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Artikel 27 / 97

»Aufschrei des Zorns und der Empörung«

Gerhard Mauz zu den Urteilen gegen Elmar Schärmer in München und Bernhard Müller in Oldenburg
Von Gerhard Mauz
aus DER SPIEGEL 25/1981

Vier Menschen sind getötet worden. Schon bevor sie getötet wurden, war die Gefährlichkeit der beiden Männer, denen sie zum Opfer fielen, bekannt. Die Gefährlichkeit dieser Männer war aktenkundig. Sie befanden sich im Zugriff beziehungsweise in den Händen der Strafjustiz.

Doch der eine der beiden Männer kam gar nicht erst in Haft. Und der andere, der bereits einmal getötet hatte, kam auf freien Fuß. Und so wurden vier Menschen getötet.

Elmar Schärmer, heute 41, vergewaltigte im Februar 1978 in Innsbruck eine junge Frau in beispielloser Weise. Jetzt wurde er in München wegen Mordes an zwei Frauen zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt.

Diese beiden Morde hat Elmar Schärmer im Juli 1979 begehen können. Im Juni 1979 war in Innsbruck die Verhandlung wegen der Vergewaltigung vor dem Urteil unterbrochen worden.

Bernhard Müller, heute 25, griff im Dezember 1972 in Norden in Niedersachsen eine Vierzehnjährige sexuell an. Im Januar 1973 attackierte er ein acht Jahre altes Mädchen und kam in Untersuchungshaft. Im März des Jahres 1973 wurde er wegen versuchter sexueller Nötigung und versuchter Notzucht zu einem Jahr Jugendstrafe verurteilt.

Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Vier Monate später, im Juli 1973, tötete Bernhard Müller eine Siebenjährige, als sich diese gegen den Versuch, sie zu mißbrauchen, wehrte und schrie.

Im Januar 1975 ist Bernhard Müller vom Landgericht Aurich wegen dieser Tat, wegen Mordes in Tateinheit mit versuchtem sexuellen Mißbrauch eines Kindes im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit, zu einer Jugendstrafe von sieben Jahren verurteilt worden.

Das Gericht bejahte die Gefährlichkeit des Angeklagten. Es ordnete seine anschließende Unterbringung in einem Landeskrankenhaus an. Doch am 30. August 1979 wurde Bernhard Müller aus der Justizvollzugsanstalt Vechta entlassen. Führungsaufsicht wurde ihm für zwei Jahre auferlegt. In Oldenburg fand er Wohnung und Arbeit.

Sieben Wochen nach seiner Entlassung aus Vechta, am 16. Oktober 1979, tötete Bernhard Müller in einem Wald bei Oldenburg, dem »Blankenburger Holz«, Dagmar Pupka, 17, und den gerade drei Jahre alten Ulf Prasse.

In einem besonnenen Kommentar in der Oldenburger »Nordwest-Zeitung«, der Täter war gestellt, geständig und mit Entsetzen als ein Mensch entdeckt worden, der bereits einmal getötet hatte, artikulierte Bodo Schulte damals den »Aufschrei des Zorns und der Empörung«, der vor allem in der betroffenen Landschaft, aber auch weit über sie hinaus zu hören war.

Dieser Aufschrei, so schrieb er, sei »offensichtlich auch an die Adresse jener gerichtet, die ihm (Bernhard Müller) in guter Absicht die Wege zur Resozialisierung ebnen wollten«.

Das Wort »Resozialisierung« ist längst ein unseliges, nur in die Irre führendes Wort. Man sollte es streichen, auf es verzichten.

Die Täter, denen vor allem sich das Wort zuwendet -- sie werden straffällig, weil ihre Sozialisation mißlang oder weil sie nie die Chance hatten, sich zu sozialisieren. Man kann einen Menschen nicht in die Gesellschaft zurückführen, der den Eingang in diese Gesellschaft S.96 verfehlt, der keinen Zugang zu sich selbst gefunden hat.

Das Wort Resozialisierung verführt gerade denen gegenüber, für die es gemeint ist, zu einem völlig falschen Ansatz. Es ist auch irreführend im Spiel, wenn es Menschen gilt, die zu schwer gestört und damit auf weiteste Sicht zu gefährlich sind, als daß man sich nicht vor ihnen fürchten und sie vor sich und die Gesellschaft vor ihnen schützen müßte.

Die Vergewaltigung, die Elmar Schärmer in der Nacht zum 2. Februar 1978 in Innsbruck begeht, ist eine in ihren Details nicht wiederzugebende Gewalttat. Er lockt eine Serviererin in sein Auto, zwingt sie mit einer Schußwaffe zu Manipulationen und nötigt sie anschließend in seine Wohnung.

Was sich in der abspielte, mußte das Opfer in der Hauptverhandlung in München bestätigen. Daß die Polizei in Innsbruck, als sie Elmar Schärmer einen Tag nach Erstattung der Anzeige hörte, zunächst an dem zweifelte, was das Opfer vorgebracht hatte, ist nicht einmal unverständlich.

Elmar Schärmer wird begutachtet. Im Juni 1979 befindet Professor Heinz Prokop als Sachverständiger, der Angeklagte sei »ein Lehrbuchfall von Sadomasochismus«. Eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit sieht der Sachverständige nicht für gegeben an.

Professor Prokop schildert in seinem Gutachten einen Triebtäter gefährlichsten Grades. Das Opfer hat nicht übertrieben, es hat nichts erfunden. Aber das Opfer hat auch ausgesagt, es habe aus Angst um sein Leben mitgemacht, weil die Schußwaffe immer dabei war. Hat das Gericht in Innsbruck diese Lebensbedrohung nicht ernst genug genommen?

Vermutungen, wir waren nicht dabei. Der Vorsitzende Richter Raimund Krämer, 46, der in München die Hauptverhandlung leitete, die mit der Verurteilung Elmar Schärmers als Mörder endete, hat in der mündlichen Urteilsbegründung gesagt: »Wenn er dort (in Innsbruck), was notwendig gewesen wäre, in Haft geblieben wäre, hätte er die hier zur Verhandlung stehenden Taten nicht begehen können.«

Im Juni 1979 wurde in Innsbruck die Verhandlung gegen Elmar Schärmer unterbrochen, als die Verteidigung eine weitere Begutachtung ihres Mandanten wegen einer möglichen Schilddrüsenerkrankung forderte. Und das Strafgericht in Innsbruck traf keine Anordnung, die verhindert hätte, daß sich der Angeklagte in die Bundesrepublik absetzte. Dort beging er im folgenden Monat, im Juli 1979, zwei Morde.

Die Gefährlichkeit Elmar Schärmers ist in Innsbruck unterschätzt worden -weil es »nur« um eine, wenn auch besonders abscheuliche, Vergewaltigung ging? Die Hauptverhandlung in München S.97 hat bestätigt, daß Elmar Schärmer ein Triebtäter ist. Was in der Sitzung zur Sprache kam, tropfte und strömte in ekelhafter Darstellung und Bebilderung aus zu vielen Gazetten.

Man hätte in Innsbruck alarmiert sein müssen. Daß man nichts unternahm, was Elmar Schärmer auf dem Weg zu zwei Morden anhielt, wird allerdings noch einen besonderen Grund gehabt haben (darüberhinaus, daß man sich vielleicht »nur« mit einer Vergewaltigung konfrontiert sah und deswegen vor einem dramatischen Eingriff in das Leben des Angeklagten zurückschreckte).

Wir kennen Professor Prokop nicht, wir unterstellen nicht, daß sich in Innsbruck ein spezielles Mißtrauen gegen sein Gutachten richtete. Aber es ist so weit gekommen, daß jeder Psychiater und Psychologe von den Strafgerichten mit größter Zurückhaltung betrachtet wird -- mit einer Skepsis, die auch die unstreitig qualifizierten Sachverständigen trifft. In Österreich ist das nicht anders als in der Bundesrepublik.

Psychiatrie und Psychologie mögen einwenden, daß die Strafgesetze und Strafprozeßordnungen die Sachverständigen aus ihren Reihen zu beliebig verwendbaren Vehikeln machen. Nur -warum bieten Psychiatrie und Psychologie, soweit sie mit Strafverfahren zu tun haben, ein Bild, das die Juristen nicht nur dazu verführt, auf rüde Weise Gebrauch zu machen, sondern nachgerade dazu zwingt?

Konservative und fortschrittliche Lager stehen sich unerbittlich gegenüber. Schulstreitigkeiten werden ausgetragen wie das Marburger Religionsgespräch. Wenn die Juristen erfahren möchten, wo, wenn auch auf der untersten Ebene, denn immerhin doch eine Linie verläuft, die man quer durch die Schulen als eine Linie der Übereinstimmung ansehen darf, stoßen sie ins Getümmel. Und selbstverständlich wird auch zwischen den Fächern gekämpft, was Sache der Psychiatrie und keinesfalls der Psychologie ist und umgekehrt.

Für jedes Ergebnis läßt sich ein Sachverständiger finden. Man kann sich als Gericht, Staatsanwalt oder Verteidiger die Schuldunfähigkeit genauso bestätigen lassen wie die Fähigkeit, das Unrecht einer Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.

Der Fall des Bernhard Müller ist geeignet, die letzte Runde im Untergang einer sinnvollen Rolle von Psychiatrie und Psychologie in unserem Strafprozeß einzuläuten.

Als Bernhard Müller 1973 zum erstenmal begutachtet wurde, hieß es, ein sexueller Triebverbrecher sei der 17jährige nicht. In bezug auf die Sexualität bestehe bei ihm infantile Unsicherheit und Hilflosigkeit. Man könne davon ausgehen, daß er sich in Zukunft straffrei führen werde. Im Urteil, das wie erwähnt auf ein Jahr Jugendstrafe S.98 mit Bewährung lautete, wurde dem Verurteilten aufgegeben, sich psychotherapeutisch behandeln zu lassen.

Dafür fand sich schließlich ein geeigneter Arzt. Doch der wohnte 50 Kilometer entfernt, und so blieb es bei einem Besuch bei ihm. Im Juli 1973, vier Monate nach seiner ersten Verurteilung, tötete Bernhard Müller zum erstenmal. Nun kam er in die Jugendpsychiatrie eines niedersächsischen Landeskrankenhauses und wurde sechs Wochen lang stationär beobachtet und begutachtet. Schwere neurotische Totalverdrängung alles Körperlichen erkannte man, eine sexuelle Spätreifung, eine gefährliche Verfassung, die eine individuell abgestimmte Therapie erforderlich mache, die »in diesem Fall durchaus Aussicht auf Erfolg bietet«.

Das auf sieben Jahre Jugendstrafe lautende Urteil, das danach im Januar 1975 ergeht, muß dem Umstand Rechnung tragen, daß nur zwei psychiatrische Krankenhäuser im Bundesgebiet vorhanden sind, die geeignet wären, den Angeklagten aufzunehmen und zu behandeln -- und die sind überfüllt. Deshalb wird entschieden, daß Bernhard Müller zunächst seine Strafe verbüßen muß und daß er anschließend in einem Landeskrankenhaus unterzubringen ist.

So kommt Bernhard Müller in den Strafvollzug nach Vechta. Und daß es keine andere Möglichkeit gibt als diese, ist das einzige, was Psychiatrie und Psychologie entlasten könnte. Doch diese Entlastung ist dürftig, denn die Gutachten, die der Verurteilung zugrunde lagen, waren unmißverständlich hinsichtlich der Gefährlichkeit.

Aber das gerät offenbar in Vergessenheit. Und so kommt es 1978 und 1979 zu einem Endkampf zwischen dem Psychologen der Strafvollzugsanstalt Vechta und einem Psychiater an einem Landeskrankenhaus. Beide sind in der Hauptverhandlung in Oldenburg gehört worden.

Der Psychologe Gruber, 33, ist sichtbar ein Mann, der es den Häftlingen, die mit ihm zu tun haben, schon durch sein Aussehen und die Art seiner Kleidung erleichtern will, Kontakt zu ihm zu finden. Die Rolle des Psychologen in einer Strafvollzugsanstalt ist in aller Regel eine ohnmächtige Rolle. Man ist überfordert, überlastet. Man fragt sich, was das Strafen, das bloße Verwahren, das keine wirkliche Behandlung zuläßt, soll. Der Psychologe Gruber arbeitet von 1978 an auf eine Chance in der Freiheit für Bernhard Müller hin. Das scheitert zunächst an dem Psychiater Dr. Klußmann, 59. Der will zwar keine ungünstige Prognose abgeben, aber er rechnet doch für die Zukunft noch immer mit Delikten, »die aggressiver Prägung sind«. Im Juli 1979, Bernhard Müller wird zum zweiten Mal von Dr. Klußmann begutachtet, gibt der Psychiater nach. Er hält es für möglich, daß Bernhard Müller ihm einiges verschweigt. Und er nimmt auch an, daß die Tat verdrängt worden ist. Doch er hält die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nunmehr nicht mehr für zwingend erforderlich.

Gegen den Psychologen Gruber richtet sich ein Ermittlungsverfahren, wie in Oldenburg bekannt wird. Er macht daraufhin, beschwörend belehrt, endlich von der Möglichkeit Gebrauch, die Aussage zu verweigern. Aber er hat bis dahin schon viel, zu viel gesagt. Er berichtete von einer psychotherapeutischen Behandlung Bernhard Müllers. 1978 und 1979. Nun hat er davon gesprochen, die Sexualität sei in einer »verschlossenen Kiste« geblieben, die er nicht habe öffnen wollen und können. Der Psychiater Dr. Klußmann macht sich Vorwürfe, die Aggressivität Bernhard Müllers nicht massiver provoziert zu haben. Vielleicht hat er einfach nicht als der Mann dastehen wollen, der sich einer Resozialisierung widersetzte, als ein Psychiater erzkonservativer Haltung.

Bernhard Müller war nicht zu resozialisieren, sondern ärztlich zu behandeln. Der Psychiater und Sexualwissenschaftler Professor Eberhard Schorsch und der forensische Psychologe Dr. Herbert Maisch, beide Hamburg, zeigen in Oldenburg die beschädigte, unvollständige Entwicklung von Bernhard Müller eindringlich auf. Sie begründen die »abgespaltene Dynamik von Trieb und Destruktivität« überzeugend. Sie machen verständlich, wie es zu eruptiven Ausbrüchen dieser sonst abgespaltenen, als »ichfremd empfundenen Destruktivität im Zusammenhang mit triebhaft sexueller Erregung« kommen konnte und mußte.

»Es handelt sich um eine schwerste Persönlichkeitsstörung«, befinden die Sachverständigen. Diese Störung sei, wenn überhaupt, nur in einem intensiven und langjährigen psychotherapeutischen Prozeß aufzuarbeiten. Nur vermindert schuldfähig sei Bernhard Müller. Auf die Frage, ob der Angeklagte besser im Strafvollzug oder in einem Landeskrankenhaus aufgehoben sei, befürwortet Professor Schorsch das Landeskrankenhaus. Die negativen Auswirkungen auf den Angeklagten würden in einer Strafanstalt größer sein.

Staatsanwalt Bernd Wohlfahrth, 43, beantragt 15 Jahre Freiheitsstrafe und Einweisung in ein Landeskrankenhaus. Er findet Worte der Trauer nicht nur für die Opfer und ihre Angehörigen, sondern auch für den »armen, irregeleiteten Angeklagten«. Verteidiger Joachim Tönges schließt sich dem an. Er unterstreicht die Ausführungen des Staatsanwalts auch durch rechtliche Erwägungen.

Doch das Gericht erkennt auf die lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes in zwei Fällen und Vergewaltigung in einem Fall. Der Angeklagte habe seit seiner ersten Tat gewußt, wozu er fähig ist. Zwar sei er als schwer gestörte Persönlichkeit anzusehen, doch er habe zur Verdeckung seiner Straftat, der Vergewaltigung, getötet. Er habe seine Tat zielbewußt vorbereitet. Er habe sich seinen letzten beiden Opfern überlegt genähert.

Daß das Gericht den beiden Sachverständigen zweifelnd gegenüberstand, war bereits zu erkennen gewesen, als Professor Schorsch gefragt wurde, ob es für ihn auch gesunde Straftäter gebe, ob es auch sexuelle Tötungshandlungen ohne Krankheit, ob es in seinen Augen also auch gesunde Straftäter gebe. Doch Psychiatrie und Psychologie haben es sich selbst zuzuschreiben, wenn Strafgerichte auch die Befunde ihrer hochqualifizierten Vertreter nicht mehr akzeptieren. Dem Gericht in Oldenburg ging es nur noch darum, vor Bernhard Müller zu schützen, ihn so gründlich und endgültig wie nur möglich zu verwahren.

In der vergangenen Woche wurde Bernhard Müller in den Strafvollzug überstellt, in dem sein schwer gestörter Zustand nicht gemildert werden kann. In München hat die Verteidigung Elmar Schärmers angekündigt, daß sie die Revision gegen die Verurteilung ihres Mandanten vor allem damit begründen werde, daß Professor Schorsch nicht als Sexualwissenschaftler gehört worden ist.

Doch was Professor Schorsch auch vorgetragen hätte, wäre er gehört worden, oder was er vortragen würde, käme es zu einer neuen Verhandlung -er würde wohl nichts gegen das ausrichten, was den Sachverständigen heute entgegenschlägt, wann immer ihre Gutachten in das psychiatrische Krankenhaus und nicht in die Strafvollzugsanstalt führen ...

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