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»AUFGEBEN KÖNNEN WIR NICHT MEHR«

aus DER SPIEGEL 47/1970

Nachts demolieren Bautrupps in den teuersten Gegenden des Frankfurter Westends die Treppen völlig Intakter Häuser und mauern die Fenster und Türen geräumter Wohnungen zu. Es gibt Hausbesitzer, die bestellen sich so etwas aus Angst vor friedlichen Sturmtrupps linksradikaler Wohnungssucher, die man Im Frankfurter Westend bekanntlich nicht mehr los wird.

Der Boden unter diesen Häusern ist ohnehin selbst für Luxusmieten häufig schon zu kostbar geworden, nur noch Neubautürme, möglichst hoch und möglichst für Konzernverwaltungen, versprechen die angemessene Riesenrendite.

Nachts streift, um ein Vielfaches verstärkt, die Polizei der sozialdemokratischen Stadt durch dieses mittlerweile teuerste und verworrenste Viertel Deutschlands. Zu Füßen zwanzigstöckiger Baustellen, in Seitenstraßen voller schöner, schäbiger alter Häuser, die von ihren Aufkäufern bis zum Abbruch wie Karnickelställe mit Gastarbeitern aufgefüllt werden, fahndet sie rastlos nach Lastgefährten, in denen sich Menschen und Möbel für illegale Hausbesetzungen verbergen könnten.

Diese Stadt, deren Oberbürgermeister Walter Moeller, deren Juso-Sprecher vor acht Wochen die erste sozialistische Hausbesetzung im Westend noch als ein sympathisches Signal des Volkszorns gegen eine von der Stadtplanung leider selbst einst in Gang gesetzte Bodenspekulation verstanden, fürchtet nach zwei weiteren Hausbesetzungen nichts so sehr wie weitere Hausbesetzungen. Einen revolutionären Winter im Westend, wie ihn Frankfurts Hausbesitzer-Verband vorsorglich voraussagt, soll es möglichst nicht geben.

Letzten Donnerstag freilich besetzte eine Gruppe linker Lehrlinge, Schüler und Studenten erstmals ein abbruchreifes Wohnhaus in Frankfurt-Niederrad, weitab vom Westend, ohne polizeiliche Behinderung. Und der Hausherr zeigte sie nicht an.

In den drei besetzten Häusern des Westends stellen nachts die Besetzer noch immer Wachen auf und verrammeln die Tore. Sie haben die Heizungen in Gang gesetzt, Koks eingefahren, Leitungen geflickt -- widerrechtlich. Sie haben das Schnitzwerk verrotteter Türen, Fensterrahmen und Wände üppig bemalt. Sie haben sich zu Mieterkollektiven verschworen und angefangen, den Hausherren Miete anzubieten, Aber Angst vor einer Räumung bei Nacht und Nebel verfolgt sie noch immer, obwohl der Oberbürgermeister gesagt hat, eine solche werde es nicht geben.

Die betroffenen Hausherren, alle drei Juden, ansonsten ohne nennenswerte Gemeinsamkeiten und gewiß kein Kollektiv von Geschädigten, erleichterten es dem Oberbürgermeister Walter Moeller bisher, sich unpopulärer Amtshandlungen gegen die populären Besetzer zu enthalten. Was sie so bremst, ist der Hausbesitzer-Verband mit seiner Angst vor einer fortzeugenden Ideologie der Selbsthilfe gegen die heiligen Privilegien des Eigentums. Was sie bremst, sind auch Rücksichten auf eine rote Stadtverwaltung, die immer noch über fürstlichen Ermessensspielraum bei der Bewilligung künftiger Bauten und Stockwerkszahlen verfügt. Was sie, gegen den Rat von Rechtsanwälten, mäßigt, Ist ihre kaufmännische Ader, ihre in riskanten Geschäften erprobte Bereitschaft, wieder und wieder mit den Leuten zu reden.

Sie und Klaus Rupp, der gehbehinderte Sprecher des Frankfurter Haus- und Grundbesitzervereins, sind über Küchenleitern in ihre okkupierten Häuser gestiegen. Umringt von Kinderreichen, Gastarbeitern und radikalen Linken, sprachen sie beschwörend von Besitzer zu Besetzer. Einer von ihnen, der reiche Bauherr Georg Faktor, 44, einst Mitglied der sozialistischen Falken, hat den Eroberern seines Hauses an der Liebigstraße 20 auf seiner Brust die Spuren des KZ gezeigt.

Marx, Hegel und Gandhi hat er ihnen zitiert und immerhin soviel Eindruck auf sie gemacht, daß sie ihm für seine vierköpfige Familie unter seinem eigenen Dach eine Dreizimmerwohnung boten -- vorausgesetzt, er schieße

* Corneliusstraße 24.

wie sie, die Lehrlinge, Sozialarbeiter, Gastarbeiter oder Schüler, einen Zehent seines Nettoeinkommens als Miet-Zins in die Kasse des Kollektivs. Er verzichtete.

Er sympathisiere sogar, sagt er, mit den nun endlich aufmuckenden Opfern einer katastrophalen, von der SPD mitverschuldeten Wohnungsnot. Nur -- das fanden sie auch selber -- waren sie bei ihm nicht an die richtige Adresse geraten. »Ich fühle mich«, sagt der Kaufmann Faktor, »nicht betroffen, aber geschädigt.«

Immer wieder beobachtete er das verrammelte alte Haus, das ihn 650 000 Mark gekostet hat; an dessen Platz er einen Appartementblock mit einer zweistöckigen Herberge für sich selber stellen möchte. Staunte, daß die Besetzer auch ganz nette Autos fahren, daß die übers Leiterchen in sein Eigentum steigenden Gastarbeiterfrauen mit ihren Hosenanzügen alles andere als elend wirkten. Eigentumsstürmer, erkannte er, sehen heutzutage aus wie Eigentümer.

Einmal eingelassen, versuchte er, ihnen beiläufig Namen zu entlocken. Doch alle wußten, daß er sie ohne Namen juristisch nicht packen kann, und nannten ihm Vornamen. Unerschütterlich beredsam breitete er seine Arme aus und rief: »Und ich bin Georg! Sie können mich duzen!«

Faktors ungepflegte Erwerbung an der Liebigstraße war das dritte Objekt einer revolutionären Nest-Eroberung, für die es einen gemeinsamen Plan nicht gibt. Zwar ereigneten sich im vergangenen Sommer in vielen der leerstehenden Altbauten des Westends nächtliche Zusammenkünfte junger Rebellen, in denen Maß für einen Handstreich genommen wurde. Doch die radikale Energie verlor sich überwiegend auf der langen, zermürbenden Strecke der Vorbereitung: bei der mühseligen Überredung wahrhaft apolitischer Kinderreicher in ihren Notquartieren; beim Radebrechen mit spanischen, Italienischen, türkischen Gastarbeitern, den für klassenkämpferische Mobilmachung prädestinierten Parias des Systems.

Für die dritte Hausbesetzung karrten die jungen Organisatoren in der Tat italienische Familien weit aus der Umgebung Frankfurts herbei. Ihre Genossen von der zweiten Hausbesetzung (Corneliusstraße 24) hatten dagegen aus dem Reservoir einheimischer Kinderreicher geschöpft, die in städtischen Notquartieren vegetieren.

Oberbürgermeister Moeller hatte nach der ersten Besetzung (Eppsteiner Straße 47) mit dem Gedanken gespielt, das betroffene Haus einfach zu einem der Stadt, seine Besetzer zu rechtmäßigen Mietern, aus einmal keinmal zu machen. Nach der dritten sah er sich abgedrängt ins Vorfeld der Legalität, aus dem seine Stadtjuristen ihn nun am dünnen Faden von Rechtsgutachten herauslotsen.

Um die Straftat schweren Hausfriedensbruchs, sagen die, handle es sich nur im stürmischen ersten Stadium einer Besetzung. Ist man nur mal im Haus, entsteht sogleich ein Wohnverhältnis. Und der Rechtsstaat kann dann nur noch auf Antrag des Geschädigten was tun.

Sollte einer der von Besetzern heimgesuchten Besitzer eine einstweilige Verfügung erwirken, um sein Eigentum zu befreien, so würde Frankfurts oberster Polizeichef seine Polizei heraushalten. Lediglich der Gerichtsvollzieher, glaubt er, wäre dann an der Reihe.

Der könne nur räumen, wenn es anderswo Räume anzubieten gebe. Sollte er aus den Besetzern etwa Obdachlose machen? »Obdachlosigkeit ist ein Verstoß gegen Sicherheit und Ordnung«, sagt Moeller, »und darf nicht geduldet werden.«

Wie jeder weiß, verfügt Frankfurt nach zwei Jahren ohne nennenswerten Wohnungsbau, nach den verheerenden Folgen der Erhebung zum Weißen Kreis, nach der Explosion der Baupreise nicht über geeigneten Wohnraum. Braucht Moeller also vorerst auch der Frage nicht näherzutreten, ob die Besetzer, die zum großen Teil bereits aus unzumutbaren städtischen Unterkünften kamen, überhaupt noch Irgendwelche Unterkünfte für zumutbar erachten. Schließlich bewohnen sie nun für zehn Prozent ihres Nettoeinkommens -- ein Richtsatz, der zum Kredo radikaler Hausbesitzer gehört -- großbürgerlichen Altbau und erleben dazu noch die Segnungen des sozialistischen Hauskollektivs.

So richten Besetzer, Besitzer und die Hüter von Besitz und Ordnung sich darauf ein, etwas außerhalb der Legalität zu überwintern. Gerechterweise, empfiehlt der Hausbesitzer-Verein, sollen Wohnungen bis zum Abbruch alter Wohnhäuser lieber doch nicht leerstehen. Ihre Vermietung ließe sich zentral und sozial organisieren -- voraussetzt, die Stadt garantiere als Mitgesellschafter für Einhaltung der Kündigungsfristen. Walter Moeller gefällt das wohl. Nur den Büttel will er nicht spielen.

Alteingesessene Westend-Bewohner, die sich den brutalen Strukturveränderungen In ihrem einst so vornehmen Viertel seit Jahren entgegenstemmen, erleben verblüfft und dankbar, wie erfrischend der radikale Griff nach dem Besitz das Echo ihres eigenen, ganz anders gemeinten Protestes ergänzt. In der »Aktionsgemeinschaft Westend«, einer gepflegten Widerstandsbewegung, der es gelang, Frankfurts Stadtplaner zumindest vorläufig auf eine radikale Drosselung der Verwaltungsbauten einzuschwören, lassen gemäßigte Genossen sogar den Eindruck aufkommen, Hausbesetzungen als eine Art Schocktherapie mit angeregt zu haben.

Keiner fragt recht danach, was die Revolutionäre des Wohnungsmarktes In der Frankfurter Liebigstraße 20.

außer dem schockierenden Hinweis auf anerkannte Mißstände eigentlich auf lange Sicht im Sinn haben könnten. Daß sie ohne die Mißstände schwerlich einen Platz für ihr wahres Experiment, die sozialistische Hausgemeinschaft zwischen Intellektuellen und Arbeitern, gefunden hätten, wird den Okkupanten selber erst in dem Maße bewußt, in dem sie sich in den teuren Bruchbuden spottbillig einnisten. Nun wollen sie nicht mehr demonstrieren, sondern einfach bleiben.

Funktionäre des Eigentums wie der Exekutive fühlen sich schuldbewußt genug, auch in dem, was sie nicht begreifen, eine an sich durchaus gerechtfertigte Demonstration zu erblicken. Stadtplaner wie Spekulanten, Bauherren wie Banken sind sich betreten darin einig, im Frankfurter Westend gewaltige kapitalistische Auftriebskräfte etwa so gewissenhaft entbunden zu haben, als zünde man versehentlich mit dem Streichholz eine Saturn-Rakete.

Stadtplaner ohne eigentlichen Plan, blindlings fasziniert von dem kapitalistischen Ideal, die steuerkräftigen, vieltausendköpfigen Verwaltungsspitzen von Banken, Versicherungen, Konzernen in diesem Viertel zu bündeln, gaben den Start frei für eine im Nachkriegs-Städtebau beispiellose Grundstücksspekulation. Der Bodenpreis schoß von 600 Mark auf 6000 Mark pro Quadratmeter; ganze Straßenzüge wurden verslumt, von den angestammten Bewohnern schweren Herzens verlassen, umgewandelt zu Schluchten zwischen Bürogebirgen.

Sieben Dutzend Okkupanten, angeleitet übrigens auch von städtischen Sozialarbeitern, haben genügt, dem System eine Gänsehaut zu bereiten. Nun wenden sie sich dem Nestbau zu. Dabei erkennen Studenten und Arbeiter Tür an Tür, wie fremd sie einander jenseits der Frage nach Obdach geblieben sind. Nicht nur italienisch, spanisch, türkisch gilt es hier zu studieren, vielmehr die Sprache der Proletarier schlechthin.

An der Fassade des Hauses Eppsteiner Straße 47 verkündet wasserfest und meterhoch ein Anschlag noch für die Umwelt die Vorteile des Mieterkollektivs. In der Liebigstraße dagegen richtet sich die große Schriftrolle bereits nach innen: »Die Arbeiter haben eigene Ansprüche ... Lebensformen ... Denk- und Kampfweisen ... eigene, bestimmte Überlieferungen ...«

Zur Einfühlung entschlossen, murren die akademischen Wortführer nicht, wenn die Arbeiterväter die Arbeiterkinder dreschen. Den dedanken, daß die im Haus entstehenden Kinderläden repressionsfrei sein sollten, streichen die jungen Gegner jeglicher Unterdrückung bis auf weiteres aus ihrem Bewußtsein.

Angesichts der glücklich durch sie mobilisierten Arbeiter schlucken sie alle linke Lehrhaftigkeit hinunter, respektieren sie jede noch so bürgerliche Sehnsucht dieser unbekannten Wesen. Insgeheim trifft es sie natürlich, wenn eine soeben mit sieben Kindern und einem gegen jede Art von Enteignung schnaubenden Mann aus dem Elendsviertel befreite Mutter schwärmt: »Jetzt bestell' ich mir endlich ein komplettes Schlafzimmer!« Ihr Mann tut Dienst als Nachtwächter.

In elefantiösen neuen Klubgarnituren versinkend, umstellt von fabrikfrischen deutschen Wohnzimmer-Büfetts, konsumieren die Arbeiter in den riesigen Großbürgerzimmern ihr Flaschenbier und das Ohnsorg-Fernsehen. »So Demonstratione von dene Buwe«, sagt ein Speditionspacker, »die hawe mir net gefalle. Des hier gefallt mir.«

Entschlossener als die revolutionären Buben lehnen etwa die Gastarbeiter aus der Liebigstraße 26 in den

* In der Eppsteiner Straße 47.

pflichtmäßigen Sitzungen des Hauskollektivs den Gedanken an Ersatzwohnraum ab. So billig, so geräumig, das sehen sie richtig, kann es nirgends mehr für sie werden. Damit imponieren sie den Jungen; dafür also ginge ein Proletarier jetzt auf die Barrikaden!

In allen drei Häusern führen Studenten, Praktikanten bis zur Ermattung das Wort und die Feder. Offerieren dem Hausherrn mit dem gleichzeitigen Wunsch »auf weitere gute Zusammenarbeit« die sozialistische Mietberechnung. Trommeln von den Kindern der Kinderreichen bis zur 89ährigen Ureinwohnerin alle zur Kollektivberatung. Sichten die Möbelspenden der Umwelt. Verhandeln mit der städtischen Müllabfuhr, die sie nicht im Stich läßt, wenn der Hausherr die Mülltonne abzieht. Berichten gegen festes Honorar für die Frankfurter Volkshochschule, die in ihrer Arbeit mit Recht soziale Forschung erblickt.

In der Eppsteiner Straße haben zwei unterm Dach einquartierte sozialistische Jungfilmer es fertiggebracht, sogar einen neuen Telephonanschluß von der Post zu bekommen. Mit der chemischen Wanzenvertilgung sind sie noch nicht durch. Die Krätze haben sie hinter sich.

Revolution im Haus macht grau Im Gesicht und müde. Nächstens, prophezeien die Filmer unterm Dach, würden Buchhaltung und Kasse jeden Monat an einen anderen weitergereicht, und nicht nur an einen der zehn Studierten im Hause. Vorerst trifft es immer wieder sie, und sie wissen auch, daß sie, die Leute mit dem aufgeklärten Kopf und dem leichten Gepäck, die dieses Experiment im Gegensatz zu den Arbeitern jederzeit abbrechen könnten, dieses Experiment in Wahrheit tragen.« Manche haben aufgegeben«, ragen sie, »wir können gar nicht mehr aufgeben.«

Sie sind die einzigen, die bisher wirklich jene zehn Prozent Miete vom Nettolohn (insgesamt für 10 Wohnungen 1121 Mark) kassiert und an den Hausherrn überwiesen haben. Als erste trieben sie (entsprechend der jeweiligen Miete) Umlagen für Kohlen, Heizer, Kindergärtnerin, für Licht und Wasser und Müllabfuhr ein.

Wieso auch Kinderlose dem Kinderladen des Kollektivs monatlich 20 Mark schulden, ging den Arbeitern und ihren Frauen erst nach drei kollektiven Beratungen ein. Daß ein italienischer Familienvater für zwei Zimmer soviel zu zahlen hat wie nebenan sein gleich hoch verdienender Italienischer Nachbar für drei, empfinden alle wie einen Stachel. Gäbe der Hausbesitzer den Büroraum frei, über den er in der nämlichen Etage noch verfügt -- ein gerechter Ausgleich ließe sich schaffen. Darum schrieben ihm die Jungfilmer: Er möge dem Kollektiv eine entsprechende Büromiete zahlen oder dieses Zimmer räumen.

»Schließlich«, sagen die Revolutionäre und lächeln ausgebrannt, »geht das nicht, daß einer keine Miete bezahlt.«

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