VERKEHRSREGELUNG Auge über der Kreuzung
Im großen Tanzraum des Hamburger Bierlokals »Lübscher Baum«, an der Ecke Wandsbeker Chaussee und Landwehr, drückte am letzten Freitag der Polizei-Oberrat Heinrich Ebeling, Leiter der Hamburger Verkehrspolizei, auf die Taste eines Fernsehempfängers, Marke »Zauberspiegel«.
Kurz darauf wurde auf dem Bildschirm eine belebte Straßenkreuzung sichtbar. Dem Polizeimann bot sich ein Bild, das jedem Autofahrer - wenn auch aus anderer Perspektive - vertraut ist: Zu dritt nebeneinander waren Kraftfahrzeuge in einem Pulk aufgefahren. Die Verkehrsampel strahlte den Autofahrern, wie Ebeling durch einen Blick auf die an einem Schaltpult aufglimmenden Kontrollämpchen
feststellen konnte, ihr Rot entgegen. Aber weder kreuzten andere Fahrzeuge die Fahrbahn noch waren Fußgänger zu sehen.
Sogleich drückte Ebeling auf einen Knopf, der aus seinem Schaltpult herausragte. Das rote Auge der Verkehrsampel erlosch, das grüne flammte auf und gab der Auto-Meute den Weg frei.
Eine Fernsehkamera von der Größe einer Zigarrenkiste, die 25 Meter über der Kreuzung angebracht war, hatte dem Polizeimann durch ein Kabel ein leicht flimmerndes Bild von der unnötigen Stockung des Autoverkehrs ins Haus gebracht. Eine Spezialautomatik sorgte dafür, daß sich die Lichtempfindlichkeit der Kamera selbsttätig an die jeweils herrschenden Lichtverhältnisse anpaßte, Auch bei schlechtem Wetter und in der Dämmerung lieferte sie dem Fernsehbeamten im Kontrollraum ein klares Bild.
Die Lichtempfindlichkeit des Fernsehauges ist so groß, daß die üblichen Straßenbeleuchtungen ausreichen, um dem Beamten im Kontrollraum die Kreuzung auch nachts auf dem Bildschirm erscheinen zu lassen:
Die Veranstaltung im »Lübschen Baum«, der einige Verkehrsexperten und Fernsehtechniker beiwohnten, war ein Versuch der Hamburger Polizei, den Verkehr in den Arterien der Stadt geschwinder fließen zu lassen und die an Kreuzungen immer häufiger auftretenden Verstopfungen zu vermeiden oder schneller zu beseitigen. Wenn die Auswertung der in dem Tanzlokal angestellten Versuche die Verkehrsexperten der Polizei zufriedenstellt, ist damit zu rechnen, daß der Hamburger Verkehr in absehbarer Zeit fernseh-ferngelenkt werden wird.
Oberrat Heinrich Ebeling, der das Verkehrs-Fernsehen als sein Steckenpferd betrachtet, hatte im letzten Jahr schon einmal versucht, seine Ideen zu verwirklichen. Ihm schwebte vor, Fernsehaugen über die wichtigsten Kreuzungen im Stadtgebiet zu hängen. Ein kleiner Sender sollte das aufgenommene Bild drahtlos auf den Fernsehschirm in einem Kontrollraum projizieren. Aber aus diesem Plan wurde nichts, weil die Bundespost die für diesen Betrieb notwendigen Sende-Frequenzen nicht zur Verfügung stellen konnte. Oberrat Ebeling legte seine Pläne einstweilen zu den Akten.
Jedoch dem Prokuristen der Hamburger Vertretung der Grundig-Werke, Heinz Putzbach, der an den ersten Versuchen
beteiligt war, ließ die Idee des Verkehrsfernsehens keine Ruhe. Jedesmal, wenn er mit seinem VW bei rotem Licht vor einer Verkehrsampel stoppen mußte, obwohl niemand die Straße überqueren wollte, ärgerte er sich über den sturen Schematismus automatischer Ampeln, die ohne Rücksicht auf den Verkehrsfluß die Farbe wechseln. Putzbach kombinierte: »Durch eine zentrale Steuerung der Ampeln mit Hilfe von Fernsehkameras könnte der Verkehr viel flüssiger abgewickelt werden.«
Die befreiende Idee - auf Sende-Frequenzen zu verzichten und das Fernsehbild nicht durch den Äther, sondern über Kabel in den Kontrollraum zu leiten - kam ihm jedoch erst anläßlich einer Gastwirts- und Konditorenmesse in Hamburgs Ausstellungspark »Planten un Blomen«. Dort hatte Putzbach Fernsehgeräte installiert, um lehrreiche Kochvorführungen auch für solche Ausstellungsbesucher sichtbar zu machen, die nicht über die Köpfe der drängelnden Besucher hinweg einen Blick auf die Demonstration werfen konnten.
Von dem Auge der Kamera, das unmittelbar über dem Koch auf das in der Pfanne brutzelnde Fleisch glotzte, hatte Putzbach das Bild durch Kabel auf mehrere im Ausstellungsgelände verteilte Empfänger übertragen. In ähnlicher Weise, so glaubte der Fernsehmann, müßte auch das Verkehrs-Fernsehen verwirklicht werden können. In Oberrat Heinrich Ebeling fand er einen Verbündeten. Die beiden einigten sich zunächst auf den Versuch im »Lübschen Baum«.
Trotzdem hat Putzbach seine Ideen schon weiter entwickelt. Weil es wahrscheinlich zu kostspielig wird, jedes einzelne Fernsehauge durch ein Kabel direkt mit dem Kontrollraum zu verbinden, sollen die Kabel mehrerer Kreuzungen zu
Relaisstellen geführt werden, die durch dickere Kabel mit dem Kontrollraum verbunden sind. Die dabei entstehenden Kosten erscheinen für den Etat einer Großstadt durchaus tragbar: Putzbach schätzt, daß Fernsehaugen an 20 Kreuzungen und ein mit vier Empfängern bestückter Kontrollraum etwa 200 000 Mark kosten würden.
Auf den vier Bildschirmen im Kontrollraum soll ein Beamter gleichzeitig die Situationen auf vier Kreuzungen überblicken können. Dabei sollen nur solche Kreuzungen gleichzeitig auf den Bildschirmen erscheinen, die auch im Verkehrsfluß in Beziehung zueinander stehen, wie etwa vier an einer Durchgangsstraße gelegene Kreuzungen. Von seinem Schaltpult aus könnte der Kontroll-Beamte dann jederzeit durch eine »grüne Welle« den Verkehrsstrom steuern.
Ein solches System würde nicht nur den Autofahrern zum Vorteil gereichen. Es würde gleichzeitig den Personalmangel der Polizei weniger spürbarwerden lassen, der sich mit wachsender Verkehrsdichte
immer verhängnisvoller auswirkt. Während Hamburgs Verkehrspolizisten im Jahre 1950 lediglich 59 100 in der Hansestadt zugelassene Fahrzeuge durch die Engpässe des Straßennetzes zu schleusen brauchten, müssen sie heute einen Strom von 131 914 Fahrzeugen kanalisieren.
Das neue Fernseh-System würde sich hier entlastend auswirken, An den Kreuzungen, über die ein Fernsehauge wacht, - brauchte kein Polizist mehr postiert zu werden.
Polizei-Oberrat Ebeling im Kontrollraum: Wird Hamburgs Verkehr fernseh-ferngelenkt?