GIFTGAS Aus dem Schlafanzug
DDR-Außenminister Oskar Fischer, 65, kehrte den sauberen Deutschen heraus. »Wir besitzen keine chemischen Waffen«, versicherte er vorletzte Woche auf der Pariser Chemie-Waffen-Konferenz, »wir entwickeln sie nicht, und wir lagern sie nicht.« Von einem blau-weißen Globus auf dem Rednerpult verdeckt, forderte er eine »vollständige Beseitigung chemischer Waffen« - zum »Überleben der Menschheit«.
Der stärkste Applaus kam aus Reihe sieben, wo die neunköpfige DDR-Delegation saß. Im weiträumigen Sitzungssaal des Pariser Unesco-Gebäudes war ein neues Zeugnis internationaler Heuchelei abgelegt worden.
Denn längst gibt es hinreichend Belege, daß auch der andere deutsche Staat am schmutzigen Geschäft mit chemischen Massenvernichtungswaffen verdient. Nachrichtendienste des In- und Auslandes, weltweit operierende Waffenhändler und Aussagen eines ehemaligen DDR-Leutnants, die dem SPIEGEL vorliegen, bestätigen, wie intensiv sich die DDR an der internationalen C-Aufrüstung beteiligt.
So verhandelte der irakische Geschäftsmann Ihsan Barbouti 1984 mit dem VEB Metalleichtbau-Kombinat in Plauen über die Lieferung von 10 800 Tonnen Stahlkonstruktionen für einen »Technologie-Park« bei Tripolis. Die Billig-Offerte aus dem Ostblock konnten westdeutsche Firmen nicht unterbieten. Wie die kapitalistischen Firmen des Westens lieferte auch die DDR an Oberst Gaddafi und für das Projekt »Pharma 150« in Rabita.
Daß die zivilen Materialien ganz anderen Zwecken dienen, haben wohl auch DDR-Sicherheitsdienste frühzeitig erkannt. 1987 verschärfte die DDR die Ausfuhrbestimmungen für Chemikalien, die »sowohl zu friedlichen Zwecken als auch zur Waffenherstellung« (Außenminister Fischer) geeignet sind.
In der offiziell immer bestrittenen C-Waffen-Forschung gehört die DDR gar zur Weltspitze. Selbst bei der Wehrwissenschaftlichen Dienststelle der Bundeswehr im niedersächsischen Munster, zuständig für ABC-Schutz, wird nach einem 1100seitigen »Lehrbuch der Militärchemie« aus Ost-Berlin gearbeitet. Seit der ehemalige DDR-Wissenschaftler Adolf-Henning Frucht, 75, die geheime Kampfstofforschung des Ostens enthüllte (SPIEGEL 24 bis 28/1978), verfolgen westliche Nachrichtendienste verstärkt die C-Aufrüstung im Ostblock. Was die Sowjets seinerzeit als »Phantasien eines Verrückten« abtaten, bestätigt jetzt auch ein ehemaliger Leutnant der Nationalen Volksarmee (NVA), der selber den Umgang mit chemischen Kampfstoffen in der DDR erlernte: Ulrich Bergemann, 44, ein Ingenieur und Rechtsanwalt, der seit seiner Ausweisung 1984 bei Darmstadt lebt, hatte nach eigenen Angaben als Laborant jahrelang Zugang zu streng abgeschirmten Forschungsabteilungen.
In seinem Arbeitsvertrag mit dem VEB Arzneimittelwerk Dresden hatte er sich zu »strengstem Stillschweigen« verpflichten müssen - aus naheliegenden Gründen. Sein Arbeitsplatz im Werksteil 101 des Radebeuler Zweigbetriebes, Wilhelm-Pieck-Straße 35, lag in einer Sperrzone. Im Labor 14, zugänglich nur mit schwarz gekennzeichnetem Ausweis, wurden »Stickstoffanalysen für die militärisch-medizinische Sektion« durchgeführt. In den Labors 1 und 2 arbeiteten die Arzneimittelforscher an »phosphororganischen Verbindungen« für »psychisch-toxische Kampfstoffe«.
Nach einem 1985 veröffentlichten Bericht der Nato sind 15 000 Wissenschaftler innerhalb des Warschauer Pakts seit 30 Jahren mit der »Grundlagenforschung für C-Waffen« beschäftigt - so im DDR-Chemiekombinat Bitterfeld, im VEB Fahlberg List in Magdeburg und im VEB Fluorwerke bei Pirna. Dort erlebte Bergemann mit, wie die Nationale Volksarmee den chemischen Grundstoff für das Nervengift Sarin, Natriumfluorid, in Kesselwagen abholte.
In einem Flachbau, im Werksteil 106, testeten die DDR-Forscher verschiedene Kampfstoffe an Katzen, Hunden und Meerschweinchen. Glasampullen, gefüllt mit Sarin, so berichtet Bergemann, wurden mit einer Schleuder in die Testzellen eingeschossen.
Bergemanns Arbeitseifer zahlte sich aus. Schon bei seiner Musterung war er gefragt worden, ob er mit »seinen Spezialkenntnissen der Republik nicht in einer besonderen Einheit« dienen wolle. Am »Zentralinstitut für Kernphysik« in Rossendorf hatte er zuvor die Facharbeiterprüfung abgelegt. Beurteilung: »Gute Anlagen und gute Auffassungsgabe.«
Er verpflichtete sich bei der »Volkspolizei-Bereitschaft«, die dem Ministerium für Inneres untersteht und zur Abwehr »innerer Unruhen« und zum »Personenschutz« eingesetzt wird.
In der »Unterführerschule« Radeberg bekam Bergemann nach seinen Angaben erste Einweisung im Umgang mit Gaskampfstoffen. Zur Ausrüstung der Volkspolizei gehören, wie im Westen, Tränengas und Augenreizstoffe. Aus Gewehr-Aufsteckläufen wurden »Reizstoffgranaten« verschossen. Eingesetzte Nebelkerzen waren teilweise noch mit einem Reichsadler gekennzeichnet. Alte Kampfstoffe aus dem Zweiten Weltkrieg werden in der DDR »umlaboriert« (Bergemann). Senfgas und Tabungranaten des Kalibers 75 Millimeter mußten, so Bergemann, für größere Werfer der sowjetischen Streitkräfte umgefüllt werden.
Bei der Nationalen Volksarmee erhielt Bergemann später eine »fundierte militärchemische Ausbildung«. So wurde seine Fallschirmjägereinheit 509 in Prora auf der Insel Rügen im Nahkampf zum Einsatz im gegnerischen Hinterland, zur guerillaartigen Beseitigung von Wachposten und zum Brückensprengen gedrillt. Bei simulierten Sabotageakten auf Trinkwassersysteme, berichtet Bergemann, seien chemische Gifte eingesetzt worden. Weil auch das Hantieren mit explosivem Material verlangt wurde, legte Bergemann eine zusätzliche Prüfung als Sprengmeister ab: »Eine muntere Truppe.«
In der östlichen Sowjet-Union absolvierte die Einheit 509 ein Winterkampftraining. Bei Minustemperaturen von 30 bis 35 Grad probten die DDR-Soldaten dreieinhalb Wochen lang den Einsatz »taktischer Mischungen«. Durch spezielle Flüssigkeiten läßt sich der Gefrierpunkt für Kampfstoffe herabsetzen. Vorteil: Auch amerikanische Raketenstationen in Alaska lassen sich durch eine chemische Blitzattacke ausschalten.
Nahe der sibirischen Stadt Tomsk wurde die »Eliminierung« einer feindlichen Raketenbasis durchgespielt. Die Sowjet-Armee, als angenommener Gegner, hatte dazu lebensechte Attrappen der US-Rakete »Honest John« aufgebaut - und schließlich gesprengt. Selbst Nato-Waffen wie das deutsche Gewehr G3 oder die Panzerfaust 44 wurden verwendet. Mit dem Kampfstoffanzeiger KZ 1a sollte auch bei tiefsten Temperaturen das tödliche Gas aufgespürt werden.
Übungen bei extremer Hitze wurden hingegen im Sommer in wüstenähnlichen Gebieten Kasachstans veranstaltet. In dieser Jahreszeit wurden den Kampfstoffen gummiartige Zusätze beigemischt, um eine längere Bodenhaftung und Haltbarkeit zu erzielen.
Bei Manövern in der DDR erfuhr Bergemann von noch gefährlicheren Kampfstoffmischungen. Ein höherer Offizier präsentierte auf einem Übungsplatz unter höchster Geheimhaltung ein neues taktisches Gemisch. Die Kampfstoffchemikalie Trichlortriethylamin war laut Bergemann zusätzlich in einem Kernreaktor bestrahlt worden.
Die Wirkungen sind verheerend. Denn die äußeren Symptome einer Strahlenvergiftung sind denen von Kampfstoffen vergleichbar und für potentielle Opfer zunächst nicht erkennbar.
Die Anwendung dieser chemischen Kampfstoffe will Bergemann auch im freien Gelände erlebt haben. In der Dübener Heide bei Leipzig hätten die Kampftruppen 1968 das Teufelszeug versprüht. Ausgerüstet mit Schutzanzügen, mobilen Feldlabors, Geigerzählern und Dosimetern, seien dabei chemischnukleare Verseuchungen gemessen worden. Erst nach mehreren Tagen hätten sich die Betanuklide abgebaut. Bergemann: »Völliger Wahnsinn.«
Geradezu harmlos nimmt sich dagegen der Einsatz von Flammenwerfern aus. Wirksame Brandmittel wie das graubraune Napalm gehören angeblich zur chemischen Kriegführung der DDR-Truppen. International ist der Einsatz von Napalm gegen Zivilisten seit dem Vietnamkrieg zwar geächtet. In Flammenwerftrupps erfahren DDR-Soldaten aber, wie sich wirksame Brandminen herstellen lassen. Simple Blechfässer, gefüllt mit Napalm und Splitterminen, werden, laut Bergemann, gut getarnt an der Frontlinie vergraben.
Bei einer NVA-Reserveübung nahe Frankfurt an der Oder erlebte Bergemann in einer Nachrichteneinheit 1980 ein letztes Mal, wie die Soldaten schon frühmorgens vom Vorgesetzten beim Gasalarm mit Augenreizstoffen drangsaliert wurden: »Raus aus dem Schlafanzug, rein in die Gasmaske.«
Zur DDR-Grundausstattung in den militärischen C-Einheiten gehört ein Päckchen mit blauen, gelben, schwarzen oder grünen Gegenspritzen für verschiedene Kampfstoffe. Nach Recherchen der Nato schützen spezielle Belüftungen in den Armeefahrzeugen des Warschauer Pakts vor atomarer, chemischer und bakteriologischer Verseuchung.
Im Jahre 1984 wurde Ulrich Bergemann, mittlerweile regimekritischer Rechtsanwalt, schließlich ausgewiesen. Der Rang eines Leutnants der Nationalen Volksarmee wurde ihm aberkannt.
Doch die westlichen Geheimdienste wußten sein Wissen bei Vernehmungen nicht zu nutzen. Zwar meldete sich eine »Hauptstelle für das Befragungswesen«, Zweigstelle Mainz, die Bergemann zum Gespräch lud, um »für die Bundesregierung zuverlässige Informationen über fremde Länder« zu sammeln.
Fünfmal saß der ehemalige NVA-Offizier in Mainz mit Nachrichtendienstlern zusammen. Dann sollte er für ein »paar Tage« in die Zentrale des Bundesnachrichtendienstes (BND) nach Pullach bei München. Doch daraus wurde nichts.
Bergemann, der bei einer Baustofffirma einen Job gefunden hatte, fürchtete Ärger mit seinem Chef, da er schon wieder Verdienstausfall beantragen mußte. Er verzichtete auf die Reise nach München - und der BND auf wichtige Informationen.