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SOZIALDEMOKRATEN Aufstand der Anständigen

Die »Netzwerker« in der SPD galten als Vertreter einer kraftlosen Generation der 30- bis 45-Jährigen. Inzwischen hat sich Sigmar Gabriel aus Hannover der braven Truppe angenommen und bereitet sie auf das Ende der 68er-Herrschaft vor.
aus DER SPIEGEL 25/2004

Manchmal steckt in Liedern sehr viel Sehnsucht. »Seite 20«, ruft einer, aber eigentlich müssen sie nicht mehr in ihr kleines Gesangbuch, den »Liederwok«, schauen. Sie kennen den Text. Es ist das Lied, das sie so gern singen. Sie stehen dicht beisammen, die Biergläser sind gefüllt, die Luft dampft. »Drei, vier«, ruft der Gitarrenspieler. Dann singen sie, laut und leidenschaftlich.

Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt. Wir sind der Sämann, die Saat und das Feld. Wir sind die Schnitter der kommenden Mahd. Wir sind die Zukunft, und wir sind die Tat.

Unten an der Spree, nicht weit vom Reichstag, hört man den Gesang durch die offenen Fenster. Ein paar Passanten schauen hinauf. Sie fragen sich, ob das, was da aus dem Parlamentsgebäude dringt, ein Spaß ist oder doch irgendwie ernst gemeint. Es ist eine gute Frage. Es ist die entscheidende Frage.

Die Sänger nennen sich Netzwerker. Wenn sie nicht singen, sitzen sie im Bundestag oder in Landesparlamenten, sind Staatssekretäre oder Berater. Es sind Sozialdemokraten zwischen 30 und 45 Jahren. Sie galten als die schwache Generation, ohne eigenen Willen, ohne Visionen, ohne Kraft. Und nun sollen sie bald die Partei und vielleicht das Land führen? Sie werden es wohl müssen. Andere Politiker, die den Alten nachfolgen könnten, sind nicht in Sicht. Sie sind die unvermeidliche Generation. Sie singen immer donnerstags.

Am Tag danach sitzt der lauteste Sänger in seinem Bundestagsbüro. Hubertus Heil, 31, streckt das Kreuz durch, an seinen Handgelenken funkeln goldene Manschettenknöpfe. »Wir haben uns zusammengeschlossen, damit es auch morgen noch eine SPD gibt«, sagt er.

Eigentlich hatten sich die Sozialdemokraten seiner Generation noch auf ein paar ruhige Jahre im Schatten der Macht eingestellt. Aber jetzt, da die Regierung taumelt, könnte alles viel schneller kommen. »Wir bereiten uns vor auf das, was auf uns zukommt«, sagt Heil.

Sie glauben, dass sie dran sind, wenn in der ersten Reihe der Republik ein Platz zu füllen ist. Und vielleicht sind die Aussichten dafür nicht mehr ganz schlecht.

Vor ungefähr einem Jahr hat der Niedersachse Sigmar Gabriel das Netzwerk für sich entdeckt, seitdem hat sich die Kraft der Truppe in etwa verdoppelt. Gabriel ist robust. Er hat Erfahrung mit der Macht. Am kommenden Montag im Parteivorstand will er eine Agenda der Regierungsplanung für die nächsten zwölf Monate fordern. Der »zum Teil verbissene Kampf« um Ziele wie die Erbschaftsteuer oder das Rentenniveau, schreibt er in einem Papier, erinnere »an Ersatzhandlungen für eine sonst fehlende politische Konzeption«.

Zusammen mit Gabriel haben die Netzwerker ein neues Grundsatzprogramm entworfen, mit dem sie den Angriff auf die regierenden 68er und die alte SPD des Franz Müntefering wagen. Dieser Sommer soll ihr Sommer werden. »Wir wollen die neue SPD bauen«, sagt Hubertus Heil. Mächtige Worte in einem kleinen Bundestagsbüro.

In Partei und Fraktion verstehen die meisten Funktionäre bis heute nicht, was diese Jungen eigentlich wollen. Die Netzwerker

haben den Kanzler bei seiner Reformagenda unterstützt. Sie haben ein paar Papiere verfasst, zur Rente und zur Familienpolitik, aber zu einem eigenen Profil hat es nicht gereicht. Sie haben nicht gekämpft, weil sie sich nicht einigen konnten, wofür man kämpfen soll. Sie mussten feststellen, dass es auch unter jungen Menschen Rechte und Linke gibt.

Man nennt sie die Schnösel mit den feinen Anzügen und den teuren Kostümchen. Man sagt, sie seien substanzlos und karrieregeil. In der Fraktion erzählen sich die älteren Herren Witze über sie. Einer geht so: »Warum haben Netzwerker immer Klarsichthüllen dabei?« Antwort: »Damit sie ihre Ernennungsurkunde sauber einpacken können.«

Es ist nur ein Witz. Als vor kurzem ein neuer SPD-Generalsekretär gesucht wurde, hätten sie mit Ute Vogt und Sigmar Gabriel zwei Kandidaten gehabt. Den Posten bekam der Kanzlerkumpel Klaus Uwe Benneter. »Das kann man alles einfach so machen mit uns«, ärgert sich Hans-Peter Bartels, 43, den sie im Netzwerk »unseren Denker« nennen. Bartels ist ein ruhiger Mensch, manchmal zynisch, aber bei diesem Thema regt er sich auf. Dann wackelt sein Kopf, der sonst sanft ruht. »Wir sind für die 68er nur ein Schau-Aquarium, aus dem sich der große Meister einzelne Exemplare rausfischt, wenn der Zeitgeist mal wieder nach Verjüngung ruft.«

Zu spüren ist eine Sehnsucht, dass es mit der 68er Herrschaft bald vorbei sein könnte, 2006 oder früher, wenn Gerhard Schröder abdankt und mit ihm eine ganze Generation. Dann wäre endlich richtig Platz. Manche Netzwerker sagen, wenn es demnächst eine Kabinettsumbildung gäbe, wolle man gar nicht mehr berücksichtigt werden. Es ist Verbitterung, die da spricht, und auch die Lust auf Rache.

Ihre Biografien blieben ohne Glanz, es fehlt das Geheimnisvolle. Sie sind Kinder des Wohlstands, aufgewachsen in unspektakulären Zeiten, ohne Drama, ohne Pathos. Politisch sind sie groß geworden im Schatten der alles erdrückenden Generation der Enkel Willy Brandts.

Die Netzwerkerin Nina Hauer wurde 1968 geboren. Sie wuchs im beschaulichen Karben-Petterweil auf, nördlich von Frankfurt am Main. Es war eine wohlige Kindheit, der Vater verdiente gut als Ingenieur, die Mutter engagierte sich in der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen.

Als Nina Hauer politisch wurde, begann Helmut Kohl seine gemütliche Herrschaft über Deutschland. Hauer vertrat zu dieser Zeit den Turnverein Petterweil im Stadtjugendring. Sie ging in eine Friedensgruppe, weil sie gegen die Stationierung der »Pershing II«-Raketen war, aber für die großen Proteste kam sie zu spät.

Viele Freunde gingen damals zu den Grünen. Die waren nicht so muffig wie die Sozialdemokraten. Die Grünen haben ein riesiges Loch in die SPD gerissen. Ihretwegen ist die Generation Netzwerk heute so mickrig.

Nina Hauer kamen die Grünen irgendwie unvernünftig vor. Die sprachen nur über Umwelt und Kernenergie, nicht über Jugendarbeitslosigkeit, über Armut und Reichtum. 1987, kurz vor dem Abitur, trat sie in die SPD ein. Sie tat es heimlich, damit die Mutter nichts mitbekam. »Ich wollte das nicht als Erfolg mütterlicher Erziehung verstanden wissen«, sagt sie. Wie fast alle ihrer Generation musste sie erfahren, dass nichts mehr übrig war, mit dem man Aufmerksamkeit hätte erregen können. Was blieb, waren Vernunft und Pragmatismus. Mit den Jusos fuhr Nina Hauer nach Nicaragua. Aus selbst gemischtem Beton zogen sie dort Drainagen, damit das Regenwasser die Straßen nicht zerstörte.

Einmal hat sie dann doch etwas Rebellisches gewagt. Als ihre Juso-Gruppe 1994

die SPD drängte, sich gegen die Abschiebung von Kurden einzusetzen, drohte Nina Hauer, ansonsten einen Hund namens Lobo zu vergiften. Doch auch diese Provokation war keine richtige. Das Schiedsgericht ihrer Partei sprach sie rasch frei, »wegen ehrenhaften Einsatzes für die Ziele der Sozialdemokratie«. Lobo lebte weiter. Sie hatte ohnehin keine Sekunde daran gedacht, dem Hund etwas anzutun.

Nina Hauers Altersgruppe fehlt das große historische Ereignis, der gemeinsame Kampf, der den Mythos einer Generation begründet. »Vielleicht ist unsere wichtigste Generationenerfahrung, dass die Welt sich nicht um uns dreht«, sagt die Netzwerkerin Ute Vogt, 39, die es immerhin schon zur stellvertretenden SPD-Bundesvorsitzenden gebracht hat. »Die 68er waren eine beachtete Generation. Uns beachtet niemand.«

Als die Unbeachteten bei den Jusos aufstiegen, lernten sie zu verlieren.

Wie fast alle Netzwerker von heute gehörte Nina Hauer damals zur Gruppe der Undogmatischen. Ihre Gegner waren, nach anfänglicher Sympathie, die marxistisch geschulten Stamokaps. Die Stamokaps waren ihnen bei allen Kongressen überlegen. Sie waren perfekte Organisatoren. Sie konnten den größten Schwachsinn diskutieren und ihn dann geschlossen durchsetzen. Die Undogmatischen hatten mehr Vernunft, aber weniger Disziplin. »Wir waren die Netten und Normalen«, sagt Hans-Peter Bartels. »Wir haben auf die Kraft der Argumente gesetzt und immer verloren«, sagt Hubertus Heil. Ein wenig ist es noch heute so.

Als sie nach dem Wahlsieg der SPD im Herbst 1998 in Bonn eintrafen, waren sie endlich einmal bei den Siegern. Sie waren jung, sie hatten es in den Bundestag geschafft. Der Rhein funkelte, die Luft roch nach Aufbruch, und die Welt gehörte ihnen, einem guten Dutzend Nachwuchssozialdemokraten. Dachten sie.

Hubertus Heil schlief anfangs auf der Couch seines Büroleiters Jürgen Neumeyer. Mit den anderen Neulingen sangen sie bis tief in die Nacht Lieder, tranken und malten sich die Republik zurecht. Am Morgen stand Neumeyer mit einem Kaffee am Sofa und rief: »Steh auf Hubi, du musst regieren.« Alles schien möglich.

Sie mussten schnell merken, dass keiner auf sie gewartet hatte. »Mir war klar, dass wir uns zusammentun mussten, um gehört zu werden«, sagt Hans-Peter Bartels.

In den frühen Abendstunden des 12. November 1998 traf sich die Kerngruppe des heutigen Netzwerks im 11. Stock des Hochhauses Tulpenfeld, Abgeordnetenbüro Heil. Am Ende des Abends hatten sie das neue Projekt besiegelt. In der Ferne leuchtete das Siebengebirge.

Sie gaben Partys und veranstalteten Konzerte. Ihre Lieblingsband Joint Venture spielte Songs mit Titeln wie »Politiker beim Ficken«. Den Refrain sangen sie besonders laut mit: »Immer wenn's mich umhaut und mir schwindet der Humor, stell ich mir Politiker beim Ficken vor.« Es waren Ausflüge ins Unanständige, es war die Sehnsucht nach einem Hauch von Rebellion.

Der Alltag im Parlament aber roch nach Staub. Die traditionellen Zirkel der Fraktion wirkten auf sie wie Gruselkabinette. Sie stolperten in die Rituale alter Herren mit grauen Anzügen, und wenn sie selbst mal ein Thema besprechen wollten, hörten sie: »Das hatten wir erst vor fünf Jahren.«

Sie wussten, dass sie nicht so sein wollten wie die anderen, ohne recht zu wissen, wer sie selber waren. Also machten sie ihren eigenen Zirkel auf, immer donnerstags, luden junge Wissenschaftler ein und fühlten sich als Avantgarde. »Man wurde plötzlich ernst genommen und kam selbst zu Wort«, sagt Ute Vogt.

So pflegen sie es noch heute. Donnerstags abends hocken sie in den Sitzungswochen zusammen und diskutieren, als wollten sie ein Stück Studentenzeit in den Reichstag retten. Sie trinken Bier aus Flaschen, die Handys liegen stumm geschaltet auf den Tischen, sie rauchen und schnippen die Asche in leere Zigarettenpackungen. Und weil die Netzwerker so gern kuscheln, ziehen sie nach den Veranstaltungen weiter in ihre Kneipe, den »Wahlkreis«. Einer von ihnen hat sie vergangenen Herbst im ersten Stock des Restaurants »De Kölsche Römer« gegründet, mitten im Regierungsviertel. Hier stehen sie zusammen auf 40 Quadratmetern, bei Rotwein und Bier, in der Ecke ein Tischfußballspiel. Von Plakaten lächeln Willy Brandt und Gerhard Schröder. Sie kickern, singen und freuen sich, dass sie zu einem politischen Faktor geworden sind, auch wenn unklar ist, was das genau bedeutet.

Mit der Wahl im Herbst 2002 haben sich die Netzwerker im Bundestag mehr als verdoppelt. Sie sind nun 39, stellen zwei Staatssekretäre, einen Staatsminister, eine stellvertretende Fraktionsvorsitzende, eine Parlamentarische Geschäftsführerin, drei Landesvorsitzende, eine Vize-Parteichefin.

Alle sechs Monate lädt Gerhard Schröder die Netzwerker zum Gespräch ins Kanzleramt. Beim vorletzten Mal gab es Würstchen mit Kartoffelsalat. Beim letzten Mal Buletten mit Kartoffelsalat. »Wie beim Kindergeburtstag«, sagt Hubertus Heil. »Aber das passt ja irgendwie zu uns.«

Sie spüren, dass die Älteren sie immer noch für Langeweiler halten. Ihre Themen heißen Staatsverschuldung oder demografischer Wandel. Das klingt weniger wild als freie Liebe und Klassenkampf.

Sie kennen die abfälligen Urteile. Sie sagen, es mache ihnen nichts aus. Aber das stimmt nicht. Abends beim Bier kommen die Klagen: »Der Schröder verachtet uns zutiefst«, sagt einer. »Der hält uns für irrelevant, weil wir nicht alle paar Monate den Aufstand proben.« »Das ist der Dank dafür, dass wir ihn so unterstützt haben«, sagt ein anderer. Sie leiden an ihrer Zahnlosigkeit.

Sigmar Gabriel sitzt im Sommergarten des Niedersächsischen Landtags in Hannover. Er trägt Jeans und Pullover, er blinzelt in die Sonne und lacht viel. Es geht wieder aufwärts mit ihm.

Als Gabriel noch Ministerpräsident war, galt er als künftiger Kanzler. Nach der Wahlniederlage Anfang 2003 wurde er zum Gespött. Die Medien lästerten über den Pop-Beauftragten der SPD, in der Partei freute man sich, dass der Kraftprotz am Boden lag. Er war erst 44 und brauchte einen Neuanfang. Ihm fehlten die Freunde.

Die Netzwerker brauchten einen, der ihnen endlich ein wenig Glanz und Dynamik verlieh. Gabriel ist der einzige Redner seiner Generation, der einen Saal verführen kann. Mit dem Netzwerk im Rücken wagt er die Rebellion gegen die alte SPD. Er sagt, das sei »eine ganz erfrischende Truppe«. Es gehe jetzt darum, sie auf die Macht vorzubereiten.

Ende September 2003 versammelte Gabriel die Netzwerker für eine Woche in einem Tagungszentrum in Bad Münstereifel. Es ging um ein neues Grundsatzprogramm für ihre Partei. Das alte Berliner Programm stammt von 1989. Es beschreibt das Deutschland von heute in etwa so präzise wie das Alte Testament. »Wir sind die Zukunft der Partei, also wollen wir ihr Programm schreiben«, sagt Nina Hauer.

In Münstereifel haben sie wieder viel diskutiert und viel gefeiert. Aber diesmal stand am Ende in Gabriels Laptop ein echtes Ergebnis. Es ist 46 Seiten lang und trägt einen schönen Titel: »Die neue SPD. Menschen stärken - Wege öffnen«.

Sie preisen darin den Wert der Freiheit und wagen einen neuen Gerechtigkeitsbegriff. Sie möchten den Menschen mehr Verantwortung übertragen. Sie sehen sich als die Einzigen in der SPD, die die Vergreisung der Gesellschaft ernst nehmen und für Gerechtigkeit zwischen den Generationen werben. Das alles ist nicht revolutionär, aber modern und zeitgemäß. Für die SPD ist es vielleicht zu viel. Die Linken werfen den Netzwerkern vor, der Partei die Geschichte zu rauben.

Der neue Vorsitzende Franz Müntefering hat ein neues Verfahren für die Programmdiskussion festgelegt. In der Redaktionsgruppe dürfen nur noch wenige Netzwerker mitdenken. Es geht auch nicht mehr um ein völlig neues Programm. Grundlage soll das alte sein. Man hat sie ausgebremst. Das alte Establishment hat sich durchgesetzt. Es ist wieder so wie damals zur Juso-Zeit. Sie haben wieder verloren.

Aber die 46 Seiten sollen nicht in Vergessenheit geraten. »Sie müssen jetzt Gestaltungswillen demonstrieren«, sagt Gabriel. »Sie müssen zeigen, dass sie kämpfen können, kreativ, hart in der Sache, und auch mit Widerständen umgehen können.«

Sie wagen den Angriff. Es wird der erste und vielleicht letzte Kampf der Zahnlosen gegen ihre Vorgänger sein. An der Parteiführung vorbei organisieren die Netzwerker Regionalkonferenzen, auf denen sie ihren Programmentwurf in die SPD tragen wollen. Sie suchen neue Verbündete in den Ländern. Sie wollen wachsen. »Es ist der Kampf um die Macht in der SPD nach 2006, der in der Programmfrage ausgetragen wird«, sagt der Netzwerker Carsten Schneider, 28.

Der Kampf beginnt in Köln. Die neue SPD sitzt in schwarzen Ledersesseln. Die Netzwerker haben zur ersten Regionalkonferenz ins »Literaturhaus« geladen. Sigmar Gabriel steht breitbeinig am Rednerpult. Er redet schnell, pointiert und energisch. Sein Lieblingswort ist »spannend«. Sie wollten die SPD wieder spannender machen, sagt er. Sie wollten ein bisschen provozieren, »das ist spannend«. Dann provoziert er.

»Wir wollen nicht länger ein Programm haben, für das sich kein Schwein interessiert, weil jede Provokation fehlt, jede Ecke, jede Kante.« Er redet über die aktuelle SPD wie über einen Taubenzüchterverein von 1890. Er redet von einem »Hoffnungsüberschuss auf ein besseres Morgen«, den ein neues Programm enthalten müsse. Es klingt leidenschaftlich, verführerisch, es klingt wie ein großes Versprechen.

Die anderen Netzwerker sitzen mit gerecktem Hals in Reihe eins. Sie schauen auf zum gedrungenen Mann am Pult. Sie wirken neben Gabriel wie die Buchstabenumdreher aus der »Glücksrad«-Sendung. Sigmar Gabriel hebt an zum pathetischen Finale. »Welchen Grund hätten wir Jungen, den Kopf in den Sand zu stecken, wo die sozialdemokratische Erzählung noch nicht zu Ende erzählt ist?« Langer Applaus. Einige Genossen erheben sich.

Dann regt sich Widerstand in Reihe zwei. Sie heißt Walla Blümcke und ist schon lange in der Partei. Sie hat rot gefärbte Haare, ihr Gesicht färbt sich auch langsam ein. »Ich bin wirklich stinksauer über euer Gerede«, sagt sie. »Ihr kommt mit dem Gestus daher: Wir Jungen machen jetzt mal alles besser. Wisst ihr was? Meine Tochter hält euch für alte Säcke. Und merkt euch eins: Die Mehrheit, das sind nicht die Jungen. Das sind die Alten.«

Aber das stimmt nicht, nicht an diesem Abend. Die meisten im Saal schütteln den Kopf über Walla Blümcke. Sie wollen an die neue SPD glauben. An diesem Abend sind sie in der Mehrheit. Für die Netzwerker ist das ein ungewöhnliches Gefühl, aber endlich mal ein wunderschönes. MARKUS FELDENKIRCHEN

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UMFRAGE: Vertrauensfrage Wecken die Politiker aus der Generation der heute 40-Jährigen bei Ihnen mehr oder weniger Vertrauen als die zurzeit noch regierende Generation der 68er?

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