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Auf der Suche nach einer besseren Welt Aufstand der Ketzer

Jahrzehntelang, während der Stalin-Ära, blieb die moderne Vererbungslehre in der Sowjet-Union unterdrückt. Nun, noch der Entthronunq des stalinistischen Vererbungs-Dogmatikers Trofim Lyssenko, erlebt die sowjetische Genetik ein rasches Comebock. Wolter Sullivan. 49, Leitender Wissenschaftsredakteur der »New York Times«, zeichnet diese Entwicklung noch und schildert die interessantesten Forschungsvorhoben:
aus DER SPIEGEL 45/1967

Im vergangenen Frühjahr reiste eine Delegation der amerikanischen National Academy of Sciences nach Moskau, um Nikolai W. Timofejew-Ressowski einen internationalen Preis für Genetik zu überreichen

George B. Kistiakowsky, Harvard-Chemiker, Erfinder des Zünders, der die erste Atombombe zur Explosion brachte, ehemaliger Berater Präsident Eisenhowers und ehemaliges Mitglied der weißrussischen Armee, hielt die Laudatio.

Ein Blumenstrauß wurde Timofejew-Ressowski in die Arme gedrückt, und der Präsident der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, Nikolai N. Blochin, war im Begriff, die Feier zu beenden, als sich eine Frau nach vorn drängte.

Sie war von Timofejew-Ressowskis Institut im nahe gelegenen Obninsk gekommen, um die Preisüberreichung mitzuerleben, und jetzt begann sie eine Lobrede auf den alten Gelehrten der Genetik, der die Sowjet-Union in den zwanziger Jahren verlassen hatte, um im Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Berlin zu arbeiten, wo er eine führende Position errang.

Als die Rote Armee Berlin erobert hatte, war er verhaftet und nach Sibirien geschickt worden; später hatte man ihn rehabilitiert.

Nun sahen die Amerikaner über die Gesichter mancher Russen Tränen rinnen. Ein Tablett mit Sektgläsern wurde hereingebracht, und rasch verbarg man die Tränen hinter dem perlenden Wein.

Warum Tränen? Sie galten dem schweren Schicksal Timofejew-Ressowskis, aber auch der nationalen Tragödie der sowjetrussischen Genetik. Zugleich weinte man aus Freude über die Renaissance dieser Wissenschaft in der Sowjet-Union, die für die Erleichterung menschlicher Leiden, für die Krebsbekämpfung, für die Landwirtschaft und für die Zukunft des Menschengeschlechtes so entscheidend ist.

Bei einer vierwöchigen Reise zur Besichtigung sowjetrussischer Laboratorien und in Gesprächen mit führenden amerikanischen Fachleuten zeigte sich, daß nach Jahren der Unterdrückung unter der Herrschaft Stalins und seines Protegés Trofim D. Lyssenko die Genetik und die Molekularbiologie in der Sowjet-Union ein rasches Comeback erleben. Auf manchen Gebieten hat die Forschung bereits mit der amerikanischen, britischen und westeuropäischen gleichgezogen.

Im Westen ist es weitgehend unbekannt, daß die Naturwissenschaften in Rußland auf alte und starke Traditionen zurückblickten, schon ehe der bolschewistische Staatsstreich des Jahres 1917 die Kommunisten an die Macht brachte.

In den zwanziger Jahren glaubten begeisterte Erbbiologen der Sowjet-Union, es sei möglich, mit Hilfe der Genetik die Erbanlagen des Menschen zu verbessern.

Bald nach der Revolution gründete man ein Amt für Eugenik, und auf der Suche nach Material für die Vervollkommnung des Menschengeschlechtes wurden genealogische Untersuchungen der Intelligentsia vorgenommen.

Als Rußland dann von der Hungersnot betroffen wurde, verlagerte sich der Akzent auf die Landwirtschaft.

Die Aufgabe, die Agrarproduktion durch die Entwicklung besserer Getreidesorten und besseren Zuchtviehs zu steigern, wurde einem jungen Mann namens Nikolai I. Wawilow übertragen.

Wawilow, ein Schüler des Engländers William Bateson -- des Mannes, der der Genetik den Namen gegeben hat -- glaubte, der Ertrag der Massenfeldfrüchte wie Weizen, Kartoffeln, Mais und Gerste ließe sich erhöhen, wenn man sie mit Sorten aus ihren Ursprungsgebieten kreuzt. Er bereiste die ganze Welt, und er und seine Kollegen brachten 25 000 lebende Weizen-Proben mit nach Hause.

Trotz dieser Bemühungen waren die Ernte-Erträge der neuen landwirtschaftlichen Kollektive, deren Gründung Stalin befohlen hatte, katastrophal gering. Damit war die Stunde für einen Mann der übertriebenen Versprechungen gekommen.

Trofim Lyssenko, ein Mann mit tiefliegenden, feurigen Augen und von fast religiösem Eifer, war Pflanzenzüchter in der Ukraine gewesen. Er behauptete, er hätte eine bestimmte Methode, das Saatgut des Winterweizens zu behandeln, so daß es im Frühling ausgesät werden könne und eine reiche Ernte erbringe. Mit diesem Verfahren sei es möglich, in den Ebenen Ostsibiriens ertragreiche Weizenfelder anzubauen,

Lyssenko vertrat die These, ein Organismus könne die während seiner Lebenszeit erworbenen Eigenschaften den zukünftigen Generationen vererben. Diese These hatte einen gewissen ideologischen Reiz, da Charles Darwin an sie geglaubt hatte und die Väter des Kommunismus, Marx und Engels, glühende Bewunderer Darwins gewesen waren.

Moderne Genetiker haben bewiesen, daß Darwin hierin irrte. Lyssenko jedoch verspottete die Bemühungen, durch Forschungsarbeiten mit der sich rasch vermehrenden Fruchtfliege nach den grundlegenden Vererbungsprinzipien zu suchen -- Arbeiten, die mehrere Nobelpreise eingebracht haben.

Lyssenko rügte die amerikanische Methode, Mais zu kreuzen, die auf der klassischen Genetik basiert. Er kümmerte sich nicht um die erwiesene Tatsache, daß der Mehltau der Kartoffel eine Virus-Krankheit ist. Lyssenkos Verfahren führten in der Agrar-Produktion zu Katastrophen. Lyssenkos Widerstand gegen die klassische Genetik brachte den Genetiker Wawilow ins Gefängnis; er wurde nach Sibirien geschickt, wo er 1943 starb.

Trotz Lyssenkos Aufstieg zum eigentlichen Zaren der Naturwissenschaften gab es in der sowjetischen Akademie der Wissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg Bestrebungen, ein Institut zu gründen, das die klassische Genetik wiederbeleben sollte.

Es sollte von Nikolai P. Dubinin geleitet werden, dessen Arbeiten auf dem Gebiet der Zellforschung im Ausland Aufmerksamkeit erregt hatten. Der Plan wurde jedoch durchkreuzt, und 1948 organisierte die Akademie der Agrarwissenschaften eine Konferenz, um die einander entgegengesetzten Thesen der Genetiker und der Anhänger Lyssenkos abzuwägen.

Die Genetiker wichen zurück und erklärten sich bereit, einen Kompromiß zu schließen und ihre Gegner zu beschwichtigen, doch ihr Untergang war schon beschlossene Sache. Lyssenko wartete bis zum Schluß der Tagung, dann verkündete er, daß Stalin seinen Theorien offiziell beipflichte.

Einige der Genetiker erhoben sich und widerriefen ihre Thesen, wie Galilei es einst vor der Inquisition getan hatte. Die Akademie der Wissenschaften veröffentlichte einen Brief an Stalin, in dem er gebeten wurde, die Institute aufzulösen, die sich mit klassischer Genetik befaßten, darunter das, in dem Dubinin arbeitete. In dem Brief wurde zugesagt, daß man den Bereich der Biologie von allen Vertretern ketzerischer, Lyssenkos Thesen widersprechender Ansichten säubern werde.

Das war der Tiefpunkt der biologischen Forschung in der Sowjet-Union. Heute hat sich das Bild vollständig gewandelt. Heute stehen Dubinin und seine Kollegen an der Spitze. Lyssenko lebt ziemlich vergessen in der Nähe von Moskau.

Wie kam es zu dieser Wendung um 180 Grad? Was hat den sowjetrussischen Genetikern und Biologen die Freiheit der Forschung zurückgegeben? Einige der Wissenschaftler, die diese Kehrtwendung miterlebt haben, erzählten dem Verfasser dieses Artikels ihre Geschichte.

Dubinin wurde zum Leiter des neuen Instituts für Allgemeine Genetik ernannt. Die Gebäude seines Instituts, die knapp ein Jahr alt sind, liegen in einem Vorort Moskaus.

Auf seinem Konferenztisch stapelten sich die neuesten Nummern der amerikanischen Zeitschrift »Science« und anderer amerikanischer, europäischer und sowjetrussischer Publikationen. Dubinin hakte Artikel über die neuesten Entwicklungen ab. Er übersieht das Fachgebiet, denn er ist jetzt Präsident des »Wissenschaftlichen Rats für genetische Fragen« an der Akademie der Wissenschaften.

Dubinin deutete auf eine neue sowjetrussische Zeitschrift, »Genetika«.

»Das ist unsere erste Zeitschrift für genetische Probleme, sagt er. »Seit 1965 geben wir sie monatlich heraus. In den letzten zwei Jahren sind im »Institut für biologische Probleme# zehn neue Laboratorien eingerichtet worden.

»In der weißrussischen Akademie der Wissenschaften in Minsk wurde vor eineinhalb Jahren ein Institut für Genetik unter Turbin gegründet, der mit Kreuzungen von Mais und Weizen arbeitet. An der ukrainischen Akademie der Wissenschaften in Kiew gibt es eine Abteilung für Genetik mit mehreren neuen Laboratorien, in denen auf den Gebieten der Gen-Mutation und der Strahlungschemie experimentiert wird.

»In der Akademie der medizinischen Wissenschaften wird demnächst ein Institut für die auf den Menschen bezogene Genetik aufgebaut. Und in Obninsk arbeitet Timofejew-Ressowski. Er leitet in dem neuen Institut für Radiobiologie die Abteilung Strahlungsgenetik.«

Dubinins Institut kontrolliert ein ganzes Dutzend von Laboratorien, in denen so komplexe Forschungsgebiete wie Evolutionsgenetik, Weitraumgenetik« Viren-Genetik und Immun-Genetik bearbeitet werden. Andererseits hat die sowjetische Forschung noch immer eine sehr stark pragmatisch ausgerichtete Zielsetzung.

Als ich das Institut für Zellforschung und Genetik bei Nowosibirsk besuchte, erläuterte dessen Direktor Dimitrij K. Beljajew die wirtschaftlichen Vorteile, die aus der Arbeit dort hervorgehen, beinahe so wortreich, als sei er ein amerikanischer Wissenschaftler, der vor dem Kongreß seine Projekte rechtfertigen muß.

Beljajew sagte, es habe sich herausgestellt, daß im Gegensatz zu früheren Überzeugungen durch Strahlung hervorgerufene Mutationen (Erbänderungen) nicht immer in erster Linie schädlich seien. In der Tat scheint es bei manchen Pflanzen eine optimale Strahlungsdosis zu geben, die viele vorteilhafte Mutationen auslöst.

Er nannte als Beispiel Weizen, bei dem die beste Dosierung zwischen 5000 und 10 000 Röntgeneinheiten liegt. Eine solche Behandlung habe Stämme hervorgebracht, die kurze, dicke Halme hätten, wodurch sie windfest seien, und deren Mehl sich trotzdem gut verbacken lasse.

Beljajews Institut verfügt über ein Laboratorium für Polyploidie (Vervielfachung des Chromosomensatzes im Zellkern), ein Gebiet, das für die Anhänger Lyssenkos als ketzerisch galt.

Die Zellen der Zuckerrübe zum Beispiel haben normalerweise neun Chromosomenpaare, also insgesamt 18 Chromosomen (jeder Satz stammt von einem Elternteil). Durch eine Behandlung mit der Chemikalie Colchicin ist es jedoch möglich, Zuckerrübenpflanzen zu züchten, deren Zellen nicht zwei mal neun, sondern vier mal neun, also insgesamt 36 Chromosomen haben. Wenn man diese Pflanzen wiederum mit normalen Zuckerrüben kreuzt, erhält man unter Umständen einen merkwürdigen Stamm mit drei mal neun, also 27 Chromosomen.

Die Entwicklung eines solchen Zuckerrübenstammes hat, wie Beljajew und seine Kollegen berichten, zu aufsehenerregenden Ergebnissen geführt. Die Zuckerproduktion je Hek-

* In einem Hotelzimmer in Stockholm, wo Tamm 1958 den Nobelpreis für Physik erhielt; links: schwedisches Mädchen, als Lucia-Braut geschmückt.

tar, sagen die Sowjets, liege dabei um 15 Prozent höher als bei normalen Zuckerrüben. Seit drei Jahren wird die neue Sorte verwendet; mittlerweile wächst sie auf den Äckern vieler landwirtschaftlicher Betriebe im Süden der UdSSR.

Eng verknüpft mit der neuen genetischen Forschung war der fast explosive Aufstieg der Molekularbiologie. Wie bei der Genetik ging diese Neubelebung auf die Beschwerden der sowjetrussischen Kernphysiker über die beklagenswerte Situation der biologischen Forschung zurück.

Diese Situation wurde oft in jenen wöchentlich stattfindenden Seminaren besprochen, die man »Kapischniks« nannte, weil Pjotr Kapiza in ihrem Mittelpunkt stand. Kapiza war einer der glänzendsten Schüler des britischen Physikers Ernest Rutherford.

Als Kapiza 1934 in seiner russischen Heimat zu Besuch war, wurde ihm mitgeteilt, daß er nicht nach England zurückkehren dürfe. Erst 1966 gestattete man ihm, für kurze Zeit nach England zu reisen; er kehrte pünktlich nach Rußland heim, wo er zu einem Fürsprecher für die Freiheit der wissenschaftlichen Diskussion geworden war.

Diese Freiheit herrschte in den Kapischniks. Zu den Teilnehmern gehörten Wissenschaftler wie Igor 1. Tamm und Lew D. Landau, die beide mit Nobelpreisen für Physik ausgezeichnet worden sind. 1956 hielt Tamm einen Vortrag, der Öl ins Feuer goß.

Als er in der biologischen Abteilung des Kurtschatow-Instituts sprach, berichtete er über aufregende Entwicklungen in Großbritannien und den USA. Es gab Beweise dafür, daß die westlichen Wissenschaftler mit der Analyse der DNS (Desoxyribonucleinsäuren) ihre Forschungen auf den chemischen Vererbungsmechanismus richteten.

Die Perspektiven für die Genetik, die Biologie, die Zukunft der Menschheit waren atemberaubend, denn nun lag die Möglichkeit in der Luft, die Vererbung zu steuern -- nicht durch Lyssenkos Manipulationen mit der Umwelt, sondern durch genial gesteuerte Mutationen. Für Tamm war es völlig klar, daß die sowjetrussische Wissenschaft hoffnungslos ins Hintertreffen zu geraten drohte.

Einer der hochangesehenen Gegner des Lyssenkoismus hatte sich schon unauffällig auf dieses Gebiet begeben: Wladimir A. Engelhardt, der in den dreißiger Jahren Pionierarbeiten im Bereich der Muskelchemie geleistet hatte. Sein Interesse hatte sich inzwischen auf die Zellsäuren (wie DNS) und auf ihre Rolle in der Genetik verlagert.

Um das Jahr 1958 (das ein entscheidender Wendepunkt gewesen zu sein scheint) wurde beschlossen, ein »Institut für Strahlungs- und physikalischchemische Biologie« mit Engelhardt als Direktor zu gründen. Der umständliche Name des Instituts diente als Tarnung für die wirkliche Richtung der Forschungen.

Als ich ihn in seinem Institut besuchte, wirkte Engelhardt trotz seiner 72 Jahre überströmend von Energie. Er berichtete, auf seine Bitte hin sei der Name seiner Forschungsstätte in »Institut für Molekularbiologie« abgeändert worden, ein Name, der die Natur seiner Forschung etwas exakter bezeichnet.

Sein engster Mitarbeiter ist Alexander J. Braunstein, ein Schüler Engelhardts und vielleicht der bekannteste Biochemiker in der Sowjet-Union, der durch viele Preise ausgezeichnet worden ist. Braunstein erzählte von seinen gegenwärtigen Untersuchungen der Chemie des Vitamins

-- ein ungeheuer kompliziertes und wichtiges Problem. Das Vitamin verbindet sich in seinen verschiedenen Formen mit über 60 Enzymen, um Reaktionen im Lebensprozeß zu katalysieren oder anzuregen.

Wie Engelhardt erklärte, wird auch auf diesem Forschungssektor wie in der Genetik neuerdings eine Zeitschrift -- »Molekularnaja Biologija« -- herausgegeben, deren erste Nummer Anfang 1967 erschien. Außerdem ist aus Vertretern mehrerer Abteilungen ein Gremium gebildet worden, das die Forschung auf diesem Gebiet koordiniert. Im Januar jeden Jahres, so wurde in einem Sofortprogramm beschlossen, treffen sich Wissenschaftler in Dubna, dem Atomforschungszentrum an der Wolga, zu einer »Winterschule«.

»Ich möchte bei diesen Kursen Physiker und Biologen zusammenbringen, um ein »Ressortdenken« zu vermeiden«, erläuterte Engelhardt.

Ein neuer Typ von Wissenschaftlern betrete jetzt die Bühne, fügte der Altmeister der Biologie hinzu, Männer, die in vielen Bereichen der Wissenschaft zu Hause sind: in der Chemie, der Physik, der Biologie und der Statistik -- ein Renaissance-Mensch im naturwissenschaftlichen Sinne.

Walter Sullivan
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