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MEXIKO Aus dem warmen Bett

Familienplanung soll dem Kinderboom Einhalt gebieten. Doch viele Mexikaner sehen darin einen Angriff auf ihre Männlichkeit.
aus DER SPIEGEL 26/1980

Mit 22 Frauen«, so besingen die Mexikaner ihren Revolutionshelden Emiliano Zapata, »frönte er dem Laster.«

Für den 17jährigen Studenten Roberto Gomez ist es selbstverständlich, daß er dem großen Vorbild nacheifert: »Wenn ich ein hübsches Mädchen sehe, trete ich vor sie hin und sage: ''Wie schön du bist, du gefällst mir''.«

Oft erntet er nur Schläge mit der Handtasche. Siege jedoch bringen ihm die Bestätigung seiner Männlichkeit, die Anerkennung als »macho«.

Doch der Anerkennung sicher ist der Mexikaner nur, wenn er seine Erfolge belegen kann -- auch nach der Hochzeit. Als konkreten Beweis seiner Virilität muß der »macho« nun Kinder produzieren S.144 -- so viele, wie seine Frau nur gebären kann.

Und sollte ihm dies nicht gelingen, dann sorgen eine oder gar mehrere Nebenfrauen für den guten Ruf des Mexikaners. Wenn er nach der Zahl seiner Kinder gefragt wird, ist seine beliebteste Erwiderung: »In welchem Stadtteil?«

Selbst in den höchsten Kreisen der Gesellschaft leisten sich die mexikanischen Männer neben dem ehelichen Haushalt -- der »casa grande« -einen außerehelichen: die »casa chica«, das kleine Haus.

Auch offiziell galt Kinderreichtum als Segen. »Regieren heißt Bevölkern«, erklärte vor einem Jahrzehnt der damalige Präsident Echeverria, der selbst mit gutem Beispiel vorangegangen war: acht Kinder.

Familienplanung und Geburtenkontrolle galten in Regierungskreisen lange als teuflische Ausrottungskampagnen des Imperialismus, als Versuch des US-Geheimdienstes CIA oder der Weltbank, Mexikos Potential als Weltmacht einzuschränken.

Ihrer Aufgabe, die Größe der Nation zu fördern, schienen sich Mexikos Frauen auch bereitwillig zu unterwerfen. Sogar in der Hauptstadt Mexiko-Stadt praktizierten 1970 nur 13,7 Prozent der Frauen Empfängnisverhütung -- im argentinischen Buenos Aires zum Beispiel waren es 41,8 Prozent.

Heute aber wird gegengesteuert. Apokalyptische Visionen eines ausgehungerten 130-Millionen-Volkes -- so die Voraussagen für das Jahr 2000 -haben auch die produktionsfreudigen »machos« zur Besinnung gebracht, wenigstens offiziell.

Denn die Geburtenrate -- mit 4,4 Prozent dreimal so hoch wie in den USA -- sowie die seit 1940 von 23,2 Promille auf 7,3 Promille abgesunkene Sterblichkeitsrate (Bundesrepublik: 11,6 Promille) haben zu einer Bevölkerungsexplosion geführt. Aus 19,6 Millionen Mexikanern des Jahres 1940 wurden inzwischen 70 Millionen -- und sie nehmen jährlich immer noch um 3,3 Prozent zu, in der Hauptstadt sogar um 5,6 Prozent, ein Weltrekord für Städte über 5000 Einwohner.

Mexiko aber ist trotz seines Ölreichtums zu arm, um diesen Kinderboom tragen zu können. Das sah sogar der nachwuchssüchtige Echeverria ein. Die Volkszählung von 1970 ergab nämlich nicht nur eine Bevölkerungszahl von 50 Millionen, sondern erschreckende Daten über den Lebensstandard dieser Massen.

Über die Hälfte der vor zehn Jahren gezählten Mexikaner bekamen nicht genügend Nahrung, um sich ihre geistige und körperliche Gesundheit zu erhalten, 53,5 Prozent hatten keine abgeschlossene Grundschulbildung.

Heute ist die Lage kaum besser. Ein Report der »Kommission für die Entwicklung von Armutszonen« berichtete dem Präsidenten Lopez Portillo vor kurzem, daß immer noch 50 Prozent der Bevölkerung am Rande der Gesellschaft leben. Im Jahre 2000 könnten es schon 80 Prozent sein.

Mexikos »machos« werden sich zügeln müssen, wenn sie die Entwicklung des Landes nicht gefährden wollen. »Hört jetzt auf] Wir sind schon zu viele]« beschwor der Demograph Gustavo Acevedo seine Landsleute.

Auf dieselbe Erkenntnis stützte sich auch ein 1974 unter Echeverria erlassenes Gesetz, nach dem der Bevölkerungszuwachs reguliert werden soll, »damit alle an den Ergebnissen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung teilhaben können«.

Damit waren die Türen geöffnet für die Familienplanung. Ehrgeizige Ziele setzte Präsident Lopez Portillo: Bis 1982 soll der Zuwachs der mexikanischen Bevölkerung auf 2,5 Prozent fallen, im Jahre 2000 soll er ein Prozent nicht überschreiten. 700 Millionen Pesos (54 Millionen Mark) wurden allein im Jahre 1980 bereitgestellt, um den Segen der Kinderarmut zu predigen.

»Eine glückliche Familie ist eine geplante Familie«, heißt die neue Lehre, die in Radio, Fernsehen und in Comic strips (Gesamtauflage 22 Millionen Exemplare) verbreitet wird. Und die Mexikanerinnen scheinen sie auch gern aufzunehmen.

»Schon 4,1 Millionen Frauen von insgesamt 8,5 Millionen im gebärfähigen Alter, die mit einem Mann zusammenleben, haben heute eine Art der Empfängnisverhütung gelernt«, freut sich der Koordinator für nationale Familienplanung, Dr. Martinez Manatou. Und: »Die Bevölkerung hat die Regulierung ihrer Fruchtbarkeit angenommen.«

Vor allem in der Mittel- und Oberschicht Mexikos sind Familienplanung und Empfängnisverhütung mittlerweile selbstverständlich geworden. »Die Männer«, so Maria Acevedo, eine Wortführerin der noch recht schwachen feministischen Bewegung, »mögen nicht mehr ''machos'' genannt werden.«

In übereiltem Optimismus berichten US-Experten an Hand von Stichproben über eine dramatische Senkung der Geburtenrate. Der Bevölkerungszuwachs sei schon auf 2,6 Prozent gefallen, die durchschnittliche Familiengröße von sechs auf fünf Personen zurückgegangen.

Doch der Optimismus scheint verfrüht. Andere, freilich wohl ebenso unzuverlässige Stichproben ergeben eine unverminderte Zuwachsrate von 3,3 Prozent.

»Die meisten Frauen hier wollen nicht mitmachen«, klagt Celia Ayala Rodriguez, 39 Jahre alt, Mutter von drei Kindern. Nach einem achtwöchigen Kurs wurde Celia im 1100 Einwohner zählenden Dorf Santiago Tepetapla im Bundesstaat Morelos Betreuerin von 16 Frauen, die beschlossen hatten, die Pille zu nehmen.

Nur mühsam kommt Celia gegen die Vorurteile der Landbevölkerung an. »Man erzählt den Frauen, daß sie Krebs bekommen, wenn sie die Pille nehmen. Auch weigern sich viele Ehemänner -- die wollen lieber mehr Kinder haben.«

Wenn das Wort »machismo« auch hier und da Mißfallen erregt, die Verhaltensweise ist geblieben. Der Sexologe Dr. Osvaldo A. Quijada etwa hält »die allgemeine Überzeugung von der männlichen Überlegenheit« für ungebrochen.

Demnach werden wohl Millionen Mexikaner auch in Zukunft mit Frauen und Nebenfrauen Kinder zeugen. »Ach, meine Herren«, entschuldigte sich unlängst ein hoher Regierungsbeamter, der zu spät zu einer Nachmittagssitzung erschien, »es ist so schwer, sich aus einem warmen Bett zu erheben.«

S.142Text zu Bild 1: »Vorher: Wir haben ohne Bestellung Babys an allePaare ausgeliefert, die wir kannten ...« Bild 2: »... aber baldsahen wir das Ergebnis]« Bild 3: »Jetzt arbeiten wir nur nachBestellung.« Bild 4: »Um sicher zu sein, daß jedes Baby gutempfangen, ernährt und erzogen wird."*

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