Zur Ausgabe
Artikel 45 / 104

SPIEGEL-GESPRÄCH »Aufmerksamkeit ist alles«

Chris Anderson, 48, Bestseller-Autor und Chefredakteur des amerikanischen Kultmagazins »Wired«, über die Herausforderungen der Presse durchs Internet, neue Geschäftsmodelle im Web und die Frage, weshalb er selbst lieber Twitter als Tagespresse liest
aus DER SPIEGEL 30/2009

SPIEGEL: Mr. Anderson, lassen Sie uns über die Zukunft des Journalismus sprechen!

Anderson: Das wird jetzt ein nerviges Interview - denn das Wort Journalismus benutze ich nicht.

SPIEGEL: Na toll! Wie wär's mit Zeitungen? Die stecken in der Krise, weltweit, vor allem in Amerika. Das Nachrichtengeschäft, die gesamte Medienbranche ...

Anderson: ... sorry. Auch die Begriffe Nachrichten und Medien sagen mir nichts. All diese Wörter haben doch längst ihre Bedeutung verloren. Sie definierten das Verlagsgeschäft im 20. Jahrhundert. Heute sind sie nur eine Bürde. Sie stehen uns im Weg wie eine Kutsche ohne Pferd.

SPIEGEL: Diese Begriffe funktionieren doch noch ganz gut. Haben Sie denn bessere?

Anderson: Nein. Wir befinden uns in einer dieser merkwürdigen Übergangsphasen, in denen Wörter aus dem vergangenen Jahrhundert keine Rolle mehr spielen. Was bedeuten Nachrichten denn noch, wenn die Mehrheit davon von Amateuren, von Hobbyschreibern produziert wird? Mir fallen dazu keine Definitionen mehr ein. Deshalb benutzen wir solche Begriffe bei »Wired« auch nicht mehr.

SPIEGEL: Moment mal, sogenannte citizen journalists - Bürgerjournalisten - und Blogger haben das Meinungsspektrum erweitert - vor allem bei Ihnen in den USA, wo das auch mit einer sehr polarisierten Öffentlichkeit zu tun hat. Aber ohne professionelle Nachrichten hätten die wenig zu tun. Die meisten Amateure verwerten und kommentieren eher, was die Qualitätsmedien berichten. Haben Sie heute Morgen übrigens eine Zeitung gelesen?

Anderson: Nein.

SPIEGEL: Ihre Lokalzeitung, der »San Francisco Chronicle«, kämpft ums Überleben. Wenn er morgen verschwände ...

Anderson: ... würde ich es nicht bemerken. Ich wüsste ja nicht mal, was ich dann verpasste.

SPIEGEL: Woher beziehen Sie dann Ihre Informationen?

Anderson: Sie kommen von selbst zu mir, auf allen möglichen Wegen: über E-Mails, Twitter, RSS-Feeds, Gespräche. Jedenfalls halte ich nicht gezielt danach Ausschau.

SPIEGEL: Es ist Ihnen einfach total egal.

Anderson: Nein. Wissen Sie, ich suche mir meine Quellen sehr gezielt aus und vertraue ihnen.

SPIEGEL: Nach wie vor vertrauen Abermillionen klassischen Medien.

Anderson: Wenn etwas Wichtiges in der Welt passiert, höre ich schon davon. Von den Protesten in Iran wusste ich, bevor es auf den Web-Seiten der Zeitungen stand, weil meine Kontakte auf Twitter sich mit solchen Dingen beschäftigen.

SPIEGEL: Was CNN, die Nachrichtenagentur Reuters oder die »New York Times« online aktuell berichten, interessiert Sie also gar nicht mehr.

Anderson: Doch, ich lese viele Artikel aus den Massenmedien, nur auf deren WebSeiten gehe ich nicht. Ihre Storys landen irgendwie auf meinem Bildschirm. Und genau das ist heute ziemlich weit verbreitet. Mehr und mehr Leute benutzen für ihren Nachrichtenkonsum soziale statt professionelle Filter. Wir drosseln einfach den Informationsstrom aus Fernsehen und Zeitungen. Dummes, überflüssiges Zeug erreicht mich gar nicht erst.

SPIEGEL: Als dumm und überflüssig könnte man auch den endlosen Wörterstrom auf Twitter bezeichnen. Grundsätzlich auf 140 Zeichen begrenzte Twitter-Meldungen vermitteln vielleicht ein hektisches, ungefiltertes und ungeprüftes Stimmungsbild. Das Gezwitscher ist aber kein Ersatz für so schnell, umfassend und gründlich wie möglich recherchierte Berichte, Reportagen und Analysen der Qualitätsmedien. Und Sie produzieren dieses »Zeug« doch selbst, arbeiten für ein Magazin, führen Interviews und schaffen Nachrichten, Inhalt, Information - oder wie auch immer Sie das nennen wollen.

Anderson: Stimmt. Das Problem ist ja auch nicht, dass die traditionelle Art, in der Journalisten Artikel für Magazine verfassen, nicht mehr zählt. Das Problem ist: Sie sind jetzt in der Minderheit. Früher besaßen sie ein Monopol. Da bestimmten Journalisten, welche Nachrichten die Menschen erreichen.

SPIEGEL: Weil Verlage und Medienhäuser die Druckerpressen, Radio- und Fernsehfrequenzen kontrollierten?

Anderson: Genau. Und jetzt kann das jeder machen, weil er den Zugang zu kommerziellen Vertriebskanälen nicht braucht. Was wir Journalisten machen, ist immer noch nützlich. Die Arbeit der anderen ist aber genauso nützlich. Unsere Arbeitsweise ist einfach nicht mehr die wichtigste und sicher nicht die einzige Art, Informationen zu verbreiten. Deshalb sind wir ja in dieser merkwürdigen Übergangsphase. Es wird uns ein, zwei Jahrzehnte kosten herauszufinden, wie es mit uns weitergeht.

SPIEGEL: Bei aller Begeisterung für neue Formate und das Mitmach-Internet, die Nachfrage nach Qualitätsjournalismus ist eher größer als kleiner geworden. Die Medien haben online ein riesiges, neues Publikum gewonnen. Und dafür, dass die Presse angeblich längst tot ist, sind ihre Auflagen überraschend stabil. Das Problem ist der Einbruch im Anzeigengeschäft.

Anderson: Zeitungen als Printprodukt sind unwichtig geworden. Der grundsätzliche Vorgang des Verarbeitens, Analysierens und Vertreibens von Informationen funktioniert aber noch.

SPIEGEL: Aber wo gibt es dafür das passende Geschäftsmodell im Internet?

Anderson: Danach suchen wir noch.

SPIEGEL: Glückwunsch - eine Zukunft, die sich nicht mal selbst trägt.

Anderson: Hier in diesem Büro wurde 1995 die Bannerwerbung erfunden. Das war die erste Antwort auf Ihre Frage. Es gibt aber noch kein allgemeingültiges Geschäftsmodell wie früher. Jeder muss seinen eigenen Weg finden. Wir verdienen zwar alle Geld, aber nicht genug - und sicher nicht so viel wie bislang mit Druckwaren. Facebook, Twitter, alle suchen doch noch nach dem richtigen Geschäftsmodell. Wir kommen da schon noch hin.

SPIEGEL: Wie machen Sie's hier bei »Wired«?

Anderson: Schauen Sie, dort drüben, auf der anderen Seite des Großraumbüros, sitzt wired.com, unser Internet-Ableger. Die haben 120 Millionen Pageviews pro Monat. Wir holen so ungefähr unsere Kosten wieder rein. Aber das ist eine völlig willkürliche Betrachtungsweise. Wir haben bezahlte Journalisten und kostenlose Blogs, es gibt von Nutzern produzierte Inhalte und umfangreiche, monatelang recherchierte Magazingeschichten. Einige Bereiche der Seite sind redigiert, andere nicht. Wir haben Einnahmen in Millionenhöhe, und es liegt allein an uns, ob wir profitabel sein wollen oder nicht.

SPIEGEL: Andere können oder wollen es sich aber nicht so einfach machen. Sie haben mit Druckerzeugnissen ihr Geld verdient und damit ihren Web-Auftritt begründet und finanziert. Jetzt gehen bei vielen, wie der »New York Times«, die Printeinnahmen zurück, während sie online noch nicht genug verdienen - ein Problem.

Anderson: Gewinnformeln sind ziemlich einfach: Einnahmen minus Ausgaben. Wenn du zu wenig verdienst, musst du eben deine Kosten senken. Das Problem ist nicht fehlendes Geld im Online-Markt: Das Problem sind unsere zu hohen Kosten.

SPIEGEL: Warum lässt sich an der Einnahmenseite nichts drehen? Wieso geben Werbekunden im Netz viel weniger aus als für Print? An fehlender Attraktivität des Publikums kann es ja nicht liegen.

Anderson: Es geht um Effizienz. Online-User schauen nicht so sehr auf Bannerwerbung. In Zeitungen und Zeitschriften sieht Reklame einfach besser aus. Deshalb zahlen Werbekunden bei wired.com nur 22 Dollar pro tausend dort erreichte Kunden. Im Magazin zahlen sie dagegen für die gleiche Leserzahl 100 Dollar. Das richtige Werbemodell hat wohl noch keiner entdeckt ...

SPIEGEL: ... abgesehen von Google. Die verdienen Milliardensummen mit ihren Textanzeigen neben Suchergebnissen.

Anderson: Das Google-Modell ist phantastisch. Mit Textanzeigen lassen sich aber nur bestimmte Dinge erreichen. Sie sind gut bei Transaktionen, wenn es darum geht, direktes Handeln zu ermöglichen. Aber sie sind sehr schlecht zur Image- und Markenpflege. Da helfen sie kaum, Bedürfnisse und Wünsche zu wecken, die noch Wochen später Folgen haben. Wir haben eben noch kein Online-Gegenstück zur attraktiven Hochglanzanzeige. Im Vergleich befinden wir uns gerade erst ein paar Jahrzehnte nach Gutenbergs Erfindung der Druckerpresse - wir wissen einfach noch nicht, was wir damit anfangen sollen. Aber das kommt schon noch.

SPIEGEL: Würden Sie sagen, wenn das Publikum online geht, werden die Einnahmen schließlich folgen?

Anderson: Ja. Aufmerksamkeit ist alles. Das ist der wertvollste Rohstoff. Wer sich Aufmerksamkeit und einen guten Ruf erarbeitet, wird das auch kommerzialisieren können. Trotzdem ist Geld in diesem System nicht mehr der wichtigste Faktor.

SPIEGEL: Warum?

Anderson: Aufmerksamkeit und Reputation bilden zwei nichtmonetäre Wirtschaftssysteme. Die meisten Menschen schreiben online umsonst, denen geht es nicht um Geld, sondern um Anerkennung und Spaß. Bei »Wired« haben wir ja sogar versucht, unsere Blogger zu bezahlen - die empfanden schon den Vorschlag als Beleidigung. Ein Beispiel: Vor zwei Jahren habe ich zum Spaß GeekDad gegründet, einen Blog für Leute, die gleichzeitig Tech-Fans und Vater sind. Es ist ein Gemeinschaftsprojekt über Computerspiele und allerlei Technikzeug, die sowohl den Kids wie den Dads Spaß

machen. Alle schreiben da umsonst mit. Aber wir haben ein größeres Publikum als manche Zeitung. Von solchen Web-Seiten gibt es unendlich viele.

SPIEGEL: Kann aufwendig produzierter Journalismus dagegen konkurrieren?

Anderson: In der Vergangenheit gab es in den Medien Vollzeitjobs, vielleicht wird es in der Zukunft ein Nebenjob oder ein Hobby. Es gibt kein Gesetz, das besagt, Branchen müssten in ihrer jeweiligen Größe bestehen bleiben. Es gab Schmiede, Stahlarbeiter ... die Dinge ändern sich nun mal. Die Frage ist doch nicht, ob Journalisten einen Job haben sollen. Die Frage ist, ob die Menschen die Informationen, die sie haben wollen, auf dem Weg bekommen, den sie bevorzugen. Und das wird der Markt herausfinden. Wenn wir im Internet zusätzliche Werte schaffen, können wir damit auch Geld verdienen. Aber nicht alles, was wir machen, muss profitabel sein.

SPIEGEL: In Ihrem gerade in den USA erschienenen Buch »Free« vertreten Sie die These, man solle Produkte verschenken ...

Anderson: ... und auf anderem Weg für Einnahmen sorgen.

SPIEGEL: Was bedeutet das fürs Internet?

Anderson: Die Online-Wirtschaft ist etwa so groß wie die deutsche Volkswirtschaft. Aber sie beruht auf dem Basispreis null. Fast alles ist umsonst erhältlich. So was haben wir noch nie in einem großen Wirtschaftssystem gesehen. Deshalb brauchen wir ein neues Modell, das erklärt, wie die Umsonst-Wirtschaft funktioniert. Wir müssen ihre Psychologie besser verstehen. Wenn etwas umsonst ist, wollen wir es haben, aber wir fühlen uns auch ein bisschen betrogen. Produkten, die vorher etwas kosteten und jetzt kostenfrei sind, unterstellen wir eine niedrigere Qualität. Mit solchen Gefühlen müssen wir uns beschäftigen.

SPIEGEL: Viele Firmen hätten es lieber, wenn Ihre »Umsonst«-Wirtschaft so schnell wie möglich aus dem Netz verschwände.

Anderson: Wie sollte das passieren? »Umsonst« ist wie das Gesetz der Schwerkraft. Wenn wir uns dem widersetzen, wird ein anderer mit kostenloser Ware gegen uns antreten. Der Markt folgt den zugrundeliegenden wirtschaftlichen Gegebenheiten. Sie können Ihr Produkt umsonst anbieten - oder mit kostenlosen Konkurrenzangeboten konkurrieren. Das ist die einzige Wahl, die es gibt. Die Leute vom »Wall Street Journal« machen das übrigens schon ganz geschickt.

SPIEGEL: Inwiefern?

Anderson: Mit freiem Inhalt ziehen sie die Massen an. Und dann bitten sie Teile des Publikums zur Kasse. Motto: Die großen Storys gibt es umsonst, und Exklusivmeldungen sind grundsätzlich kostenfrei - sonst berichten allein die andern über deine Story und ziehen das Publikum zu sich. Aber für Nischenthemen, die nur Experten interessieren, wird bezahlt.

SPIEGEL: Mit solchen Modellen können Sie teure Berichterstattung aus Iran oder dem Irak nicht finanzieren.

Anderson: Stimmt. Den Massenmedien bleiben eigentlich nur die großen Themen, mit denen Nischenanbieter nichts anfangen können. Politik, Kriege, Katastrophen, Skandale. Dafür kann man im Netz kein Geld verlangen, und die Werbekunden mögen es auch nicht. In der Offline-Welt hatten Werbekunden keine andere Wahl. Jetzt stellt sich aber heraus, dass sie ihre Coca-Cola-Werbung lieber nicht neben Berichte aus dem Iran stellen wollen.

SPIEGEL: Unterm Strich gibt es also noch keine überzeugende Lösung - auch nicht von Provokateuren wie Ihnen.

Anderson: Das Geschäftsmodell des 21. Jahrhunderts wird anders aussehen als das des 20. Jahrhunderts. Vielleicht ist unser Business nicht mehr das Verkaufen von Anzeigen. Vielleicht geht es um das Bilden von Online-Communitys. Möglicherweise verdienen wir mit dem Veranstalten von Events unser Geld - ähnlich wie Teile der Musikindustrie mit Konzerten. Firmen mit alten Geschäftsmodellen könnten verschwinden, neue tauchen auf. Ganz ähnlich wieder wie in der Musik, wo vielleicht die alten Plattenlabels untergehen, während Apple mit seinen iPods und iPhones Erfolge feiert.

SPIEGEL: Warum gibt es eigentlich ausgerechnet Ihr neues Buch nicht umsonst?

Anderson: Sie müssen nur für die Hardcover-Variante bezahlen. Weil die Herstellung der digitalen Dateien im Grunde nichts kostet, können Sie den Text umsonst im Internet lesen und das Hörbuch kostenlos herunterladen. Wenn Sie allerdings die konzentrierte, nur drei Stunden lange Hörbuchfassung haben wollen, müssen Sie zahlen.

SPIEGEL: Weil Zeit Geld ist?

Anderson: Genau.

SPIEGEL: Mr. Anderson, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

* Mit Redakteur Frank Hornig in Andersons Büro in San Francisco.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 45 / 104
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten