WAHLEN Aus der Ferne
WAHLEN
Die Insassen eines Altersheims im fränkischen Lichtenfels wurden von einem Stadtbediensteten großzügig mit Wahlscheinen und Stimmzetteln versorgt. Auch solche, die ihrer Wahlpflicht nicht mehr aus eigener Kraft nachkommen konnten. In diesen Fällen half dann Schwester Salvia.
In den Jura-Gemeinden Rothmannsthal, Lahm und Köttel ließen sich Bürger von Nachbarn und Bekannten die zu einer Briefwahl nötigen Papiere mitbringen. Zuweilen brachten sogar die Kandidaten während des Wahlkampfs freundlich und freimütig reichlich Wahlunterlagen unters Volk.
Im oberbayrischen Germering schließlich bestellten sich Hunderte von Wählern per Telephonanruf bei ihrer Gemeindekanzlei die nötigen Papiere für die Bürgermeister-Wahl und wurden prompt frei Haus bedient: mit Merkblatt, Stimmzettel, Siegelmarke, Wahlumschlag und Wahlbriefumschlag. Statt zur Urne mußten sie nur noch zum nächsten Briefkasten.
Seit 1957 die briefliche Abstimmung, zunächst für die Bundestagswahl, eingerichtet wurde, gewann die Wahl aus der Ferne immer mehr Anhänger. Hatten zunächst nur 4,9 Prozent von der Briefwahl Gebrauch gemacht, so stieg die Ziffer bei der Bundestagswahl 1976 auf fast elf Prozent.
Über vier Millionen Bundesbürger mieden damit das Zeremoniell der Stimmabgabe in den improvisierten Wahllokalen -- gewiß nicht nur Kranke und Gebrechliche, für die das Gesetz vornehmlich geschaffen wurde, sondern auch viele, die den durchs Gesetz postulierten triftigen Grund darin sahen, den Wahlsonntag nicht in der Nähe ihres Wahllokals, sondern irgendwo draußen zu verbringen.
Bonn etwa verzeichnete 1976 18,6 Prozent Briefwähler, Köln 17,2. Im Stadtstaat Hamburg haben bei den Bundestagswahlen 1976 über 14 Prozent per Post gewählt, doppelt so viele wie bei der Wahl zuvor.
Daß sich der Trend in der Zukunft noch fortsetzen könnte, zeigte sich bei den jüngsten Kommunalwahlen in Bayern im letzten März. Mancherorts bevorzugten schon über 30 Prozent der Wähler, so etwa in der Jura-Stadt Lichtenfels, die bequemere Stimmabgabe per Freiumschlag. An die 13 350 Wähler in Lichtenfels wurden 4137 Briefwahlunterlagen ausgegeben.
Eine solche Massierung von Briefwählern, die auch andernorts, beispielsweise in Alpentälern wie Berchtesgaden, beobachtet wurde, hat freilich auch örtlich und regional bedingte Gründe. Wegen der vielgestalteten Wahlmöglichkeiten des Panaschierens und Kumulierens hei der bayrischen Kommunalwahl brauchen auch geübte Wähler oft eine Viertelstunde, um die fast plakatgroßen Stimmzettel auszufüllen.
In Lichtenfels zum Beispiel war in vier gleichzeitigen Wahlen (Landrat, Kreistag, Bürgermeister, Stadtrat) auf bis zu fünf verschiedenen Listen aus nahezu fünfhundert Kandidaten zu wählen. So etwas machen viele Wähler lieber zu Hause am Familientisch. Und Ungeübte lassen sich da wohl auch mal zur Hand gehen.
Eine »Beeinträchtigung des Wahlgeheimnisses« und eine »Verdunkelung des Wahlergebnisses« sieht denn auch der örtliche Landtagsabgeordnete Karl Otto Schuhmann (SPD) bei einem so »überaus hohen Anteil von Briefwählern«.
Jedenfalls scheinen die Bequemlichkeiten der Briefwahl auch die Schlampereien zu fördern. Eine Überprüfung der Lichtenfelser Wahl ergab eine massive Mißachtung der bei der Briefwahl naturgemäß komplizierten Formalien: 107 Wahlberechtigungskarten trugen keine Unterschrift, 629 Benachrichtigungskarten wurden von wildfremden Personen ohne Vollmacht unterschrieben, auf 1350 Karten wurde der Grund der Abwesenheit nicht glaubhaft gemacht, 29 waren falsch unterschrieben.
Nach Abzug der ungültigen und zweifelhaften Briefwahlstimmen hatte der Lichtenfelser Bürgermeister Günther Hauptmann (CSU) nach den Berechnungen des Landratsamts nur noch »einen zwar knappen, aber klaren Stimmenvorsprung von zehn Stimmen«. Während sich das Lichtenfelser Landratsamt auf weitere »Phantasieerwägungen und Vermutungen« nicht einlassen mochte, setzte das für Germering zuständige Landratsamt Fürstenfeldbruck eine Neuwahl an, weil die Zahl der dort beanstandeten Briefwähler mit 541 höher liegt als der Vorsprung von 532 Stimmen des gewählten Bürgermeisters Rudolf Bay.
Die vielen Briefwähler, die knappen Mehrheiten und merkwürdigen Verirrungen hei der Briefwahl haben unlängst den aus dem bayrischen Nördlingen stammenden SPD-Bundestagsabgeordneten Axel Wernitz, Vorsitzender des Innenausschusses im Bundestag, veranlaßt, den bayrischen Innenminister Alfred Seidl aufzufordern. »hier rechtzeitig einer bedenklichen Entwicklung entgegenzutreten«.
Minister Seidl bestätigt in seinem Antwortschreiben die »ungewöhnlich hohe Zahl« von Briefwählern und teilt sogar mit dem SPD-Abgeordneten die »Sorge, daß bei einer Fortsetzung der sieh gegenwärtig abzeichnenden Tendenz zur vermehrten Briefwahl ... eine Verlegung des Wahlvorgangs in die Privatsphäre« eintreten könne. Eine solche »Privatisierung des Wahlvorgangs kollidiere aber mit dem Verfassungsgrundsatz einer geheimen Wahl.
In Bayern wurden die Zügel bereits wieder angezogen. Nach einer Neufassung der Landeswahlordnung, die Ende Juli veröffentlicht wurde, dürfen künftig nur noch die betroffenen Wähler selbst oder nahe Familienangehörige die Briefwahlunterlagen anfordern und abholen. Allzusehr möchte aber auch Bayern den Trend zur Briefwahl nicht bremsen. Innenministeriumssprecher Frieling: »Wir wollen auf keinen Fall übergroße Barrieren aufbauen« -- aus gutem Grund: Die Briefwähler bevorzugen erfahrungsgemäß die Unionsparteien. Bei den letzten Bundestagswahlen etwa entfielen 53 Prozent der gültigen Zweitstimmen aus der Briefwahl auf die CDU/CSU und nur 45,8 Prozent auf die Bonner Koalitionspartner.
Als Innenminister Alfred Seidl in einer der jüngsten Fragestunden im Landtag bezüglich solcher Präferenzen antwortete, ihm seien »keine »Tatsachen« bekannt, »die einen solchen Schluß zulassen«, erntete er sogar »Heiterkeit bei der CSU«.