Bundeswehr Aufgabe fürs Leben
Kriegsdienstverweigerer gehören zur festen Klientel des Oldenburger Rechtsanwalts Ekkehard Hausin, 43. Weit über hundert junge Männer, schätzt der Jurist, habe seine Kanzlei allein in den letzten Jahren »bei der Anerkennung ihrer Gewissensgründe unterstützt«. Unter den Verweigerern, berichtet Hausin, finden sich »Hilfsarbeiter ebenso wie Doktoranden«. Und neuerdings auch Berufssoldaten.
Die »außergewöhnlichen Fälle« (Hausin) sind drei Angehörige des Fliegerhorstes Oldenburg. Die Männer, zwei Flugwetterberater und ein Unteroffizier des technischen Dienstes, weigern sich, mit dem Jagdbomber-Geschwader 43 in den türkischen Stützpunkt Erhac auszufliegen. 450 Kilometer vor der irakischen Grenze zeigen dort rund 200 deutsche Soldaten als Mitglieder einer Nato-Eingreiftruppe seit Anfang Januar für die Bundesrepublik im Golfkrieg Flagge.
Die Verweigerer sehen die Erhac-Abordnung als Kriegskommando. Mit der Stationierung in der Reichweite irakischer Raketen, sagt ein Soldat, sei ihm »erst wirklich klar geworden«, daß ihnen »tatsächlich ein blutiger Einsatz« drohe. Dadurch, erklärt einer der Verweigerer seinen Entschluß, sei der Krieg »plötzlich realistisch geworden«.
Auch Soldaten in Erhac plagt, wie ein Beitrag von SPIEGEL TV am letzten Sonntag belegte, das Gewissen. Etliche behalten sich, so ein Offizier, »persönliche Schritte« vor. Soll wohl heißen: Sie denken an Verweigerung.
Wie den Fliegerhorst-Angehörigen ergeht es derzeit zahlreichen Bundeswehrsoldaten. Aufgeschreckt durch die zunehmende Gefahr, bei einem Angriff des Irak auf den Nato-Bündnispartner Türkei mit in den Golfkrieg hineingezogen zu werden und selber töten zu müssen, wollen immer mehr Soldaten beim Bund aussteigen. _(* Mit einem Kanzlei-Mitarbeiter. )
Beratungsstellen verzeichnen einen beispiellosen Ansturm von Soldaten und Reservisten. »Wir haben mindestens 30 Besucher täglich«, berichtet Rudi Friedrich, Landesgeschäftsführer Hessen der Deutschen Friedensgesellschaft / Vereinigte Kriegsdienstgegner. In 20 Jahren Betreuung, so Klaus Falk von der hannoverschen Beratungsstelle der Friedensgesellschaft, habe er einen solchen Andrang noch nicht erlebt: »Täglich bekommen wir 30, 40 oder gar 50 Anrufe.« Zu einer improvisierten Verweigerer-Veranstaltung des Aachener Bildungswerkes für Friedensarbeit kamen mehr Besucher als zum letzten großen Fest des Vereins: an die 300 Reservisten.
Kaum eine Stadt, in der nicht Friedensinitiativen zum Austieg ermuntern. In Oldenburg kampieren seit Beginn des Erhac-Einsatzes Kriegsgegner vor der Kaserne und versuchen Soldaten in Gesprächen am Lagerfeuer zu bekehren. In Hamburg ruft ein »Aktionsbüro« mit Hinweisen in Szene-Blättern zur »kollektiven Verweigerung« auf.
Im baden-württembergischen Balingen macht gar ein ehemaliger Staatssekretär des Bonner Verteidigungsministeriums gegen den Kriegseinsatz am Golf mobil. Für angehende Verweigerer seines Wahlkreises hat der SPD-Bundestagsabgeordnete Andreas von Bülow einen »Musterbrief« an das Kreiswehrersatzamt entworfen. In dem Schreiben lehnen Wehrpflichtige ihren Einsatz ab, weil sich die Türkei »an Angriffen gegen einen Staat außerhalb des Bündnisgebiets beteiligt hat«.
Es sind sehr viele Soldaten, die derzeit bundesweit erwägen, die Waffen aus Gewissensgründen niederzulegen. Immerhin gaben bereits im November letzten Jahres, als sich der Golfkonflikt zuspitzte, über 300, doppelt so viele wie im Vergleichsmonat des Vorjahres, ihren Wehrpaß wieder ab. Tendenz: stark steigend.
Jede Verlegung weiterer Bundeswehreinheiten nach Anatolien bringt den Ausstiegshelfern neue Arbeit. Nach der Ankündigung der Bundesregierung, 530 Soldaten einer Flugabwehreinheit in die Türkei zu schicken, standen letzte Woche etwa in der Bremer Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer »die Telefone nicht mehr still«, so der Vorsitzende Pastor Ulrich Finckh. Nachts gehen mehr Anfragen ein, als der Anrufbeantworter speichern kann.
Szene-Kenner wie der Bremer Finckh schätzen, daß »bestimmt einige tausend Soldaten« ihren Absprung aus der Bundeswehr planen - und darunter sind nicht nur schlichte Gefreite. Finckh: »Bei uns melden sich sogar Zeit- und Berufssoldaten im Offiziersrang.«
Der Bündnisfall droht einer Armee, deren Soldaten beim Einrücken bislang mehr an Karriere als an Krieg gedacht haben. »Die Arbeit bei der Luftwaffe«, betont ein Oldenburger Verweigerer, sei für ihn »ein Job wie andere auch« gewesen - nur halt in Uniform.
Das Image vom interessanten, aber ungefährlichen Arbeitsplatz Bundeswehr förderte die Führung gezielt. In Selbstdarstellungen der Truppe wurde die Gefahr des Ernstfalls weitgehend unterschlagen. Wie von Strategen der Bonner Hardthöhe empfohlen, stellten die Werbefeldzüge vor allem »Erlebniswerte wie Natur, Teamgeist, Kameradschaft, Bewährung, Sport, Reisen, Technik« heraus. Bundeswehr-Motto: »Eine Aufgabe fürs Leben.«
Wehr-Experten wie der Psychologe und Soziologe Paul Klein vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr in München kritisieren, daß vom Verteidigungsministerium jahrzehntelang »der Krieg völlig verdrängt worden« sei. Die Gefahr, daß Bundeswehrsoldaten tatsächlich in einer Schlacht sterben könnten und töten müßten, so bemängelt auch Wolfgang R. Vogt von der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, sei stets »ein tabuisiertes Thema« gewesen; nun, so der Konfliktforscher, befalle etliche Soldaten »das große Entsetzen«.
Offiziere wie der stellvertretende Kommodore des Oldenburger Erhac-Geschwaders, Oberstleutnant Peter Pyzcak, betonen zwar, daß in ihren Kasernen noch »keine Psychologen aktiviert« werden müßten. Doch sensible Beobachter wie der Fliegerhorst-Pfarrer Manfred Lichtenberger sehen in den Coffee-Shops des Standortes immer häufiger »ängstliche Gesichter« von Soldaten, »die unreflektiert in den Arbeitsvertrag reingegangen sind«. Lichtenberger: »Der Schock ist da.«
Fachleute wie der Hamburger Vogt wähnen auf die Bundeswehr eine »Phase der Verunsicherung« zukommen. Der Trend zur Verweigerung, befürchtet der Münchner Klein, könnte auf die Truppe »destabilisierend« wirken.
Um die Unruhe unter den Dienenden möglichst gering zu halten, wird mit Verweigerern zumeist großzügig verfahren. Anders als in der US-Berufsarmee, in der nach Zeugenaussagen Verweigerer aus deutschen Standorten in Handschellen an den Golf verfrachtet worden sein sollen, stellt die Bundeswehr die Unwilligen sofort vom Waffendienst frei.
Fälle wie der des Hamburger Wehrpflichtigen Knud Werner, 23, sind die Ausnahme. Der Verweigerer war von seinen Chefs mit dem Versorgungsschiff »Coburg« Richtung Krisengebiet abkommandiert worden. Erst nach einem Protesttelegramm der Pinneberger SPD-Abgeordneten Lilo Blunck an Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg wurde Werner aus seinen Gewissensnöten erlöst. In Lissabon durfte der Matrose von Bord.
* Mit einem Kanzlei-Mitarbeiter.