KRIMINALITÄT Auge im Glas
Joilson de Jesus starb nach seinem vierten Diebstahl. Zunächst war es nur ein alltäglicher Fall auf dem belebten Domplatz von Sao Paulo: Mit einem Ruck entriß der 15jährige Junge einer Passantin die Goldkette. Die Frau schrie, die Menge brüllte »pega ladrao«, haltet den Dieb, einige Männer nahmen die Verfolgung auf.
Der kleine Joilson flitzte geschickt durch den dichten Menschenstrom. Wenige Straßen weiter aber stieß der Dieb mit einem wohlgekleideten Herren zusammen. Beide stürzten zu Boden. Da kamen die Verfolger heran: »Dieb, Dieb!« Der feine Herr drehte Joilsons Arm um, versetzte ihm ein paar kräftige Fußtritte, sprang dann mit beiden Füßen auf seinem Brustkorb auf und ab. Gelbe Flüssigkeit trat aus dem Mund des Jungen aus.
Nur wenige Passanten protestierten. »Halt den Mund«, fuhr der Herr eine Frau an, »ich bin vom Staat, für dich könnte auch noch etwas übrig sein.« Einem herbeigerufenen Polizisten zeigte er den Ausweis eines Staatsanwaltes.
»Der wird niemanden mehr bestehlen«, meinte der Staatsanwalt zufrieden, als sein Opfer sich nicht mehr regte. Dann marschierte er von der Polizei unbehelligt in eine Cafeteria und bestellte sich ein Sandwich.
Joilson de Jesus starb wenige Minuten später. Um den Lebensunterhalt für seine Mutter und drei Geschwister zu bestreiten, hatte er Heiligenbilder verkauft, die er von der Kirche bekam. Doch wer hat noch Geld für Papierheilige im vierten Jahr der brasilianischen Rezession? Drei Diebestouren schloß der armselige Junge erfolgreich ab, beim vierten Versuch erlag er dem Haß einer Gesellschaft, die zunehmend brutaler auf Gewalt reagiert.
Am Tag nach der Ermordung Joilsons wollten Priester des Erzbistums Sao Paulo, die sich um die Hunderttausende verlassenen Minderjährigen des 14-Millionen-Ballungsgebietes kümmern, einen Kranz am Tatort niederlegen. Sie wurden beschimpft und mit Orangen beworfen, der Kranz wurde ebenso zertrampelt wie tags zuvor der junge Dieb.
Das Verbrechen ist allgegenwärtig in den Großstädten Brasiliens. Alle 20 Minuten geschieht in Rio de Janeiro ein Diebstahl. 100 000 bewaffnete Überfälle zählte Sao Paulo im vergangenen Jahr - und die Tendenz ist steigend. Allein 1984 stürmten bewaffnete Räuber 600mal in die Banken der Industriemetropole Brasiliens, die Pistole, von der sie schnell Gebrauch machen, im Anschlag.
So etwa an jenem Tag, als die 23jährige Ballerina Laura Tomarevski mit ihrer acht Monate alten Tochter auf dem Arm ein Sparbuch für die Kleine eröffnen wollte. Weil das Kind schrie, schoß ihm ein Bankräuber in den Kopf. Die Kugel durchbohrte das Kind und traf auch die Mutter tödlich.
Zwei von jährlich 3000 Morden in Sao Paulo. Angst verändert inzwischen auch die Lebensweise jener, die mehr als ihr Leben zu verlieren haben. Immer höher werden die Mauern um die Villen und Parkanlagen in den feinen Vororten, in kaum einem Garten fehlt ein abgerichteter Schäferhund oder ein aggressiver Dobermann. »Ich bin schon sechsmal ausgeraubt worden, hier gibt es nichts mehr zu holen«, verkündete ein Hausbesitzer in Sao Paulos elegantem Viertel Morumbi auf einer Tafel am Hauseingang.
Viele geben auf und bieten Luxusvillen zu Schleuderpreisen an (150 000 Mark für acht Zimmer, Schwimmbad und Tennisplatz). Umso mehr steigen die Preise der gut beschützten Wohnblocks mit über 600 Quadratmeter großen Apartments. Hier fühlen sich die Bewohner sicherer.
Widerstand statt Flucht ist die Losung jener Brasilianer, die Überwachungsfirmen und Pistolenfabrikanten zu Bombengeschäften verhelfen. Rund 115 000 Mann finden in Brasilien Anstellung als bewaffnete Privatwächter. Und immer bizarrer wird das Schutz-Arsenal: Eine Agentur in Rio de Janeiro bietet gar dressierte Löwen zur Bewachung des bedrohten Wohlstandes an.
Der Umsatz der Waffenfabriken Rossi und Taurus ist zwar ein vom Heeresministerium streng gehütetes Geheimnis. Doch Experten schätzen den jährlichen Verkauf von Handfeuerwaffen in Brasilien auf rund 120 000 Stück. Ex-Polizist Dilson Galvao in Recife ist für Aufrüstung der Haushalte: »Wir leben in einem Guerilla-Krieg ohne Ideologie. Der Bürger muß zum Guerrillero werden.« Davon versteht Hauptmann Galvao gewiß viel: In den 60er Jahren lernte er von US-Beamten, wie man linke Aufständische bekämpft. Nun trainiert er Bürger in seiner Schießakademie zu Widerstandskämpfern.
»Ich treffe einen Mann auf 70 Meter Entfernung«, meint stolz Regina Mendes in Sao Paulo, eine der zahlreichen Frauen, die sich in die Schießklubs und Scharfschützenkurse drängen, »wenn ich das linke Auge nicht treffe, dann erwische ich ihn im rechten.« Die 25jährige Hausfrau trägt stets zwei Pistolen Kaliber .22 und .35 in der Handtasche.
Sogar Sandra Costa Chaves, eine 15jährige Schülerin des Gymnasiums »Sacre Coeur de Jesus« in Belo Horizonte, weiß schon geschickt umzugehen mit ihrer Smith & Wesson Kaliber .32: »Ich würde aber nur im Notfall schießen.«
Wer aber bestimmt, was Notfall ist? Die Bereitschaft, Unrecht mit Tod zu bestrafen, nimmt jedenfalls zu: Die Umfragen ergeben in den Städten klare Mehrheiten für die Wiedereinführung der höchsten Strafe. Denn nicht nur die Reichen sind bedroht. Im Gegenteil. Ohne Mauern, Wächter oder Waffen müssen die Armen hautnah mit der Gewalt leben. »Sogar bewaffnete Kinderbanden verunsichern unser Leben hier«, klagt ein Slum-Priester, »es gibt Siebenjährige, die schon Menschen erschossen haben.«
In den Favelas, den Elendsvierteln von Rio de Janeiro, Sao Paulo oder Belo Horizonte, drückt die Gewalt gleich von zwei Seiten - denn für die Polizei ist arm sein schon Verdachtsmoment. Die Beamten bewegen sich in den Quartieren der Elenden wie in Feindesland.
Das kriegsmäßige Vorgehen lernten sie vor allem während der 70er Jahre, der harten Phase der brasilianischen Militärdiktatur. Wo Rechtlosigkeit ohnehin Normalzustand war, schien es den Ordnungshütern wirksamer, Kriminelle gleich ganz zu erledigen, anstatt die Justiz damit zu belasten: Bis zu 10 000 Menschen brachten die Todesschwadronen um, die sich oft aus Polizisten zusammensetzten.
Noch heute fällt es den schlecht bezahlten, kaum ausgebildeten und oft korrupten Polizisten schwer, zu verstehen, was Rechtsstaat heißt. Mancher zieht noch immer den Griff zur Pistole im Auftrag eines Ladenbesitzers der Bemühung des Staatsanwaltes vor. »Was kann ich machen?« fragt ein Kommissar in Sao Paulo verzweifelt, »ich weiß, daß einige meiner Beamten unbrauchbar sind. Aber wenn ich sie rausschmeiße, dann werden sie endgültig zu Kriminellen.«
So machtlos die Polizei in der Bekämpfung des Verbrechens ist, so schwerfällig arbeitet die Justiz. Allein in Rio füllen 12 000 unerledigte Mord- und Mordversuchsfälle die Gerichtsakten. Nur 350 sind reif für eine Anklage. Die meisten Mörder gehen straffrei aus - ja, werden nicht einmal von der Polizei identifiziert.
»Es ist kaum erstaunlich, daß die Bewohner der Armenviertel den Rechtsapparat der Nation, den sie unmittelbar durch die Polizei kennen, mit Unrecht in Verbindung bringen«, meint die Soziologin Alba Zaluar. Denn die Polizei läßt sich bestechen von den Kriminellen, die sie bekämpfen müßte. Und anders als die Banditen schießen die Polizisten in den Augen der Favela-Bewohner »wahllos und zu Unrecht« um sich.
Die Behörden rechtfertigen ihr Verhalten: »Polizei und Justiz sind Organe der Repression, nicht der Wohltätigkeit«, meint etwa Polizeikommissar Waldemar de Castro aus Rio, »wir müssen den Kriminellen Angst vor der Polizei einbleuen.«
Als die Rota, eine Sonderpolizei in Sao Paulo, im vergangenen Jahr den hundertsten »Asozialen« erschoß, feierten die Beamten; zwei stolze Offiziere gaben gar Interviews. Ihr radikales Vorgehen findet Unterstützung in der Gesellschaft. »Jeder Baum, an dem keine gute Frucht wächst, muß abgesägt werden«, meint in biblischer Rechtschaffenheit der Sprecher einer Händlervereinigung in Sao Paulo, »wir ertragen die Asozialen nicht mehr, wir brauchen die Todesschwadron.«
Gewiß sind die Verbrecher brutaler geworden, gewiß sind sie in die besseren Viertel vorgestoßen, bedrohen nun auch Passanten im weltberühmten Copacabana oder in Ipanema. Doch Langzeitstatistiken beweisen: Im Verhältnis zur Bevölkerung hat die Anzahl der Verbrechen in den Großstädten zugenommen, aber auch und vor allem die Zuordnung der Täter zur sozial untersten Bevölkerungsschicht, zu den völlig Mittellosen, hat Folgen.
»Die durch Inflation, Arbeitslosigkeit und den Verlust ihres Status verängstigte Mittelklasse findet im 'Asozialen' einen neuen Sündenbock«, meint der Soziologe Antonio Luis Paixao von der Universität Belo Horizonte.
Tatsächlich bedarf die Staatsmacht Brasiliens, durch die demokratische Öffnung zurückgedrängt, eines neuen Feindbildes. Noch vor wenigen Jahren konnte sich die Polizei als Retter vor der vermeintlichen Bedrohung durch linke Guerrilleros aufspielen. Heute hat das Trauma der blutrünstigen Militärdiktatur die meisten Offiziere ideologisch besänftigt. Statt dessen liefern die Kriminellen das neue Feindbild, das die harte Hand der Ordnungshüter rechtfertigen soll.
Die Todesschwadronen der Polizei wurden zwar von den demokratisch gewählten Gouverneuren und Stadträten etwas gezügelt, Mord an Verbrechern ist nicht mehr Routine. Doch allzu scharfes Vorgehen gegen die Korruption führte etwa im vergangenen Jahr in Sao Paulo zu einer Art Bummelstreik der Polizisten. Weil die Politiker deren Vorliebe für harte Methoden mäßigen wollten, überließen die Beamten die Elendsviertel aus Trotz der ungehemmten Gewalt von Gangstern.
Unsicherheit und mangelndes Vertrauen in die Behörden verwandelt nun die Armenviertel der Großstädte in eine Art Wilden Westen, in dem Rachegelüste die Gesetze ersetzen. So zum Beispiel im Fall Adilson Santos Gomes. Zwei Monate erst arbeitete der 22jährige in seiner ersten Stelle - als Verkäufer im Carrefour-Supermarkt von Sao Bernardo. Dann überfiel ihn sein Nachbar Sebastiao 200 Meter vor seinem Haus im Viertel Sacadura Cabral mit einem Messer in der Hand. Adilson wollte die 3000 Cruzeiros (drei Dollar), die er bei sich trug, nicht hergeben, Sebastiao stach ihn nieder.
Die Favela geriet in Aufruhr. Die wütenden Favelados jagten den Mörder, schleppten ihn an den Haaren durch die Dreckstraßen des Viertels, schlugen unerbittlich auf ihn ein. Am Ort seines Verbrechens erschossen sie Sebastiao. Eine aufgehetzte Barbesitzerin versuchte noch, dem Toten mit einem Schraubenzieher ein Auge auszustechen. »Ich wollte es in einem Schnapsglas aufbewahren, aber die Polizei ließ mich nicht«, klagte sie.
Wo Rache die Justiz ersetzt, finden die geplagten Favelados auch neue Formen von Ordnungshütern: der »Justiciero« (Rechtskämpfer), der als Robin-Hoodartiger Held die Banditen von seinem Territorium fern hält. Finanziert wird der Justiciero von den Händlern. Meist wird er von der Polizei toleriert, wo nicht, schützt ihn die Bevölkerung seines Reviers vor der Haft. Sein Ruf ist seine stärkste Waffe.
»Ich mußte 20 Menschen umbringen, um mir einen Namen zu machen«, rühmte sich der 29jährige »Ze Laranja«, die Orange, der meistgesuchte Mann des Südens von Sao Paulo. Auch die Polizeiakte des 27jährigen Ignacio Trajano de Souza enthält schon acht Haftbefehle wegen Mordes. Doch die Favela Juguare schirmt ihn ab, weil er das Revier »säubert«. Der einstige Metallarbeiter begann seine Karriere als Justiciero, nachdem seine Frau auf offener Straße vergewaltigt worden war.
»Mata«, töte: Diese Aufforderung findet immer mehr Anhänger. »Alle müssen sich bewaffnen«, meint selbst der ehemalige Erzbischof von Porto Alegre, »keiner soll so blöd sein und sich überfallen lassen.«
Mehr als hundert Menschen sind in den vergangenen drei Jahren in Sao Paulo und Rio de Janeiro von wütenden Bürgern gelyncht worden. Einer der letzten war der 33jährige Drogenhändler Oswaldo Pires aus dem Slum Jardim Guanhambu.
»Hängt ihn doch auf«, hatte ein Polizist den Bürgern geraten. Daraufhin versammelten sich rund 150 Bewohner des Viertels in einer Bar: »Wer ist dafür, ihn zu töten?« war die Frage. Die Mehrheit stimmte für Hinrichtung. »Ich hob gleich beide Arme«, erzählt ein Händler. »Es war das zweite Mal in meinem Leben, daß ich abgestimmt habe«, erinnert sich eine Hausangestellte, »das erste Mal war bei den Wahlen von 1982.«
Der Drogenhändler, der das Viertel terrorisiert hatte, durfte noch eine Zigarette rauchen. »Laßt das Raubtier los«, schrie jemand ungeduldig. Sein letzter Spurt brachte den Verbrecher 500 Meter weit, dann brach er unter den Stockhieben der Menge zusammen.
43 Bürger bekannten sich zu der Tat und gaben ihre Namen gelassen der Polizei zu Protokoll.