AUS DEN WOLKEN ERTÖNT MAOS STIMME
Der Oxford-Historiker Hugh Redwald Trevor -Roper, 51 ("Hitlers letzte Tage"), reiste in diesem Herbst aufgrund einer Einladung der Pekinger Regierung drei Wochen lang durch Rotchrina.
Wer - so wie ich - eine Einladung der rotchinesischen Regierung annimmt, sollte sich vor der Abreise auf bestürzende Erfahrungen vorbereiten.
Wir reisten, wohnten und aßen zwar sehr gut. Ist man aber drei Wochen-lang von ignoranten »Reiseführern« umgeben, wird man, offensichtlich mit Absicht, von jeder Möglichkeit eines geistigen Kontakts ferngehalten und ist man täglich einer stereotypen, auf das Niveau von Kindern zugeschnittenen Propaganda ausgesetzt - dann kann das alles auch durch großzügigste Gastfreundschaft nicht kompensiert werden.
»Denk daran, wir sind Gäste«, wurde mir manchmal gesagt, wenn kindische Monologe mich in Weißglut versetzten. Ich kam mir vor wie (der einstige Oxford -Historiker und -Literat) Anthony Wood, als er zu Gast bei dem damaligen Rektor des Wadham College war: »Er setzte mir einen Braten vor und schlug mich mit dem Bratenspieß!«
Vor allem muß sich der Besucher gegen die Propaganda wappnen. Sie hat die Methodik einer Wassertropfen-Tortur, ihr Thema ist stets gleich: »Vor der Volksbefreiung« (vom Beginn der Zivilisation Chinas bis 1949), im Zeitalter der »Feudalherrschaft«, war alles schlecht. Die einzigen nennenswerten Ereignisse in der viertausendjährigen Geschichte sind sporadische Bauernaufstände«. Und in jedem Museum hängen -
an der besten Stelle - Kolossalgemälde im sozialistisch-realistischen Stil mit imaginären Bauernführern.
Dazwischen gibt es Darstellungen aus der Kaiserzeit. In liebevollen Details beschreiben sie die Orgien der Reichen in ihren Palästen, während die Armen draußen im Schnee hungern. Wenn in diesen feudalherrschaftlichen Zeitläuften überhaupt etwas Schönes und Nützliches geschaffen wurde, dann nur, wie man uns eintrommelte, »durch die Klugheit der arbeitenden Menschen«. Aber mittlerweile seien diese Zeugnisse wahrscheinlich »von US-Imperialisten geplündert worden«. Das ist eine Standard-Phrase für den Export jeden Gutes aus China, wenn er im nachhinein bedauert wird.
Der große Wendepunkt kam dann 1949 mit der »Volksbefreiung«. Von da an gibt es plötzlich wieder chinesische Geschichte. Die »arbeitenden Menschen« haben die Macht übernommen. Die Städte, die zuvor »Konsumenten-Stätten der Gutsherren, Kapitalisten und Bürokraten« gewesen waren, wurden zu »Produktions -Stätten für das Volk«.
»Bauern, Arbeiter und Intellektuelle« heißt die neue Standard-Phrase. Und man versichert uns, daß gewissermaßen durch ein göttliches Mysterium aus diesen drei Berufsständen nun einer wurde. Ferner hörten wir immer wieder, daß der moderne chinesische Intellektuelle sich geistig nicht vom gewöhnlichen Landvolk lösen darf. Ich muß gestehen, daß meine Gesprächspartner auch nicht in diese Gefahr gerieten.
Sogar die Kunst wurde umgeformt. »Vor der Volksbefreiung«, erklärte der stellvertretende Direktor eines kunstgewerblichen Betriebs, »gab es in China keine Kunst.« Das überraschte uns, er aber bestand trotzdem darauf. »Seit der Volksbefreiung«, sagte der moderne Kunsthändler, »sind Reproduktionen so gut wie Originale.« Wahrscheinlich.
Am schlimmsten ist die grenzenlose Selbstgerechtigkeit. Eines Tages unterhielten wir uns in gehobener Stimmung (falls das in China überhaupt vorstellbar ist) über den wild wuchernden Papierkrieg und die Bürokratie. »Ihr Chinesen«, bemerkte ich scherzend, »seid daran nicht ganz schuldlos. Ihr habt sowohl das Papier als auch die Bürokratie erfunden.«
Gewiß habe es vor der Volksbefreiung, bekannte der Intellektuelle, eine Bürokratie gegeben. Aber seither nicht mehr.
»Nicht mehr?« fragten wir arglos. Die Bürokratie und alle damit verbundenen Mißstände seien über Nacht verschwunden, hörten wir, zurückgeblieben sei nur eine gut geölte Maschine sozialer Gerechtigkeit.
Wir bohrten noch weiter. Nehmen wir an, ein Ausnahmefall sollte eintreten und ein Bauer sich in seinem Recht durch einen Bürokraten verletzt fühlen. Was könnte er tun?
Er brauche sich nur zu beschweren, dann würde sofort Abhilfe geschaffen; An wen könnte er sich wenden? Natürlich an den Beamten selbst. Wenn der aber die Kritik übelnähme?
»Seit der Volksbefreiung sind unsere Beamten an Kritik interessiert. Sie fordern dazu auf. Sie üben Selbstkritik. Wir alle üben Selbstkritik. Nach Ansicht des Vorsitzenden Mao ist die Selbstkritik so notwendig wie das tägliche Waschen am Morgen.«
Mein englischer Reisegefährte bemerkte bescheiden, daß Selbstkritik nicht so ganz einfach sei. »Ich selbst finde mich schwer mit einer Kritik ab, vor allem, wenn es sich um eine inhaltsschwere Kritik handelt, die mich zum Nachdenken zwingt.« Der Chinese sah uns fast mitleidig an.
Weil wir Kapitalisten seien, fänden wir das schwierig, meinte er, aber Kommunisten seien zu ihrem eigenen Vorteil vorurteilsfrei. »Das kommt natürlich vom Unterschied unserer Gesellschaftssysteme.«
»Das kommt natürlich vom Gesellschaftssystem ... ist eine weitere Phrase im chinesischen Propaganda -Katalog. In Rotchina ist alles auf natürliche Art wahr und recht. Es gibt keinen Grund zur Fragestellung, keinen Grund zur Polemik, keine Möglichkeit einer Argumentation. Das kommunistische Gesellschaftssystem, das immer recht hat, bringt dialektisch richtige Handlungen und richtige Doktrinen hervor. Gleicherweise bringt das kapitalistische System, das immer unrecht hat, falsche Doktrinen hervor.
So hielten indoktrinierte chinesische »Intellektuelle«, die nie aus ihrem Land herausgekommen waren, Fachvorträge über England. Jede andere Meinung wurde mit der Standard-Formel abgetan: »Es muß so sein, es ist eine notwendige Folge des Gesellschaftssystems.«
»Wollen sie England wirklich verstehen?«, fragten wir uns oft. Denn der Zweck unseres Besuches war die Vertiefung des »anglo-chinesischen Verständnisses«. Aber die Antwort wareinfach: nein. Warum sollten sie auch? Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist ihnen England gleichgültig. Sie wollen lediglich technischen Rat von uns, die Errungenschaft unserer kapitalistischen Geschichte. Aber dieses Ergebnis wollen sie ohne die Ideen und die Erfahrungen haben, aus denen es ursprünglich kam.
Sie wollen auch die englische Sprache haben. Aber auch sie muß von englischem Gedankengut und englischer Erfahrung gereinigt sein. In England lehren wir Fremdsprachen als untrennbaren Teil ausländischer Kulturen. Die Chinesen wollen keine derartige Verunreinigung. Ebenso wie ihre eigene Geschichte von möglicherweise verführerischem Gedankengut gesäubert worden war, ebenso wie die bildenden Künste und die Religion unter dem Titel »kulturelle Relikte« oder »Aberglaube« sterilisiert oder reinfach der »Klugheit der arbeitenden Menschen« zugeschrieben wurden, so wurde auch die englische Sprache sorgfältig vom englischen Ideengut getrennt.
Den Chinesen ist sie nicht ein Hilfsmittel, um Zugang zu englischer Literatur oder englischen Ideen zu finden. Sie ist ein Zweckmittel, um in den Besitz englischer Werkzeugmaschinen zu kommen und um Indern und Afrikanern kommunistische Propaganda zu predigen.
Aber wenn die Chinesen uns nicht verstehen wollen, wollen oder müssen wir sie verstehen?
Gewiß. China ist die älteste und größte Zivilisation Asiens. Nach zwei Jahrhunderten der Erniedrigung wurde China eine neue Nation, eine Großmacht der Zukunft, 700 Millionen Menschen stark.
Weder in der Geschichte noch in der Politik kann China beiseite geschoben werden. Allzuoft betrachten wir es wegen der großen Entfernung als abstraktes Gebilde: als Beispiel für extremen, kompromißlosen Kommunismus - eine sehr ferne Vergrößerung von Albanien.
Tatsächlich ist und war China immer eine riesige, vielschichtige Gesellschaft. Seine Faszination liegt heute darin, daß es eine Revolution durchgemacht hat, die zumindest eine Zeitlang seine Geschichte umgekehrt und seine alten Werte umgestoßen zu haben scheint. Damit wurde aber auch seine alte Kraft regeneriert.
Die Gründlichkeit der chinesischen Revolution macht bedenklich. Auch andere Länder haben Revolutionen durchgemacht, aber keine war so spektakulär wie diese. Hier ist oder scheint der Bruch mit der Vergangenheit vollkommen. In anderen Ländern überleben alte Traditionen zuweilen die Revolution. In Rußland zum Beispiel verbindet eine Traditions-Tyrannei die Bolschewiken mit den Zaren. In Deutschland verband Hitler eine Militär-Tradition mit Preußen. Aber in China treten die Bindeglieder weit weniger offen hervor als der Bruch.
Die alte chinesische Gesellschaft war unmilitärisch. Sie war auch tolerant, abweisend gegenüber jeder politischen Doktrin. Die Charakteristiken ihrer Literatur und Kunst waren Skeptizismus, eine milde Selbstironie, ein humorvolles Bekenntnis zur Unwichtigkeit des Menschen und der Absurdität seiner Forderungen.
Bei Betrachtung eines klassischen chinesischen Gemäldes sehen wir die gigantischen unveränderlichen Formen der Natur, die nach oben streben, während winzige menschliche Figuren auf dem Grund des Bildes hin und her eilen.
Jetzt ist alles anders. Die neue Architektur ist megalithisch. Doktrinäre Sprüche verkünden zwingende ideologische Wahrheiten. Für Skeptizismus ist kein Platz mehr. Und in der neuen Kunst wurden Natur und Mensch umgedreht. Anstatt kaiserlicher Sänften, die durch tiefe Täler getragen werden, sehen wir athletisch gebaute chinesische Arbeiter trotzig das rote Banner auf unbezwungenen Bergspitzen aufpflanzen.
Vieles davon ist natürlich nachempfunden. Der Kommunismus ist ja immerhin ein Import-Glaube. Die anerkannten Väter der chinesischen Revolution, die Ahnherren von Parteichef Mao, sind Marx, Engels, Lenin und Stalin - insbesondere Stalin, um die »sowjetischen Revisionisten« zu reizen. Das russische Gepräge lastet schwer auf dem chinesischen Leben, russische Grimmigkeit auf chinesischer Heiterkeit.
Das ist auch unvermeidlich. Während der ersten zehn Jahre, als sie ihre Macht konsolidierte, hatte die chinesische Volksdemokratie nur Rußland als Bündnispartner. Sie war abhängig von russischen Ratgebern, russischen Technikern, russischen Modellen und russischen Maschinen. Kein Wunder, daß einige ihrer Imitationen sklavisch erscheinen: die sinnlosen Vorschriften und Verbote, die auf die Zeit der Einkreisung zurückgehen; die sozialistisch-realistische Kunst in Kitschkarten-Manier oder die Tretjakow-Galerie; die Beton-Hotels, die vor Fertigstellung zusammenstürzen.
Es wäre aber falsch, in der chinesischen Revolution nur eine Nachahmung zu sehen. Sie hat auch einen starken eigenständigen Charakter. Ihr großer Architekt, »Vorsitzender Mao«, ist ein Gelehrter von Format.
In den Revolutions-Frühtagen lehnte Mao Stalins Rat und russische Vorbilder ab. Er bestand darauf, daß selbst eine marxistische Revolution in China ihre Wurzeln in den Bauernmassen haben müsse. Und wenn Rotchina während seiner ersten zehn Jahre unter russischer Schirmherrschaft stand, so hat es seither alle Bevormundungsversuche um so entschlossener zurückgewiesen. China ist eine unabhängige Macht, die für ihre Revolution bereits einen eigenen Stammbaum fordert.
Ein Symptom dafür ist die Entdeckung eines neuen »Ahnherrn«. Vor einigen Jahren wurde der Schöpfer der chinesischen Republik, Dr. Sun Jat-sen, als »Bourgeois-Revoluzzer« verteufelt. Er war der Begründer der »reaktionären Kuomintang« und Vorgänger Tschiang Kai-scheks, er versuchte ebenso wie Tschiang, die Kommunisten vor seinen Karren zu spannen.
Aber jetzt wurde er rehabilitiert. Sein Porträt hängt neben Marx und Lenin, sein Geburtsort und sein Grabmal sind Wallfahrtsziele, und das rührende Geschenk, das ihm die russischen Bolschewiken vermachten (ein Sarg aus Glas und Stahl), ist zur allgemeinen Verehrung im »Kloster der Himmelblauen Wolken« in der Nähe von Peking ausgestellt.
Die Entwicklung ihrer Revolution als betont nationale Bewegung veranlaßt die Chinesen zu unausstehlicher Selbstgefälligkeit. Angeregt durch Marx und Lenin, haben sie die kommunistische Lehre auf ihre eigenen Verhältnisse zugeschnitten - wie sie behaupten, mit bedeutenden Änderungen und größtem Erfolg.
Sie profitierten von den Fehlern der Russen. Sie vermieden Fehler, wie etwa die Liquidierung der Kulaken in Rußland. Die Bourgeois wurden einzeln durch geschickte Gehirnwäsche gewonnen.
Aber nicht nur die Bourgeois. Der bedeutendste Prominenten-Bekehrte ist der frühere »Sohn des Himmels«, der letzte Mandschu-Kaiser von China, Pu Ji. Von den Japanern einst als Marionetten-Kaiser in Mandschukuo eingesetzt, steht er nun im Dienst der neuen Herren, in den historischen Archiven von Peking, wo er ausländischen Besuchern stolz als lebendes Beispiel kommunistischer Gnade gezeigt wird.
Ein weiterer Bekehrter ist der ehemalige amtierende Präsident des »reaktionären Kuomintang-Regimes!«, Li Tsung-jen. Seine Heimkehr aus Amerika vor einiger Zeit wurde von Peking propagandistisch groß herausgestellt.
Und wer kann eine noch spektakulärere Bekehrung in der Zukunft ausschließen? Bemerkenswerterweise wurden die Angriffe auf Tschiang Kai-schek seit kurzem völlig eingestellt. Wie es heißt, wurde ihm für den Fall, daß auch ihm die Erleuchtung käme, bedingungsloser Pardon in Aussicht gestellt.
Ein derartiger Übertritt wäre, für Peking jeden Preis wert. Tschiang würde damit den USA jede rechtliche Grundlage für eine Präsenz auf Formosa entziehen und könnte damit - wie sein Vorgänger Dr. Sun - auf Aufnahme in das neue Pantheon der chinesischen Staatsgründer hoffen:
Warum ergeben sich die alten Feinde so leicht dem Regime Maos? In erster Linie wohl wegen seiner positiven Leistungen. In Europa war der Kommunismus nur eine Klassenbewegung. Ihr Erfolg beruhte oft nur darauf, daß sie wirtschaftlichen Wohlstand (Tschechoslowakei) oder nationale Unabhängigkeit (Ungarn) zerstörte.
Aber in China ist der Kommunismus eine nationale Bewegung, die von sich behaupten kann, nicht nur die Klassenstruktur umgeworfen, sondern auch die nationale Unabhängigkeit des Landes auf einer modernen wirtschaftlichen Grundlage wiederhergestellt zu haben.
Vor 1949 war China, obgleich nominell unabhängig, tatsächlich ein Jahrhundert lang Kolonie der »imperialistischen« Mächte.
Seine Zölle, Häfen und seine größte Industriestadt waren unter Zwang an ausländische Interessenten verpachtet worden, die Randprovinzen von ausländischen Mächten besetzt. Seine politische Unabhängigkeit hatte Rest-China lediglich der gegenseitigen Eifersucht der Usurpatoren zu verdanken; sie stand jedoch auf sehr schwachen Füßen.
Schließlich begannen die Japaner, während die anderen »imperialistischen« Mächte mit sich selbst beschäftigt waren, 1937 mit der Eroberung von Rumpf-China. 1942 war fast das ganze alte Imperium Teil der japanischen Einfluß-Sphäre.
Seit 1945 hat sich das gründlich geändert. Der Umschwung ist nicht allein auf die Kommunisten zurückzuführen, sondern auch auf die westlichen Alliierten und in erster Linie auf Amerika, das Japan bezwang. Die alten westlichen Vorrechte wurden freiwillig auf Tschiang Kai-schek übertragen.
Trotzdem aber waren es die chinesischen Kommunisten, die auf dieser neuen Grundlage eine neue Gesellschaft bildeten. Ihre Revolution machte die Energie frei, die für eine Industrialisierung ohne ausländisches Kapital notwendig war. Trotz vieler Fehler im kleinen war das Programm im allgemeinen erfolgreich. Das grimmige, tüchtige und antiseptische neue China ist die erste asiatische Kolonie, die aus eigener Kraft zu einer industriellen Großmacht wurde.
Diese Leistung blieb nicht ohne Einfluß auf Kritiker des Systems. Chinesische Intellektuelle mögen die bürokratische ParteiTyrannei, das Verbot der freien Meinungsäußerung, die Bevormundung der Kunst und die Reglementierung menschlicher Kontakte bedauen. Gleichzeitig aber können sie nicht umhin anzuerkennen, daß die gleiche Partei - zu welchem Preis auch immer - die nationale Unabhängigkeit die nationale Größe und den nationalen Stolz Chinas wiederhergestellt hat.
Der gleiche Triumph, der die Kritiker zu Hause einlullt, regt im Ausland zur Nachahmung an. Die Leistung des heutigen China ist für das übrige Asien und Afrika so erregend wie jene Japans im Jahre 1904.
Japan gelang es damals als erster asiatischen Nation, durch Nachahmung und Anpassung an den europäischen Kapitalismus sich gegen europäische Machtintrigen zu behaupten.
Auf gleiche Weise ist es China nun durch Imitation und Anpassung an den europäischen Kommunismus als erstel asiatischen Nation gelungen, sich aus dem Zustand kolonialer Ausbeutung zu einer unabhängigen Industriemacht emporzuarbeiten.
Kommunismus, so erklärt Peking den Völkern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, ist nicht nur eine Revolution im
Innern - sondern auch der Schlüssel zu Freiheit, Wohlstand und Macht. Es sei daher gerade jetzt besonders betrüblich, daß die älteste kommunistische Weltmacht ihre Schwungkraft zu verlieren scheine und statt dessen die schwache Doktrin einer »Koexistenz« mit dem westlichen Kapitalismus predige, den sie einst zu vernichten versprochen hatte.
So erklärt sich chinesischer Haß auf Rußland. In allen Ausländer-Hotels lie- gen Broschüren in vielen Sprachen auf, in denen Rußland, der »sowjetische Revisionismus« und »Chruschtschows Pseudo-Kommunismus« gebrandmarkt werden, während Stalin gleichzeitig Loblieder einheimst.
Trotz verschiedener Titel haben die Propagandahefte fast alle den gleichen Inhalt: Seit dem Tode Stalins sei Rußlands Kraft im Kommunismus erlahmt, seine Politik der »Koexistenz« sei ein Verrat an der Revolution und der erste Schritt zu einer Wiederzulassung des Kapitalismus, und die aufstrebenden Nationen Asiens, die einen Vorkämpfer gegen die »amerikanische Aggression« (Vietnam) oder gegen den »Neo-Kolonial emus« (Malaysia) suchten, müßten sich nun an Peking wenden.
Rußland hat sich nach chinesischer Darstellung im eigenen Land mit dem Kapitalismus arrangiert und verfolgt diese Linie auch im Ausland. China aber wolle keinen Kompromiß. Es werde ausharren, bis alle Völker der Welt des kommunistischen Jahrtausends teilhaftig würden.
Daraus schließen viele politische Beobachter auf Aggressions-Gelüste Chinas. Dafür gibt es auch zahlreiche Hinweise: Tschou En-lais Afrika-Reise, die chinesische Intervention im indisch pakistanischen Konflikt und der jüngste Staatsstreich-Versuch in Indonesien.
Die Nachricht von diesem Coup übermittelten uns die Gastgeber - als er noch erfolgversprechend schien - in einer Art, die ihren Standpunkt klarmachte: Er sei ein chinesischer Triumph
Diese Gelegenheits-Gewaltakte werden durch ein propagandistisches Sperrfeuer gegen den »US-Imperialismus« unterstützt. Präsident Johnson wird offiziell in China als der »neue Hitler« bezeichnet.
Im ganzen Lande spielen Millionen automatisch das Echo der Stimme ihres Herrn. Volkslieder in Tibet oder Sinkiang, Gedichte für Abc-Schützen und Vorträge von Universitätsprofessoren - sie alle wiederholen die Propaganda -Phrasen, daß die Revolution auf der ganzen Welt Verbreitet werden müsse, bis die »US-imperialistische Aggression« vernichtet sei.
Auch die Kunst kann der Propaganda nicht entrinnen. In Varietés, im Zirkus und in der Oper wurde sie zum unabwendbaren Teil des Programms, Dramaturgen müssen den Kampfparolen in ihren Stücken entsprechenden Platz einräumen.
Einmal mußte ich mir eine Aufführung über den »Befreiungskampf« Im Kongo ansehen. Die Uno wurde als bloßer Deckmantel für die »US-Aggression« hingestellt. Afrikaner wurden von besoffenen Amis herumgestoßen und verprügelt, aber am Ende erhoben sie sich heroisch gegen die US-Imperialisten. In der Mitte des Stückes wurde der Mord an Patrice Lumumba angekündigt. Gleichzeitig blitzte es am Himmel, die Erde verdunkelte sich. Wie mein chinesischer Nachbar bemerkte, sei hier der Personenkult wohl etwas zu weit getrieben worden.
Zum Schluß des Stückes kam es im afrikanischen Dschungel zum Kampf zwischen Gut und Böse. Mitten in der Szene erklang aus den Wolken die Stimme von Parteichef Mao. Da reagierten die geübten chinesischen Theaterbesucher: Sie erkannten das Finale und rannten zur Garderobe.
Wie ernst muß man diese Bekenntnisse zu Welteroberungs-Plänen nehmen? Zuweilen scheinen sie bedrohlich. »Erinnert dich das nicht an Deutschland in den späten dreißiger Jahren?« fragte mich ein Freund beim Besuch eines Massen-Sportfestes im Riesenstadion von Peking.
Tausende von menschlichen Automaten machten Turnübungen nach Sprüchen auf Mao und Haß-Hymnen gegen »US-Aggressionen« und »Neo-Kolonialismus«. Der Gedanke war auch mir schon früher gekommen. Immerhin ist die Mao-Bewegung national wie auch sozialistisch, und der Personenkult wird gepflegt. »Mao Tse-tung! Mao Tse-tung!« ruft die Menge rhythmisch im Sprechchor beim Erscheinen des »Führers« Und schlitzäugige Mädchen winken ekstatisch wie deutsche Ladenmädchen auf einem Nürnberger Parteitag.
Trotz dieser oberflächlichen Ähnlichkeit stimmt die Parallele nicht. Das Grundmerkmal der Aggression fehlt. Hitler predigte nicht nur (wie Mao) körperliche Ertüchtigung und militärische Tugend, sondern er rief auch zu Eroberung und Krieg auf. Er erklärte nicht nur allgemein (wie Mao), daß seine Bewegung die Welt erobern würde - er forderte auch neue Grenzen für ein größeres Deutschland.
Trotz aller Kanzelphilippiken Rotchinas fehlt dieses konkrete Merkmal. Am Tage nach dem Massen-Sportfest, dem Nationalfeiertag, war ich auf dem Neuen Platz in Peking Zeuge einer Parade vor Parteichef Mao. Ich erwartete das Rumpeln von Panzern und Kanonen und das Donnern von Flugzeugen -Tatsächlich sah und hörte ich nichts von alledem. Als wir unsere Sitze einnahmen, war der Platz voller Schulkinder mit einheitlich gefärbten Kunstblumen in den Händen. Es sah aus wie ein riesiges Blumenfeld in voller Blütenpracht.
Dann kam vom Ost-West-Boulevard die Parade, an der eine halbe Million Menschen teilnahmen, aber auch hier fehlte militärischer Glanz, fehlten Uniformen. Statt dessen wogten Blumen über den Köpfen: ein sich bewegendes Blumenbeet, das in einer unsichtbaren Brise hin und her wogte.
Die neue Macht Chinas wurde nicht durch Panzer und Artillerie dargestellt, sondern durch gigantische Festwagen mit Modellen landwirtschaftlicher und industrieller Erfolge: Traktoren, Mähmaschinen und Bohrtürme. Und darüber nicht pfeifende Jets, sondern Ballons mit den besten Wünschen für ein langes Leben Maos. Es war eine Schau, die
Hitler oder Stalin verächtlich friedlich erschienen wäre, sie würde aber sicher den »Sohn des Himmels« in den Tagen der Ming-Dynastie entzückt haben.
Dies ist natürlich ein subjektives Urteil. Eine exakte Schlußfolgerung ist kaum möglich. In jeder Revolution sind die Triebkräfte für Macht und Aggression gefährlich nahe beieinander. Auch kommt es nicht auf Definitionen an: Des einen Aggression ist des anderen Verteidigung.
Nach meiner Meinung gibt es derzeit keine Gefahr einer rotchinesischen Aggression. Pekings Forderungen nach einer »Welteroberung« sind vorerst bloß rhetorischer Natur.
Die Tatsachen sind wichtiger als Phrasen. Obwohl die Chinesen in ihren Drohungen bis zum Äußersten gehen, sind sie in ihrer Taktik vorsichtige Opportunisten. Wenn sie auf billige Weise Vorteile gewinnen können, werden sie es zweifellos tun. Aber Opportunismus richtet sich oft auch selbst zugrunde. Für die nächste Generation hat China Viel zuviel im eigenen Lande zu tun, als daß es sich auf unwiderrufliche Abenteuer im Ausland einlassen kann.
Und wenn diese Arbeit getan ist, wird dann nicht allein die Zeit den Geist verändert haben? Fanatismus und Puritanismus werden kaum eine Generation überdauern. Und die Lehrapostel einer Generation langweilen sehr oft die nächste. Auch die Russen predigten in den zwanziger Jahren die Weltrevolution, aber ihre Revolution hat sich nun überlebt.
Wenn der Kapitalismus sich im übrigen Asien vom Geruch des »Kolonialismus« befreit haben wird, könnte es durchaus sein, daß sich in zwanzig Jahren auch die chinesische Revolution überlebt hat, daß die Geschichte wieder ihre Rechte geltend macht und daß die Koexistenz sich von einer sträflichen Irrlehre zu einem anerkannten Glaubens-Grundsatz auch in Asien entwikkelt.
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1. Mai-Parade in Peking: Ballons mit besten Wünschen
* Rechts: Verteidigungsminnister Lin Piao.
* Kolossalgemälde von einer Parteikundgebung mit Mao Tse-tung Mitte).
* Rechts: Verteidigungsminister Lin Piao