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KERNKRAFT Aus dem Netz

In westdeutschen Kernkraftwerken wird der Lagerraum für verbrauchtes Spaltmaterial knapp. Wenn die Gerichte eine »Kompaktlagerung« ablehnen, stehen bald Meiler wegen ungesicherter Entsorgung still.
aus DER SPIEGEL 23/1979

Michael Sauer, Student der Chemie aus Darmstadt, redete ins Mikrophon, als ihm schon längst das Wort entzogen war. Verärgert schaltete der Verhandlungsleiter den Strom ab.

Sauer ging, nachdem er, gemeinsam mit seinen Getreuen, noch eine Gedenkminute für die »zu erwartenden

* Oben: Das Ölgemälde zeigt Paula Volkholz; unten: ein Modell beider Reaktorblöcke (vorne>.

Opfer« der Beinahe-Katastrophe von Harrisburg eingelegt hatte.

Es waren die Vertreter von 10 140 Umweltschützern und Kernkraftgegnern, die das gesetzlich vorgeschriebene atomrechtliche Anhörungsverfahren letzten Monat in der Riedhalle zu Bibus verließen. »Die wollten uns gar nicht anhören«, begründet Bürgerinitiativen-Sprecher Eduard Bernhard den Auszug, »alles sollte hopplahopp über die Bühne gehen.«

Erörtert werden sollte ein Problem, das für die Energiepolitiker in Bonn und in den Ländern, aber auch für die Kraftwerksunternehmen immer dringlicher wird: die Lagerung des atomaren Mülls -- rund 600 Tonnen abgenutzte Brennstäbe, die jährlich in den bundesdeutschen Reaktoren anfallen und in Wasserbecken so gelagert werden müssen, daß die Radioaktivität abklingt und nicht nach außen dringen kann.

Einmal pro Jahr muß in den bundesdeutschen Atomkraftwerken ein Drittel der Kernladung gegen frische Brennelemente ausgetauscht werden, bei einem Druckwasserreaktor vom Typ Biblis sind das jeweils einige tausend gebündelte Brennstäbe mit 34 Tonnen Uran. Die aus dem Reaktorkern ausgeladenen Brennstäbe kommen zunächst für rund 200 Tage in ein mit Borwasser gefülltes Betonbecken, in dem die radioaktive Strahlung so weit abklingt, daß die Brennstäbe in dickwandigen, mit Stahl und Blei ummantelten Behältern abtransportiert werden können.

Im südhessischen Biblis sind, wie auch anderswo, die Abklingbecken voll. Um mehr abgebrannte Stäbe aufbewahren zu können, wollen die Politiker erlauben, die Lagergestelle in den Meilern wesentlich dichter mit hochradioaktiven Brennstäben zu bepacken

-- statt gut 300 Brennelementebündeln wie bisher mit künftig 600 in jedem der beiden Reaktorblöcke.

»Grundsätzliche Bedenken« gegen die kompakte Lagerung, zog Ministerialrat Ulrich Thurmann, Leiter des Energie-Referats im hessischen Wirtschaftsministerium, nach der Anhörung befriedigt das Fazit, »sind uns nicht bekanntgeworden. Der Genehmigungsbescheid wird vorbereitet.«

Was die Hessen, spätestens bis Herbst, genehmigen wollen, hat der Biblis-Betreiber, die Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk AG (RWE), vorsorglich schon mal eingebaut, wenn auch nicht in Betrieb genommen. Die »Kompaktlager«, mit Borkarbidplatten ausgelegte Fächer, in denen die Brennelemente künftig dicht nebeneinander wie Bierflaschen in Kästen (statt wie bisher mit Leerfächern dazwischen) verstaut werden sollen, sind seit vergangenem Jahr installiert. Wird die atomare Zusatzpackung bis Oktober nicht zugelassen, stehen in Europas größtem Kernkraftwerk Biblis, wie Thurmann befürchtet, »die Mühlen bald still«.

Zusätzlicher Lagerraum für die abgebrannten Brennstäbe ist in den meisten westdeutschen Atomkraftwerken dringend erforderlich, weil die Atomunternehmen den strahlenden Müll vorerst nicht loswerden. Energiepolitiker in Bund und Land haben für die Reaktoren etwa so vorgeplant wie Architekten, die einen Wohnsilo bauen, ohne den Mietern zu sagen, wo sie ihren Abfall hinwerfen sollen.

Ohne »gesicherte Entsorgung« aber, die geregelte Beseitigung aller radioaktiven Abfälle, lassen bundesdeutsche Verwaltungsrichter die Betriebsgenehmigung für Kernkraftwerke nicht mehr gelten. So will das Oberverwaltungsgericht Lüneburg die »Bereitstellung eines Zwischenlagers« nicht mehr als ausreichende Entsorgung akzeptieren, schon gar nicht eine Mogelei wie die mit den Kompaktlagern.

»Bereits bei Errichtung der Anlage«, entschied das Lüneburger Gericht, müsse »die spätere Verwertung und Beseitigung der anfallenden Reststoffe und Abfälle als durchführbar angesehen werden« -- eine Auflage, die schon bald zur ersten Abschaltung eines Reaktors führen kann, weil die Mülldeponie fehlt.

Das geplante Entsorgungszentrum Gorleben wird, wenn überhaupt, erst in den neunziger Jahren als Endlagerstätte für radioaktiven Abbrand aufnahmebereit sein. Im geplanten atomaren Zwischenlager Ahaus in Nordrhein-Westfalen, für 1500 Tonnen Reaktorabfall projektiert, werden frühestens in vier Jahren die ersten abgenutzten Brennstäbe in Wasserbecken gesenkt.

Und ungewiß ist für die Atomexperten in Regierung und Industrie, ob die staatliche französische Firma Cogema (Compagnie generale des metieres nucleaires) in La Hague ihren Kontrakt erfüllen, Brennstäbe aus bundesdeutschen Kraftwerken annehmen, korrekt lagern und wiederaufarbeiten kann.

Vereinbart mit den Franzosen sind zwar »die Lagerung und Wiederaufbereitung von zusammen 600 Tonnen abgebranntem Brennstoff aus der Zeit 1977-1979« und »für insgesamt 1705 Tonnen Brennstoff aus den Jahren 1980-1984« (so ein Bericht des Innenministeriums), aber abgenommen hat die Atommüllfabrik bis heute fast nichts, und zur Abnahme verpflichtet ist das Unternehmen auch nicht, wenn »höhere Gewalt« wie Streik, Aussperrung oder technische Defekte es verhindern.

Harald B. Schäfer, SPD-Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender der Arbeitsgruppe Reaktorsicherheit des Bonner Innenausschusses, nach einem Besuch in der Normandie: »Das wird für uns prekär, schon aus psychologischen Gründen wollen die unseren Müll nicht behalten.«

Die Skepsis hat sich auch dem Bonner Innenminister Gerhart Baum (FDP) mitgeteilt; er erwägt, deutschen Firmen, die ihre Entsorgung mit Cogema-Verträgen nachweisen, keine Kraftwerke mehr zu genehmigen. Für eine »kurzfristige Entsorgung«, so Baum in einem internen »Sachstandsbericht«

* Oben: Beim Anhörungstermin zur Atommüll-Lagerung am 7. Mai 1979 in Biblis; unten: Lagergestell (r.) neben dem Reaktordruckbehälter, bei einer Revision im Mai 1976.

vielmehr, werden »Kompaktlager in den Kernkraftwerken benötigt«.

Die Hessen, die bereits 67 Prozent ihres erzeugten Stroms aus Kernenergie gewinnen (Bundesrepublik: 13,4) und Atomstrom auch in andere Bundesländer liefern, sind beim Ausbau der kompakten Müllkästen mal wieder vorn. SPD-MdB Schäfer: »Weil"s bei denen da auch am meisten drückt.«

FDP-Wirtschaftsminister Heinz-Herbert Karry und SPD-Ministerpräsident Holger Börner, auf Spruchbändern von Demonstranten schon als »Super-Gau-Leiter von Hessen« verspottet, wollen den RWE-Stromwerkern erlauben, unter den Reaktorkuppeln sechs statt bislang zwei Jahresentlademengen an abgebrannten Uranstäben zu lagern und sich damit für vier weitere Jahre auch ohne ausreichend geregelte Entsorgung durchzuwursteln.

Dicht aneinandergereiht, aber umhüllt von Borkarbidplatten wie in Biblis oder Borstahlhülsen wie in anderen Kernkraftwerken, strahlt von den Brennstäben, wie die Atomtechniker behaupten, im Wasserbecken nicht sehr viel mehr Radioaktivität ab als bei normaler Lagerung auch, weil länger aufbewahrte Brennstäbe bei rasch abklingender Strahlung nur wenig zur Gesamtradioaktivität beitrügen.

Die sachverständigen Sprecher der 28 Bürgerinitiativen, die in Biblis Anfang Mai gehört werden sollten, sehen hingegen im Kompaktmüll »für die Bevölkerung in der näheren und weiteren Umgebung eine unzumutbare Vergrößerung der Risiken für ihre Gesundheit durch langlebige Radio-Nuklide« (so der Darmstädter Diplom-Physiker Manfred Bischoff).

Dabei verweisen die Kernkraftgegner in ihren Einsprüchen auf die bei enger Lagerung der Brennstäbe »größere Gefahr von Kettenreaktionen«, die auch durch eingeführte Borplatten nicht beseitigt werde. Sailer: »Da fliegen die Neutronen doch immer noch rum.«

Nach dem Unfall von Harrisburg halten es die hessischen Atomgegner für »unvertretbar«, daß Schnellentladungen erst nach vier Tagen möglich sind, weil im Ernstfall eine raschere Entladung des Kerns durchaus von »lebenswichtiger Bedeutung sein kann«. Das Kühlsystem wird für ebenso unzureichend angesehen wie die Vorsorge für denkbare Störfälle wie Erdbeben, Explosionen oder Flugzeugabstürze -- Katastrophen, gegen die die Biblis-Reaktoren längst nicht mehr genügend gesichert seien. Eduard Bernhard: »Die wollen das durchpeitschen, weil sie sonst bald in ihrem Müll ersticken.«

Gibt die hessische Landesregierung die Genehmigung, die Lager mit den abgebrannten Brennelementen im Meiler zu vergrößern, wollen die Umweltschützer vor dem Darmstädter Verwaltungsgericht klagen. Auch die benachbarte Stadt Lampertheim und der Landkreis Groß-Gerau haben beschlossen, Widerspruch einzulegen. Entscheiden die Richter gegen das Ministerium und die Biblis-Betreiber, wären Block A und B mit einer 2500-Megawatt-Leistung Ende des Jahres »aus dem Netz raus«, so Thurmann. »Dann«, sagt der Wiesbadener Energiereferent, »sollen die Darmstädter Richter darüber entscheiden, ob im Winter Strom da ist oder nicht.«

Ähnliches droht dann auch Kraftwerken in anderen Bundesländern wie Grafenrheinfeld, Esensham, Stade und Neckarwestheim. Bayerns Umweltminister Alfred Dick sieht selbst bei Sondergenehmigungen für dichtere Ablagerung der Brennstäbe den Betrieb nur noch bis 1987 gewährleistet: »Dann müssen wir stillegen.«

Von 16 funktionsfähigen Kernkraftwerken und Versuchsreaktoren in der Bundesrepublik müssen nach neuesten Berechnungen des Bonner Innenministeriums in diesem oder im nächsten Jahr insgesamt neun die Turbinen drosseln oder ganz abstellen, wenn »keine Entsorgung nach außen oder keine Kompaktlagerung erfolgt« (Baum).

Selbst der CDU-Bürgermeister von Biblis, Josef Seib, der nach den Reaktorblöcken A und B auch schon bald den projektierten Block C gebaut sehen möchte (Seib: »Die Leute sagen, wenn"s nach mir ginge, würde das Alphabet nicht reichen"), schaute sich kürzlich auf der Hannover-Messe nach alternativen Energiequellen um.

Für das neue Rathaus der südhessischen Gemeinde (Baukosten: 4,5 Millionen Mark) sind Sonnenkollektoren auf dem Dach fest eingeplant. Im Keller, sicher ist sicher, wird ein großer Schutzraum für den atomaren Ernstfall eingebaut.

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