NSU-MOTORRÄDER Aus Titos Fabrik
In aller Stille hat der Vorstand der NSU Motorenwerke AG, der zu unkonventionellen Geschäften neigt, kurz vor Jahresende eine handfeste Überraschung produziert.
Die Firma arrangierte sich mit einem neuen Geschäftspartner: Marschall Tito. Oder wenn man es anonym ausdrücken will: mit der von Tito repräsentierten jugoslawischen Staatsmacht. Ihr hat die Gesellschaft die Lizenzen und Spezialeinrichtungen zur Herstellung von NSU -Motorrädern und -Motorrollern verkauft.
Vor kurzem wurden die freiwillig demontierten Werkzeugmaschinen aus der NSU-Stadt Neckarsulm nach Sarajewo transportiert, wo sie zur Zeit in dem staatlichen Musterbetrieb Pretis wieder aufgebaut werden. Im nächsten Jahr soll Titos Industriewerk die ersten NSU-Maschinen als hundertprozentig jugoslawische Produkte herausbringen.
»Wir mußten einfach die Dinger abgeben«, so erklärt NSU-Chef Dr. Gerd Stieler von Heydekampf die Demontage, »weil wir in den Werkhallen dringend Platz und auch die Facharbeiter so notwendig brauchen.«
Schon im Frühjahr hatte die Geschäftsleitung ihre Fahrradabteilung an die Heidemann-Werke in Einbeck verkauft, um die einträglichere Automobilproduktion auf täglich 330 Kleinwagen vom Typ »Prinz« ausweiten zu können. Nach dem Abbau der Motorradsparte will der NSU -Manager die Prinzen -Fertigung auf etwa 450 pro Tag erhöhen.
Der Abschied von der 78jährigen Zweiradtradition fiel ihm nicht besonders schwer, obwohl er gern Triumphe
gefeiert hatte, wenn die NSU-Rennfahrer über gefährliche Pisten hetzten. Der Vorstand verteilte erst kürzlich noch Siegerpokale an die Motorrad -Straßen- und -Geländemeister, die mit NSU-Maschinen Höchstleistungen erzielt hatten. Aber für den kaufmännischen Direktor hatten die Motorräder schon lange kaum noch Luft in den Schläuchen.
Die Konjunktur endete, als sie für andere Branchen erst begann: 1955. In diesem Rekordjahr liefen in den Neckarsulmer Werkhallen 296 636 Krafträder vom Band - mehr als ein Viertel aller einspurigen Motorvehikel, die damals die bundesdeutsche Zweiradindustrie herstellte und flott verkaufte. Die Lager leerten sich in wenigen Monaten.
Aber schon im darauffolgenden Jahr sanken die Umsätze - fast im gleichen Maße, wie das Masseneinkommen anstieg. Als die Industriearbeiter und kleinen Gewerbetreibenden mehr Geld verdienten, stellten die meisten ihre Knattermaschinen in die Ecke und sahen sich zunächst nach Kleinwagen um, die ihnen Neulinge der Automobilbranche anboten, wie der niederbayrische Tüftler Hans Glas mit seinem Goggomobil.
Die Zweiradfabrikanten gaben sich allerdings große Mühe, neue Kunden unter den jüngeren Bundesbürgern zu werben, indem sie schnittige Motorroller herausbrachten und das Fahrrad in gefälliger Form zum Moped ausbauten, das jahrelang ohne Führerschein betrieben werden durfte.
Um diese Maschinchen auch im Ausland absetzen zu können, reiste NSU -Chef von Heydekampf mehrmals um die Welt. Er bevorzugte besonders die Länder auf der Schattenseite der Prosperität, in denen Motorräder und sogar Fahrräder noch sehr- begehrt sind.
Auf dieser Suche nach neuen Exportmärkten fuhr der adlige Manager 1956 zum erstenmal ins kommunistische Jugoslawien, von dem Titos ehemaliger Kampfgefährte und Stellvertreter Milovan Djilas in seinem Buch »Die neue Klasse« geschrieben hatte: »Nach offiziellen Statistiken ist der Lebensstandard der Arbeiter und Angestellten niedriger als vor dem Zweiten Weltkrieg, als Jugoslawien ein unterentwickeltes kapitalistisches Land war.«
Zehn Jahre lang hatten die Titoisten ihr Land industrialisiert. Die neuen Fabriken erzeugten jedoch zu wenig brauchbare Konsumgüter, und das Warensortiment hielt sich in sehr engen Grenzen. Als der NSU-Handelsmissionar den Staatsfunktionären vorschlug, Krafträder in Jugoslawien montieren zu lassen, griffen sie begeistert zu und stellten dafür ihren modernen Metallverarbeitungsbetrieb Pretis (NSU -Pressechef Westrup: »Eine Fabrik im KdF-Stil") zur Verfügung.
NSU schickte Fachkräfte nach Sarajewo und die Pretis-Direktion Arbeiter zur Ausbildung nach Neckarsulm. Heydekampf: »Auf diese Weise konnten wir eine exakte Qualitätskontrolle ausüben und mittlerweile einen ordentlichen Facharbeiterstamm ausbilden, der immer besser wurde.«
Auf der Achse Neckarsulm - Sarajewo rotierte ein munteres Lizenzgeschäft, das sich allerdings nicht in direktem Zahlungsverkehr ausmünzte. Wegen Devisenschwierigkeiten konnte oder wollte die Belgrader Außenhandelszentrale nicht bar zahlen, sondern mit Dienstleistungen. Man handelte einen Modus aus, der sich gut bewährte: Pretis betätigt sich als Zulieferant und stellt unkomplizierte Einzelteile für die NSU-Automobile - wie Rohrelemente für das Fahrgestell und Stabilisatoren - her, die mit den Forderungen aus Neckarsulm verrechnet werden. (Auch der Kaufpreis für die Motorrad-Produktionseinrichtungen soll auf ähnliche Weise abgerechnet werden.)
Jahrelang sprach der NSU-Vorstand nicht gern von dieser engen Kooperation. Er fürchtete, voreingenommene deutsche Kunden könnten vom Kauf des Wagens zurückschrecken, wenn sie erführen, daß Bestandteile in einem Lande gefertigt werden, dessen junge Industrie nach westlichem Urteil noch keine erstklassigen Qualitätsleistungen hervorbringt.
Der erste Automobiltyp aus der traditionellen Zweiradfabrik war ohnehin nicht ganz leicht an den Start zu bringen, denn wie der NSU-Chef hatten sich auch andere Manager während der Zweiraddämmerung auf das Eis der Kleinwagenproduktion begeben.
1958 war der NSU-»Prinz« erst mit 27 Prozent am Gesamtumsatz der Gesellschaft beteiligt. Dann kam der wendige Vierrad-Sprößling stärker in Fahrt, aber die Gesellschaft war noch lange auf die Zweirad-Einnahmen angewiesen.
Vergeblich hoffte der Verband der Fahrrad- und Motorrad-Industrie e.V., in dessen Vorstand der NSU-Chef noch heute Primus ist, daß »einmal die Prestigebewertung der Fahrzeuge nüchternen Überlegungen Platz macht. Das Stöhnen über verstopfte Straßen und der zum Wunschtraum gewordene freie Parkplatz sind auch bei uns allgemein vorhanden. Das Zweirad hat hier eine echte volkswirtschaftliche Aufgabe«.
Auch die Gesundheitspropaganda der Fahrradindustrie ("Wer die Pedale tritt, bekämpft den Herzinfarkt") zog im Zeitalter der zunehmenden Bequemlichkeit kaum mehr Kunden in die Zweiradläden.
Am stärksten fielen die Motorroller zurück; in diesem Jahr wurden in der Bundesrepublik nur noch 7000 hergestellt.
Deprimiert von dieser anhaltenden Absatzkrise, gaben immer mehr Fabrikanten das Rennen auf und überließen das Feld einem halben Dutzend mittlerer Unternehmen, an der Spitze Zündapp, Hercules, BMW und die Zweirad Union (DKW, Victoria und Express).
NSU, einst »größte Zweiradfirma der Welt«, zog sich freiwillig aus dem Konkurrenzkampf zurück, nachdem es dem Werk gelungen war, den »Prinz« mit weiteren Variationen populär zu machen und gegenüber gleichgearteten Fahrzeugen durchzusetzen. In diesem Jahr präsentierte NSU einen schnittigen Ein -Liter-Wagen (5490 Mark), mit dem das Werk alle bisherigen Prinz-Fahrer bei der Stange halten will. Sie sollen nicht zu Opel oder Ford überlaufen, wenn sie beim Neukauf einen komfortableren und schnelleren Wagen wünschen.
Mit dieser elastischen Geschäftspolitik konnte die Neckarsulmer Prinzen -Garde ihren Umsatz seit 1958 verdoppeln (1963: rund 300 Millionen Mark); etwa 80 Prozent kamen aus dem Automobilverkauf. Trotz dieser eindeutigen Gewichtsverlagerung hat NSU die alte Flagge noch nicht ganz eingezogen.
Nicht demontiert wurde bisher die Produktionsanlage für Mopeds und deren verbesserte Version, die sogenannten Mokicks, die wie Motorräder mit Kickstartern ausgerüstet sind und bei den Halbwüchsigen großen Anklang fanden. Die Händler führen auch noch alle gängigen NSU-Motorradtypen, denn das Werk hat noch mindestens eine Jahresreserve auf Lager.
Erst wenn sie verbraucht ist, wollen die Neckarsulmer ihre eigene Marke aus Jugoslawien importieren und Liebhabern anbieten.
NSU-Chef v. Heydekampf (v.) Motorradproduktion beendet