unsicherer Ruhe gebracht.

Schwere Regen gehen nieder über Iquitos, in der Halle des Flughafens

dösen die Leute der Ölgesellschaften und warten darauf, daß sie hinaus können zum Kampf um das schwarze Gold gegen den Wald, der nur noch heil und so unheilvoll ist auf der schwülstigen Wandmalerei über ihren Köpfen: Der Indianer im Rindenkleid ist auf der Jagd mit dem Blasrohr, der Jaguar lauert, und die Anakonda hängt vom Baum.

Über 300 Bohrungen, 60 000 Kilometer seismographischer Aufzeichnungen: Tatsächlich wurden im Urwald Brasiliens, das zwei Drittel des Amazonasbeckens besitzt, unzählige Spuren von Öl und Gas entdeckt. Aber groß ist die Frustration, denn die Vorkommen lohnen die Ausbeutung nicht. Dafür, so heißt es unfromm, habe der Schöpfer am achten Tag göttlich in den Wald geschissen: Gold.

Daß es einige Flüsse führen, haben schon Konquistadoren entdeckt, und seither gehört die Figur des einsamen Goldsuchers in das Stromland. Seit einem Jahrzehnt aber, mit zunehmender Erschließung, jagt ein Goldrausch den anderen, in allen Anrainerländern Amazoniens, vor allem aber in Brasilien, das in seiner Not mit den größten Auslandsschulden in der Welt auf den Garimpeiro schaut: ein schillerndes Zwitterwesen, gesellschaftlicher Paria, solange er im Dreck nach dem Golde wühlt, doch ein Held, wenn er nur fündig wird.

Manche in Itaituba erinnern sich an die Zeit, als es noch keine Autos gab und die Flußschiffe vom Amazonas, der Herzschlagader allen Verkehrs, gemächlich den Tapajos herauftuckerten. Dann wurde der gargantueske Korridor, Brasiliens Jahrhundertwerk der 70er Jahre, 3500 Kilometer durch den Wald geschlagen, und die Transamazonica erfaßte den so lange der Zeit entrückten Ort.

Die Siedler kamen, und es nistete sich jenes unruhige Volk von Abenteurern ein, das von hier aus in die Wildnis schweifte auf der Suche nach schnellem Reichtum, denn zwischen Tapajos und Jamanxim, im Geäder vieler kleiner Flüsse, lockte Gold.

»Wir kaufen Gold« - diese Stadt ist voll von schreiender Schrift, und an der zentralen Kreuzung voller Hupen und Bremsengekreisch sitzt, den Kopf an ein abgeblättertes O von Ouro gelehnt, eine bettelnde Halbindianerin mit ihrem Kind im Schmutz der Straße. Andere Mütter tragen Säuglinge, nackt bis auf die Gummihosen, aber mit goldenen Kettchen behängt. Goldene Kreuze baumeln auf haarigen Männerbrüsten, und mancher lacht mit goldenen Zähnen.

Um jedes Handgelenk ein goldenes Gliederarmband, so sitzt der Polizeichef Romualdo Gil Carvalho, ein Mann mittlerer Jahre mit grauen Schläfen, hinter seinem Dienst-Schreibtisch. Durch die dünnen Wände seines Büros ist das Gebrüll einer Frau zu hören, die eine andere erschlug und, nur durch ein Gitte r getrennt, zu den neun, unter Mordverdacht sitzenden Garimpeiros in die dunkle Gefängnishöhle gesteckt wurde.

»Die Stadt«, sagt der Kommissar, »die Stadt haben wir gut im Griff, obwohl sie sehr schnell wächst.« Der Dschungel da draußen aber entzieht sich dem Gesetz, wie anders auch bei zwölf Mann auf drei Posten in einem Areal von 50 000 Quadratkilometern, in dem sich die Goldsucher befinden, vielleicht 40 000, wer weiß schon genau, wie viele es sind.

»Jede Woche werden zwei bis drei Morde gemeldet«, Carvalho hebt müde die Schultern, »manchmal erfahren wir erst Wochen später, daß da was war. Schätze, daß wir oft gar nichts erfahren; über die Leiche wächst einfach der Wald. Haben wir einmal einen Täter, dann haben wir keine Zeugen, keiner weiß Genaues, niemand will aussagen, und wir stehen dumm da, der Advokat kommt, und unser Täter geht wieder raus.«

Vor drei Jahren war der letzte Prozeß, und endlich, endlich steht ein neuer an. »Aber ob die Leute, die wir in Haft haben, auch verurteilt werden, das ist die große Frage«, und Carvalho macht seine müde Schulterbewegung.

In Itaitubas vielen Läden mit den Feinwaagen werden am Tag um die 50 Kilogramm Gold aufgekauft und an den Staat weitergeleitet. Für ein Gramm bekommt ein Garimpeiro, gerechnet zum offiziellen Kurs, ein Viertel mehr, als der Weltmarktpreis (34 Mark) beträgt, doch weitaus weniger, gemessen am schwarzen Kurs, der von Woche zu Woche steigt. Bei schwindelerregender Inflation wird manches Gold gehortet und mehr noch gegen harte Währung ins Ausland verschoben. Dunkelmänner verkehren in dieser Stadt.

»Wir kaufen Gold« - für das legale Geschäft wird sogar auf dem Flughafen geworben, in der Halle befindet sich, wo gibt es das sonst im Luftverkehrswesen, ein Schalter mit Goldwaage, damit von draußen einkommende Garimpeiros ihren Schatz sofort losschlagen können. Auf dem Flugfeld an die 200 kleine Maschinen.

»Das finden Sie nirgendwo sonst in Amazonien«, sagt der Pilot, und im Lufttaxi, das mich den Gegenwert von 35 Gramm Gold kostet für diesen Tag, fliegen wir los. Auf der neuesten Flugkarte vom Garimpo-Gebiet zwischen Tabajos und Jamanxim sind etwa 30 Landepisten eingedruckt. Dazu hat der Pilot noch etwa 60 kleine Kreise mit Bleistift eingezeichnet, »höchstens die Hälfte«, sagt er, »da kann man so schnell gar nicht nachkommen, wie die Leute die Stripes in den Wald schlagen«.

Wir fliegen über silbriges Geäder, wir fliegen über ein grünes Meer, und die Berge und Täler sind wie die Wellen, und es war da einmal vor 60 Millionen Jahren ein Meer, von dem, als sich sein Grund hob, die Flüsse geblieben sind, Urströmen gleich, und sie durchziehen das grüne Gewoge der Wipfel, das wogt wie am ersten Tag, der irgendwann vor zehn Millionen Jahren heraufgedämmert sein mag.

Mitten im Dschungel setzen wir zum Anflug an und rollen aus auf 400 Meter holpriger Sandpiste. Das kann nicht wahr sein, Hollywood muß diese Szenerie aufgebaut haben, diese zwei Zeilen spitzgiebliger Bretterhütten links und rechts der glühenden Piste, die eigentlich die Hauptstraße ist, auf der gerade geschossen wird, und ein Pferd wiehert dazu. Der halbnackte Mann, der Lappen

blutigen Fleisches zum Sonnentrocknen über ein Holzgestell hängt, läßt sich nicht stören, und träge an eine Bude namens Bar gelehnt, sprechen ein paar unrasierte Gesellen dem Cachaca zu, und während der Zuckerrohrschnaps fließt, wippen gegenüber unter dem schattigen Vordach ein paar Mädchen mit gespreizten Beinen auf ihren Stühlen auf und nieder.

Wieder so ein Angeber, der einfach so rumgeballert hat. Man kennt das in Cuiu-Cuiu, Goldgräberlager, 1500 Männer, 80 Prostituierte und kaum 20 Familien mit Kindern.

Eine halbe Stunde schon geht es den Saumpfad durch den Wald, ich kann kaum noch mithalten mit dem Pulk, der aus dem Camp auf dem Garimpo zieht. Männer, die aussehen wie die Desperados, nehmen mir den Kamerakoffer und die Tasche ab, meine Papiere, mein Geld, und sind bald federnden Schritts hinter der nächsten Biegung verschwunden.

»Die Sachen sind sicher wie sonst nirgendwo in Brasilien«, sagt der fette Händler, der schnaufend mit mir zurückgeblieben ist: »Die haben ein komisches Ehrgefühl im Leib, hier wird nichts geklaut, hier wird getötet, im Streit, im Suff, wegen einer Frau.« Und ums Gold? »Daß einer kaltgemacht wird, damit der Anteil der anderen größer wird, mag schon mal vorkommen, aber selten, selten. Die Frau, das ist hier die Gefahr.«

Als hätten Bomben eingeschlagen: Bruchholz modert, in Kratern steht brackiges Wasser. Dieses Stück einstmals reicher Erde ist schon arm geworden. Ein neues Loch wird gegraben. An die drei Meter tief, beinahe auf goldigem Grund, sind sie schon, die acht Männer, junge kräftige Kerls, die in sengender Mittagssonne hacken und schaufeln. Und wollten sie nicht mehr, sie müßten weiter schuften.

Ob sie aus den Dürregebieten in Brasiliens Nordosten kamen oder aus den Favelas der großen Städte, bis nach Itaituba kamen sie billig, aber schon für den Flug nach Cuiu-Cuiu haben sie sich verkauft. Jetzt sind sie in der Hand des Unternehmers, der die Ausrüstung finanziert hat, die Schubkarren und Schaufeln, die Motorsägen und Wasserpumpen, und der, vor allem, sie nicht verhungern läßt.

So arbeiten sie, was sollten sie hier draußen sonst tun, bis schlagartig die Nacht niederfällt und die Schwärme von Moskitos anschwirren. Dann verkriechen sie sich unter ihre Netze und schlafen in ihren Hängematten, gegen den Regen nur durch eine gespannte Plane geschützt, dem neuen Arbeitstag entgegen.

Wenn sie endlich die Schicht ihrer Träume erreicht haben und zu waschen beginnen, dann wird ihr Besitzer dabeistehen, und die Hälfte des Goldes wird seines sein. Mit dem Sechzehntel, das ein jeder behält, werden sie sich aufmachen nach Cuiu-Cuiu. Der Cachaca wird strömen, und die Schönen der Nacht werden willig sein, und am Morgen wird mancher wieder arm sein wie zuvor: Ein neuer Zyklus der Abhängigkeit kann beginnen.

Die Herren der Claims sind die Herrscher von Cuiu-Cuiu. Die Dirnen und die Wirte haben ihre Goldgrube, und auch die Händler, die alles drei-, viermal so teuer verkaufen wie in Itaituba, machen ihren Schnitt. Schließlich stammt

auch der Schwarm der kleinen Flugzeuge, die jede Schippe, jedes Stück Seife einfliegen, vom Golde her. Derjenige aber, der es findet, bezahlt oft genug mit Fieber im Blut. Kein Ort in Brasilien, so von Malaria verseucht, wie ein Garimpo.

Wir wollen schon starten, da wird uns ein fröstelnder Jüngling gebracht, wie irre sieht er uns an aus mattglänzenden Augen. Seit fünf Tagen schon fiebert er in Schüben, da er aber kein Geld hat, flog ihn niemand aus. Sein Glück wollte er machen, Merda, Malaria.

Herrscht zwischen Tapajos und Jamanxim die Gnadenlosigkeit derer, die in der Härte überleben, so ist Amazoniens größte Goldgrube fest in ordnender Hand. Serra Pelada, der kahle Berg, aus dem 23 000 Männer binnen drei Jahren an die 30 Tonnen Gold holten, ist schwer bewacht. Es besteht Alkohol- und Waffenverbot, und in dieselbe Kategorie fällt auch die Frau.

Im geologischen Archiv der staatlich kontrollierten Minengesellschaft Vale do Rio Doce wird mir der Berg in Bildern gezeigt: photographiertes Altertum, eine Landschaft, rostrot, in unzählige Karrees zerlegt, Türme und Tiefen, verbunden durch Leitern und dazwischen ein Gewimmel von Ameisen menschlicher Gestalt. In Nahaufnahme epische Züge von Trägern, Bilder, wie sie das Kino nicht erfinden könnte. Wohin sie ziehen, die Gestalten mit ihren feucht glänzenden Säcken? Zum künstlichen Berg von Neu-Babylonien. Der ausgewaschene Dreck von den zwei mal drei Meter großen Claims, einst verlost unter dem herbeigeströmten Abenteurervolk, wird aufbewahrt, denn selbst er enthält noch allerfeinsten, von Hand nicht zu gewinnenden Staub des wertvollen Metalls. Zur Serra Pelada will ich hin.

Nun fahre ich schon zum wer weiß wievielten Male auf diesem Alptraum von Straße, diesem Stück Transamazonica zwischen Alt- und Neu-Maraba. Weißheiße Sonne, und es ist dichter Nebel von rostrotem Staub, aus dem Menschen, Karren, Busse, Wagen schemenhaft auftauchen wie auch eine Gespensterherde von Kühen, die Müll fressend zwischen schwelenden Feuern einer wilden Deponie stehen.

Maraba, der integrierte Verkehrsknotenpunkt Straße-Wasser-Schiene des »Großprojekts Ostamazonien«, soll hier entstehen, Metallindustrie soll sich entfalten, das Gelände da drüben haben sich die Deutschen schon gesichert, Korf will kommen, und die Japaner sind natürlich dabei.

Aber diese Stadt im brasilianischen Bundesstaate Para, die so lange schon von den Paranüssen in den Wäldern rundum recht und schlecht zu leben gewohnt ist, diese Stadt schläft in ihrer alten Mitte wie die Armen in den Hängematten unter den bejahrten Bäumen vor der verfallenen Kirche, döst am überschwemmten Kai des Tocantins vor sich hin wie die Schiffer der frachtlosen Boote. Apathie regiert diese Stadt, als gelte es nicht, der jährlichen Regenzeitflut zu wehren, geschweige denn die Straße zum auserwählten Industriegebiet von Neu-Maraba dem Verkehr angemessen zu asphaltieren.

Und ich fahre zwischen dem Hilda Palace, wo der Staub in Waben vor dem heulenden, aber nicht kühlenden Klimakasten hängt, die Bretter im Bett letzte Nacht zweimal vom Rost geknallt sind und auf dem Fußboden die Ameisen ihre Straßen ziehen, bewege mich schon den ganzen Tag hin und her zwischen dem angeblich besten Hotel am Ort und dem Außenbüro der Minengesellschaft Vale do Rio Doce, wo man sich konziliant um eine Besichtigungsgenehmigung für Serra Pelada bemüht.

»Vielleicht in einer Stunde, kommen Sie doch wieder«, und ich komme wieder und wieder. Umsonst: Als Frau darf ich in die Goldgrube nicht hinein.

Vielleicht auch deshalb nicht, weil Aufruhrstimmung die Garimpeiros umtreibt,

wie in Maraba, ihrem Startort zum Goldberg, zu hören ist. Die Dreckarbeit haben sie geleistet, haben sich eingewühlt in die Tiefe und sind schon nahe an der dicken Ader. Um die 500 Tonnen sollen da noch liegen. Einige spontane Millionäre wird es bis Ende des Jahres geben, dann aber soll Schluß sein für all die kleinen Privatunternehmer: Die Serra Pelada wird staatlich mechanisiert.

Annähernd 3000 Tonnen Gold, dreimal soviel wie die Weltproduktion eines Jahres, ruhen noch auf dem Gelände der Companhia Vale do Rio Doce. Doch das ist nichts als ein Fliegendreck gegen ihre kahlen Berge von Carajas, die über 18 Milliarden Tonnen Eisenerz bergen sollen und ein Vierteljahrhundert reichen würden, wenn sie, bei derzeitigem Stand, die Nachfrage auf der ganzen Welt decken würden.

Diesen Schatz hat der Geologe Breno dos Santos entdeckt, und er erzählt, wie es damals war, als er zwischen Tocantins und Xingu in einem Gebiet operierte, von dem es keine Karten gab, sozusagen einem weißen Fleck im gesammelten Wissen von der Erde.

Dort lieferten sich zwei geologische Teams, eines von dem US-Chemie-Giganten Union Carbide finanziert, das andere, das von dos Santos, im Auftrage von U.S. Steel, einen Wettlauf in der Entdeckung von Mangan, erforderlich für verschiedene Eisenlegierungen, doch nicht überreichlich vorhanden auf diesem Planeten.

Union Carbide war 50 Kilometer von Maraba entfernt fündig geworden, und da man sich in so einem Konkurrenzkampf am besten ausweicht, errichtete dos Santos seinen Stützpunkt am Xingu, die Carbide-Leute zogen jedoch nach und trieben ihn und seine Mannschaft, noch zwei Geologen, zwei Piloten und ein Dutzend Männer für die Schwerarbeit, weiter flußaufwärts. Sie schliefen unter Palmen in Hängematten und badeten im Fluß, die Romantik des Dschungels nahm sie gefangen, und die Malaria schlug zu.

Die Suche verlief deprimierend, die beiden Hubschrauber, uralte Dinger, doch die einzigen, die in Brasilien aufzutreiben waren, hatten nur eine Reichweite von zehn Kilometern, und in dem Umkreis war keine Spur von Mangan zu finden. Sie mußten also tiefer in den Wald hinein.

Es fügten sich zwei Dinge: Dos Santos hörte von einer kleinen Landebahn, die ein Nußhändler aus Maraba von Indianern hatte schlagen lassen, und er bekam Luftbilder in die Hand, die ein Jahrzehnt unveröffentlicht geblieben waren. Auf den Photos grau in grau die Waldfläche, doch ungewöhnlich helle Einsprengsel dazwischen, ein Rätsel: Handelte es sich um Kultstätten der Indianer, vielleicht auch um Kalk- oder Sandsteinformationen? Jedenfalls bezog dos Santos die hellen Flecken als Zwischenlandemöglichkeiten ein für die Operation, die Hubschrauber vom Xingu zum Nuß-Stripe zu verlegen.

Dreimal schon war der Helikopter an einem Flußufer gelandet, um aus den Fässern, die er als Fracht trug, aufgetankt zu werden. Im nächsten Abschnitt gab es keine Ufer mehr, sondern nur noch Wald mit den geheimnisvollen Flecken.

Die Maschine ging nieder, Co-Pilot dos Santos vergaß vor Aufregung seine Pflicht, Ausschau zu halten: Der Propeller haute in einen Busch. Der Pilot fluchte, denn sie hatten, um Gewicht zu sparen, keine Vorräte an Bord, und sie befanden sich auf indianischem Gebiet, ohne die Sicherheit einer Radarverbindung zur Außenwelt. Aber sie standen, der Geologe hatte es schon von oben erahnt, auf einem Berg von Eisen, kaum bewachsen, und alle übrigen hellen Sprengsel würden, so stand zu erwarten, ebenfalls eiserne Lager sein.

Der Propeller war nur leicht beschädigt, sie konnten zum Glück wieder starten, im Taumel der Entdeckerfreude: Es war der 31. Juli 1967, so lange ist das schon her.

Im fernen Pittsburgh, dem Hauptquartier der U.S. Steel, war man an dem Eisen im Urwald nicht sonderlich interessiert, schließlich gab es von dem Erz genug in den Staaten. Man sicherte sich zwar die Schürfrechte, ließ aber die Angelegenheit ansonsten ruhen, erst recht, als U.S. Steel von der brasilianischen Regierung gezwungen wurde, die Staatsgesellschaft Vale do Rio Doce als Partner aufzunehmen.

Dos Santos - er ist inzwischen Chef-Geologe bei der Doce - bekam ein Schulterklopfen, good boy, mehr war nicht drin, schon gar nicht das große Geld, da hätte er, wie er meint, eher Sänger oder Fußballer werden müssen.

Zehn Jahre nach dem Fund kauften sich die Brasilianer für 50 Millionen Dollar von dem US-Partner frei. Die Doce, die Gesellschaft vom Tal zum süßen Fluß, trieb mit aller Kraft die Urwaldunternehmung voran, zumal auf der Serra dos Carajas noch zehn Millionen Tonnen des knapp werdenden Kupfers und 60 Millionen Tonnen des begehrten Mangans entdeckt wurden, dazu Nickel und Zinn, abgesehen von dem Gold und der Welt größten Eisenerzvorkommen in 60 Lagern, ganz einfach im Tagebau mit Baggern zu schürfen.

Zwar stagnierte der Weltbedarf an Eisen, und der Preis für das Erz fiel, aber die Doce setzte sich hinweg über die kühlen Kalkulatoren, die in den Zentren der Hochindustrie den Ausschlag zu geben pflegen. Man war schon einer der größten Eisenerzexporteure der Welt und wollte eben der allergrößte werden, sei's drum, wenn die Preise noch mehr taumeln würden, viele Entwicklungsländer könnten von so einem Sturz nur profitieren, und Brasilien würde sich allemal weiterentwickeln.

Zwar formierte sich in den Vereinigten Staaten eiserner Widerstand, aber die Doce gewann schließlich, im letzten Jahr, die Weltbank für den Beweis, daß diese nicht bloß ein Spielball von US-Interessen ist (305 Millionen Dollar). Die EG ließ sich von der brasilianischen Begeisterung mitreißen (600 Millionen Dollar). Europäische Stahlindustrie, Thyssen voran, zeichnete Abnahmeverträge für das Erz, das wegen seines außergewöhnlich hohen Eisenanteils mit weniger Energie zum Schmelzen gelangt und deshalb billiger zu verarbeiten ist als etwa Importe aus USA. Das an Rohstoffen arme Japan bekam den Wink, wenn es denn von den edleren Metallen etwas haben wolle, müsse es Kredit auch für das Eisen geben (600 Millionen Dollar).

Aus den brasilianischen Träumen, in den Kreis der industriellen Weltmächte vorzustoßen, ist das Großprojekt Ostamazonien erwacht, gestaltet von dem Sinn für Gigantomanie, die schon Brasilia aus dem Busch stampfte, vorangetrieben mit dem Schub von aberwitziger Arroganz: »Gott ist Brasilianer«, wie der Nationalspruch besagt, und wollte Gott, er wär's. Was das alles kosten wird, steht in den Sternen geschrieben. Allein das eiserne Herzstück mit seinen Verbindungswegen zum Atlantik bedarf des Einsatzes von fünf Milliarden Dollar.

Angenehm kühl ist es hier oben auf der Serra dos Carajas, 400 Meter hoch, eine Erholung nach dem heißfeuchten Gebrodel in der Niederung von Maraba: günstige klimatische Bedingungen, die allerdings auch der Sandmücke bekommen. Das stechende Insekt fiel über die erste Menschenansammlung, die Kolonne der Straßenbauarbeiter, her und übertrug von Waldtieren die Krankheit Leishmaniose. Die Parasiten zerfressen die Haut und führen zu entsetzlichen Entstellungen, wenn sie medikamentös nicht unter Kontrolle gehalten werden. Jetzt kommt die Krankheit hier nicht mehr vor.

Man schläft, das stechende Biest ist ohnehin nur nachts zu erwarten, hinter Fliegendraht. Unmengen sind in die Siedlung verbaut. Eine Elite von Technikern, die samt Familien und Kindermädchen in den schmucken Holzhäusern mit den verdrahteten Loggien lebt, zieht die Anlage hoch.

Stolz präsentiert der Koordinator Alceu Mendes, Typ des erfolgbewußten Managers, Anfang Dreißig, von einer Aussichtsplattform die gigantische Baustelle an einem rostroten Abhang, auf dem dereinst das Erz durch ein maschinelles System der Zertrümmerung zu Tal rauschen wird. Die Menschen, die da unten wimmeln, stammen aus einer proletarischen Heerschar, die durch Amazonien vagabundiert. Sie sind verfügbar für jede Schwerarbeit und mit einem Monatslohn im Wert von knapp 700 Mark zufriedengestellt, bis sie die Plackerei satthaben und weiterziehen. »Diese Leute«, sagt Mendes hoch oben über dem Erdbewegungsgeschehen, »haben keine Bindung an ein Projekt so wie wir.«

Wie sollten sie auch, in Baracken kaserniert, zu sechst in einem Raum, keine Frau weit und breit für sie zu haben, und wer sich besäuft, der fliegt. Mit dem Schweiß von 5000 Untermenschen wird gebaut, gebaut auf einem Grund, durch den einstmals einige Indianer schweiften: Sie erscheinen ab und an in der neuen Welt der Zivilisation, um ihre archaischen Waffen, ihr Kultgerät, ihren Federschmuck loszuschlagen und im Supermarkt einzukaufen, zum Beispiel die zur Saga von Carajas gewordenen zwei Gläser Nescafe, die so ein Mann aus dem Wald teuer bezahlte und noch auf der Straße ausschüttete, weil er bloß die Gefäße brauchte.

Indianische Insignien schmücken den Eßraum des Proletariats aus Muskeln und Analphabetentum, das nicht mehr gebraucht wird, wenn das Werk einst vollbracht ist. Facharbeiter werden statt ihrer kommen.

Schon stehen die monumentalen Schaufelfahrzeuge bereit, die eisernen Berge abzutragen, neben ihren Rädern wirkt der hochgewachsene Koordinator wie ein Zwerg. Und er schwärmt von den computergesteuerten Zügen, die kommen werden, ein jeder mit 160 Waggons, und jeder Waggon wird, nicht wie im alten Europa üblich, nur 50 Tonnen

tragen, sondern mit 98 Tonnen Erz beladen auf den Breitspurgleisen die Serra hinab die 890 Kilometer zum Atlantik gezogen werden, direkt zu den Kais des neuen Tiefseehafens in Sao Luis.

»Mit der Geschwindigkeit von zwei Kilometern am Tag kommen die Gleisbauer durch den Urwald auf uns zu und auf die Zukunft der ganzen Region": Mendes entwirft diese Zukunft programmgemäß als eine gigantische Rodung, voller Landwirtschaft, vor allem Viehzucht, doch auch mechanisierte Agrokultur, dazwischen unter dem Rubrum »Wiederaufforstung« künstliche Wälder der Holzwirtschaft, das alles gekrönt von industriellen Schwerpunkten, Metallverarbeitung verschiedenster Art, nicht zu vergessen die Aluminiumschmelzen, schließlich stehen so manche Bäume auf riesigen Bauxitvorkommen.

Das Großprojekt Ostamazonien: Ein Gebiet von 400 000 Quadratkilometern, so groß wie die Bundesrepublik, Österreich und die Schweiz zusammengenommen, steht zur Disposition. Energie genug ist vorhanden: Haine der Babacu-Palme, die sich verkoksen läßt und so brennt, daß mit ihr selbst Stahl zu erkochen ist, und all die Kraft der Flüsse, die sich an verschiedensten Stellen stauen lassen. »Wissen Sie, unser Land braucht keine Atomkraft«, sagt Mendes, »unsere Reaktoren sind nur Camouflage für militärische Zwecke.«

Am Tocantins in Tucurui entsteht das erste Wasserkraftwerk Ostamazoniens, das nach der letzten Ausbaustufe 8000 Megawatt Strom liefern soll, mehr als dreimal soviel wie Biblis, das größte Atomkraftwerk der Bundesrepublik. Schiere Größe, das ist Brasilien, aber Brasilien ist auch der ökonomische und ökologische Skandal von Tucurui.

Der Stausee wird 216 000 Hektar Wald überschwemmen, und ein Schatz von Edelhölzern im Wert von 1,2 Milliarden Dollar wird versinken. Subunternehmer mit Subunternehmern, die betraut waren, die kostbaren Stämme zu bergen, scheiterten an der schwierigen Aufgabe. Die dafür bestimmten Gelder sind in dunklen Kanälen verschwunden.

Das Schließen der Schleusen steht Anfang nächsten Jahres bevor, und die Wissenschaftler streiten, was weniger schädlich

für die Umwelt sei: den Wald zu entlauben mit einem in Brasilien verbotenen Gift aus der Reihe der Chemikalien, wie sie im Vietnam-Krieg eingesetzt wurden und in geringer Menge das für die Katastrophe von Seveso verantwortliche Dioxin enthalten, oder die kolossalen Massen organischen Materials im Wasser verfaulen zu lassen, was sich als noch gefährlicher erweisen könnte durch aufsteigende Gase von Schwefelwasserstoff, Methan und Ammoniak, einem in hoher Konzentration tödlichen Gemisch für Mensch und Tier.

Daß im See auch noch ein beträchtliches Stück Transamazonica wegen unkoordinierter Planung bei der Trassenführung verschwinden wird, kränkt den Koordinator Mendes ganz besonders, obwohl er und seine Doce damit nichts zu tun haben.

Traurig steht er, nachdem das Stichwort Tucurui fiel, vor der großen Karte, auf der er mir eben noch die Herrlichkeit Ostamazoniens beschwor: »Brasilien hat alle Möglichkeiten, nur zu viele Leute sind zu blöd.«

Wenn die industrielle Konquista in Ostamazonien dennoch vorankommt, Leute wie Mendes, dieser sendungsbewußte Technokrat, diese Personifizierung von Planung und Disziplin, tragen dazu bei. Ein seltsamer Schwarmgeist in der grandiosen Natur, in die er mich schließlich führt wie feiertags auch seine Kinder, die er lehrt, sich im Urwald nicht zu fürchten, sondern das Wunder zu bestaunen.

Damit dies Wunder an den Abhängen der Serra dos Carajas nicht allzu schweren Schaden nimmt, wenn alsbald die Regenfluten Eisen von den Gruben talwärts schwemmen werden, ist ein kleiner Staudamm gezogen worden. Der See von El Dorado, hier in diesem Wald, der dampfend die Wolken gebiert für den die Werke überdauernden Kreislauf des Wassers, hier wird er sein. Nicht gülden, sondern rostig und giftig. Kein König nirgendwo, sondern eisenbestaubte Arbeiter werden Untertan des Kapitals sein.

Im Bus voller Volk, das an diesem Sonntag der Arbeitsaskese entflieht, fahre ich, vorbei an undurchdringlich grüner Mauer, die Serra hinunter, bis schließlich an einem Schlagbaum das 400 000 Hektar große Reich der Doce endet. Bewaffnete Wachleute. Alle Männer müssen aussteigen, es wird kontrolliert, daß keiner von ihnen Werkzeug mit hinausnimmt.

Sie steigen wieder ein, einige pfeifen, einige singen, die Stimmung steigt, und schließlich langen sie an an ihrem Ziel. Boyte neben Boyte, was in etwa Kaschemme bedeutet, roh aus Brettern zusammengehauen, aber voller kreischendem Leben, Musik und Mädchen. Flirrende Animation, wohin sich einer, der aus dem eisernen Gral kommt, auch wenden mag in dieser entfesselten Sozialität.

Sechs Monate jung erst ist diese Budenstadt. Ein bißchen Gold in der Nähe und Land, das zur Vergabe ansteht. Trecks sind eingetroffen zu geordneter Besiedlung und ungeordneter Besetzung.

Inferninho, Kleine Hölle, wird dieser Ort genannt, aber dereinst wird er unter anständigem Namen in die Kartographie eingehen, und manche von den Alteingesessenen werden erzählen, wie es damals war in Wild Ost Amazoniens, als sie nach Paraopeba kamen.

Im nächsten Heft

Flächenfeuer im Urwald - Statt Raubbau eine ökologisch sinnvolle Nutzung? - Deutschstämmige Siedler an der Transamazonica - Nach der Banditen-Ära ein neuer Staat im Dschungel

[Grafiktext]

KOLUMBIEN Lago Agrio Quito erweitertes Auca-Reservat ECUADOR Cononaco Napo Iquitos PERU Lima PAZIFIK VENE-ZUELA Branco Negro Manaus Amazonas Solimoes purus Madeira TRANSAMAZONICA Porto Velho BOLIVIEN ATLANTIK Entwicklungsgebiet Ost-Amazonien Staudamm Tucurui Belem Sao Luis Maraba geplante Erzbahn ltaituba Cuiu-Cuiu Serra dos Carajas Serra Pelada Carajas Tapajos Jamanxim Humaita Xingu BRASILIEN Tocantins Bodenschätze: Erdöl Gold Mangan 500 Kilometer Kupfer Eisenerz Bauxit

[GrafiktextEnde]

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