Ausbruch in Berlin: »Das ist eine Riesensache«
Nachts gegen drei Uhr meldete der wachhabende Beamte aus dem Lagezentrum des Justizministeriums seinem Staatssekretär Günther Erkel: Vier Terroristinnen sind aus dem Berliner Frauengefängnis Lehrter Straße ausgebrochen. »Ich bin bald aus dem Bett gefallen«, schildert der so jäh Geweckte seinen ersten Schock,
Etwa sechs Stunden später, am vergangenen Mittwoch gegen neun Uhr, berichtete der Justizstaatssekretär der Kabinettsrunde, die sich zum erstenmal im neuen Bonner Kanzleramt versammelt hatte, was er inzwischen von dem verantwortlichen Berliner Justizsenator Hermann Oxfort am Telephon erfahren hatte. Die vier Frauen. darunter auch Inge Viett, die auf der Liste der
Flugzeugentführer von Entebbe stand, hatten auf bislang ungeklärte Weise ihre Zellen verlassen, zwei Wärterinnen überwältigt, sich an Bettlaken abgeseilt und waren spurlos verschwunden. Bundeskanzler Helmut Schmidt konnte seine Erregung- nur mühsam zügeln »Das ist eine Riesensache«, stöhnte er.
Der Ausbruch der Frauen trifft die sozialliberale Koalition im Nerv. Denn gerade auf dem Feld der inneren Sicherheit ist es Schmidt und seinem FDP-Innenminister Werner Maihofer, wie der Regierungschef am vergangenen Montag einer Vorlage seines Presseamtes entnehmen konnte, nicht gelungen, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Drei Monate vor der Bundestagswahl rangiert bei den Bürgern nach den jüngsten Umfragen die Unzufriedenheit über die Bilanz der Regierung im Kampf für Ruhe und Ordnung noch immer an erster Stelle.
Dabei konnte Schmidt das traditionelle Mißtrauen gerade gegenüber dem sozialdemokratischen Engagement für Law and order zunächst ein wenig abbauen. Sein entschiedenes Nein zu den Forderungen der Anarchisten, die im Frühjahr 1975 die deutsche Botschaft in Stockholm überfallen und den Botschafter samt Personal als Geiseln festgehalten hatten, brachte ihm Pluspunkte ein. Sein Taktieren bei der Entführungsaktion von Entebbe, so hofften Regierungsgehilfen, käme ebenfalls der Koalition zugute.
Diese Rechnung, für den Wahlausgang von erheblicher Bedeutung, geht seit der Berliner Blamage nicht mehr auf. »Auch wir haben die klare Erkenntnis«, gab Regierungssprecher Klaus Bölling zu, »daß die Opposition ihr Thema gefunden hat.«
Obwohl den Bund keine unmittelbare Verantwortung für den Ausbruch der Häftlinge trifft, weil die Länder ihre Kriminellen in eigener Regie verwahren, fällt es der Opposition leicht, die Bundesregierung in die peinliche Affäre hineinzuziehen. Die CDU/CSU kann die Sorge der Bürger schüren. die Sozialliberalen vernachlässigten die primitivsten Sicherungsmaßnahmen gegenüber Politverbrechern. Sie seien allzu verständnisvoll gegenüber gefährlichen Gesellschaftsveränderern. Der unmittelbar verantwortliche Justizsenator -- Hermann Oxfort war schließlich ein FDP-Mann. »Unglaublich«, erregt sich Parteifreund Gerhart Baum, Staatssekretär in Maihofers Innenministerium, »unter Einsatz von Millionen sind diese Leute gefaßt worden, und dann das.«
Hinzu kommt die Sorge von Innenminister Maihofer, daß die Niederlage der Terroristen in Entebbe nicht unbedingt abschreckend wirkt. Die Folge könnte ebensogut eine Serie von Racheakten sein, die gerade auch die Bundesrepublik trifft, weil die Sympathisanten der Entführer Bonn für ihre schmähliche Niederlage in Uganda mitverantwortlich machen. Wird Westdeutschland aber von einer neuen Terrorwelle heimgesucht, muß das Vertrauen zur SPD/FDP-Regierung weiter erschüttert werden.
Die Sorgen des für die Sicherheit zuständigen Bundesministers plagen auch die Staatsschützer in der Republik. Jetzt, so beurteilen sie die Lage, machen die Terroristen mobil. Im Bundestagswahlkampf sei mit »Aktionen neuer Qualität« zu rechnen. In einer »Doppelstrategie der Gleichzeitigkeit« werden nach den Befürchtungen hoher Kriminalbeamter und Verfassungsschützer neben Geiselnahmen nun auch -- an ausländischen Guerilla-Praktiken orientiert -- »Funktionäre und Büttel des Systems einfach abgeknallt«, Minister nicht ausgenommen.
Immer internationaler werden die Kommandos, die Schauplätze und die Opfer, lauten die Erkenntnisse -- und: Der Handstreich von Entebbe könne leicht zu weiterer »Militarisierung« und »Brutalisierung« terroristischer Aktionen führen. Anders als zu Zeiten der Baader-Meinhofs als das System nicht nur zerbombt, sondern auch mit breiter Theorie-Diskussion verändert werden sollte, kämpft die neue Terror-Generation, so die Ermittler, »nicht mehr für, sondern nur noch gegen etwas«.
Mit ihrer minuziös vorbereiteten Strafexpedition haben die Israelis ein -- wenn auch brutales -- Beispiel erfolgreicher Terroristenbekämpfung vorexerziert. Dagegen erscheint die Selbstbefreiung der Anarchistinnen in Berlin als Muster schlimmster Schlamperei im deutschen Strafvollzug.
Hatten die Israelis die Bundesrepublik aus der Verlegenheit befreit, der Forderung nach Herausgabe von sechs inhaftierten Terroristen schließlich doch nachgeben zu müssen, so ist nachträglich, wenn auch unfreiwillig, das Verlangen nach Freilassung von Inge Viett erfüllt worden. »Zu einem blamableren Zeitpunkt hätte der Skandal nicht passieren können«, höhnt die österreichische »Neue Kronen-Zeitung«. »Während die ganze Welt vor den Israelis Respekt zeigt, ernten die Deutschen höchstens Spott und Kritik.«
Mühsam genug war es vorletzte Woche dem Kanzler gelungen, sich wenigstens nach außen unnachgiebig gegenüber den Erpressern von Entebbe zu zeigen. Und nach dem geglückten Coup Israels suchte er gar in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, als oh er nie und nimmer, auch auf Kosten aller Geiseln, zum Nachgeben bereit gewesen wäre. Damit versuchte sich die Bundesregierung an die Erfolge anderer anzuhängen und davon zu profitieren. »Der Erfolg gibt allen recht«, so sinniert Justizstaatssekretär Erkel, »und hat viele Väter.«
Tatsächlich hatte das Bundeskabinett am Dienstag vorletzter Woche, unmittelbar nach Bekanntwerden der Entführer-Forderung eine harte Linie vorprogrammiert -- im Vertrauen darauf, daß Jerusalem sich ebenfalls nicht erweichen lassen werde. Als die Israelis jedoch am Donnerstag Verhandlungsbereitschaft erkennen ließen, geriet die Bonner Front ins Wanken.
Die Krisenplaner am Rhein rätselten, ob die neue Lage einen militärischen Handstreich ankündigte oder ob sie nur Zeitgewinn für das Aushandeln einer Kompromißlösung mit den Terroristen bringen sollte. Der Brief von Außenminister Jigal Allon an seinen deutschen Kollegen Hans-Dietrich Genscher brachte keine Klarheit (siehe Seite 84). Allon hatte mitgeteilt: »Wir verfolgen weiter unsere Haltung, daß das Problem ein exklusiv israelisches Problem ist.« Der Kanzler nach der Lektüre: »Kryptisch.« Eine militärische Aktion Israels aber hielt der einstige Bundesverteidigungsminister für unmöglich.
Der Krisenstab in Maihofers Innenministerium einigte sich dann auf ein für Bonn höchst vorteilhafte Analyse Danach konnten die Verhandlungen zwischen Israelis und Terroristen zu keinem guten Ende führen. Jerusalem. -- so trug Maihofer im Kabinett vor, sei auf keinen Fall bereit, den harten Kern der in israelischen Gefängnissen einsitzenden Terroristen herauszugeben. Darauf aber könnten sich die Geiselnehmer auf keinen Fall einlassen.
Die Bonner Regenten kalkulierten also ein Massaker durchaus ein, dessen Verantwortung freilich die Israelis getroffen hätte, weil sie die Konditionen nicht erfüllten. Über eine andere denkbare Alternative, einen Deal, wonach die Freiheit der Geiseln nach einer Freilassung aller israelischen Gefangenen nur noch von der Freigabe der deutschen Häftlinge abhängig war, mochten die Bonner nicht nachdenken. Sie paßte nicht ins Härtekonzept.
Döntjes um Bonnies und Bunnies.
Ein Kabinettsmitglied: »Wir diskutieren nicht über eine irreale Situation. Real war nur eine Eskalation, das heißt Erschießung von Geiseln. Dann galt es. neu nachzudenken.« Hätten die Israelis schließlich doch sämtliche Gefangenen freigelassen, hätte auch die Bundesregierung nicht länger Härte zeigen können.
Zusätzlich in die Defensive geriet die Bonner Koalition nach dem Ausbruch in Berlin. In den freien Teil der Stadt abgeseilt hatten sich ausgerechnet vier Gefangene, die von Staatsschützern als »besonders gefährlich« charakterisiert werden:
* die 32jährige Kindergärtnerin Inge Viett, der unter anderem die Teilnahme an Banküberfällen und der Lorenz-Entführung vorgeworfen wird;
* die 26jährige Gabriele Rollnick, zuletzt Soziologiestudentin und von der Polizei ebenfalls zu den Lorenz-Entführern gerechnet;
* die 33jährige Juristin Monika Berberich, 1974 als Bankräuberin und Mitglied einer kriminellen Vereinigung zu zwölf Jahren Freiheitsentzug verurteilt;
* die 23jährige Juliane Plambeck, die zunächst nur zu den Lorenz-Entführern gezählt, neuerdings auch der Teilnahme am Drenkmann-Mord beschuldigt wurde.
Daß es nach dem Ausbruch des Berliner Damen-Quartetts prompt zu Boulevard-Schlagzeilen wie »Baader« Terror-Mädchen frei« ("Bild") kam, war kaum überraschend. Die Gleichung vom Boß und den Gespielinnen, von Abhängigkeit und Gewalt wurde zu oft schon mobilisiert, wenn es galt, den hohen Anteil der Frauen an der Anarcho-Szene zu erklären.
»Die Bande, die Bomben und die Liebe«. reimte »Quick«. Über Horst Mahler und seine zahlreichen Adeptinnen scherzte »Konkret": »Sehr viele Bonnies und ein Clyde«. »Bild« schließlich konnte das Zeugnis eines Sexualforschers namens Dr. Wilfried Dogs präsentieren: »Sobald ein Mensch die Bindungen an die Gesellschaft zerreißt ... steigert sich seine Sexualität ins Ungewöhnliche -- ja direkt in die Perversion.«
Solche Döntjes um Bonnies und Bunnies gewichten wohl nur unvollkommen, daß sich dort, wo Guerillas am aktivsten wurden, in der Tat eine ungewöhnliche Anzahl weiblicher Idole einen Namen gemacht haben, und nicht nur auf bundesdeutscher Ebene.
Emanzipation »mit der Waffe in der Hand«.
In der durch zahlreiche Genossen-Liquidierungen bekanntgewordenen »Roten Armee Japan« hat als gefürchtete Chefin Fusako Shigenobu Schießen und Sagen. Von der palästinensischen Luftpiratin Leila Chalid, die noch bei ihrer Gefangennahme, in Reiseflughöhe, eine Handgranate zu zünden versuchte, bis zur Wortführerin in Entebbe, die jüdische Geiseln als »nazistisch«-brutal schildern -- immer wieder hatten Frauen die Hand am Drücker, immer wieder auch drückten sie ab.
Zwei Morde beim Wiener Opec-Überfall gehen vermutlich auf das Konto des einzigen weiblichen Kommandomitglieds Gabriele Kröcher-Tiedemann. Und als kürzlich in Berlin die »Hinrichtung« des Ulrich Schmücker ihr gerichtliches Nachspiel hatte, bekam Ilse Jandt, 38, lebenslang wegen Mord.
Kriminologen und Psychologen rätseln. was diese Frauen treibt, so handgreiflich aus der Rolle zu fallen. Für den ehemaligen Verfassungsschutzchef Günther Nollau ist »irgendwas Irrationales in dieser ganzen Sache«. Vielleicht, meint Nollau, ist das »ein Exzeß der Befreiung der Frau«.
Das Beispiel Ulrike Meinhofs könnte ein Hinweis in diese Richtung sein: Für die RAF-Ideologin war eines der bekämpfenswerten Prinzipien in der westlichen Gesellschaft die »Spaltung des
* Überfall auf die Opec. Konferenz (o. l.): bei der Festnahme (u).
Volks in Männer und Frauen«. Und »nur mit einer Waffe in der Hand«, glaubt der Psychoanalytiker Friedrich Hacker, hätten sich die weiblichen Gruppenmitglieder die Vorstellung verwirklichen können, »gänzlich emanzipierte Frauen« zu sein.
Romantisches Amazonen-Verständnis von der Waffengleichheit der Geschlechter auch im Untergrund -- das bezeugt ein einstiges BM-Mädchen, die freiwillig aus RAF-Kreisen geschiedene Beate Sturm:
Eins fand ich damals Klasse: daß man als Frau wirklich emanzipiert war, daß man manche Sache einfach besser konnte als die Männer. Wir haben uns einfach stärker gefühlt. Zum Beispiel: Wir hatten weniger Angst als die.
Dergleichen mag beigetragen haben. daß linksaußen im Untergrund die Tendenzwende um die weibliche Rolle Tempo bekam. Hans Werner Hamacher, Präsident des Düsseldorfer Landeskriminalamts« vermerkte schon zu den Studentenunruhen der späten Sechziger: »Die Frauen waren viel aktiver als die Männer. Sie agierten in der ersten Reihe der Demonstranten als Prellbock.«
Die Ausbrecherinnen von Berlin dürfen sich getrost zum wirklich harten Kern zählen, allen voran Inge Viett. nach Fahnder-Erkenntnissen die Entschlossenste innerhalb des rabiaten Kränzchens.
Im Schmücker-Prozeß hatte die Viett kühl den Mord gerechtfertigt. Bestückt mit Honda und Beretta, galt sie als Aktivistin in der »Bewegung 2. Juni«.
Eine ähnlich markante Figur in der Anarcho-Szene war bis zu ihrer Verhaftung Monika Berberich. Unter Anleitung des Rechtsanwalts Horst Mahler praktizierte sie erst als Referendarin, später beim Bankraub. Sie wurde bereits im Oktober 1970 zusammen mit Mahler sowie den Baader-Befreierinnen Irene Goergens und Ingrid Schubert verhaftet.
Die beiden anderen aus der Lehrter Straße waren, bislang weitaus weniger prominent, ihren Genossinnen vielfältig verbunden. Juliane Plambeck und Gabriele Rollnick werden ebenfalls dem »2. Juni« zugerechnet. Die Rollnick wird von Berliner Fahndern ganz dicht am »Kopf« angesiedelt (sie wurde im letzten September zusammen mit Fritz Teufel gefaßt). Die Plambeck, so schien es lange Zeit, diente mehr bei der Logistik.
Bevor letzte Woche ihr Haftbefehl auf Mordvorwurf ausgedehnt wurde, lag kaum mehr gegen Juliane Plambeck vor als eine Reihe von Widerstandsdelikten. Waffenbesitz und der Verdacht, zu den Lorenz-Entführern zu gehören. Erste Zweifel am Randfiguren-Status der Juliane Plambeck hatte freilich im letzten Dezember die Entdeckung eines Ausbruchsversuchs gestiftet, den sie zusammen mit Inge Viett betrieben hatte.
»Wenn ihr spurt, passiert euch nichts.«
Als in der Nacht zum Mittwoch vergangener Woche, 2.01 Uhr, in der Funkbetriebszentrale der Berliner Polizei die Alarmglocke schrillte, als Minuten später drei Streifenwagen noch auf dem Weg zur Frauenstrafanstalt Lehrter Straße in stählernen Krähenfüßen steckenblieben -- da war Eile längst nicht mehr geboten, da wirkte der Einsatz nur mehr täppisch. Dreiviertel Stunde vorher schon hatten die vier Insassinnen das Weite gefunden.
Unterstützt worden waren sie von Helfern draußen, womöglich auch von drinnen. Dank eigener Kraft hatten sie sich abgeseilt »mittels zusammengeknoteter Bettlaken von der die Haftanstalt umgebenden Mauerkrone« (Polizei-Erkenntnis).
»Die ganze Situation in dieser Nacht« bekundete im nachhinein eine Bedienstete, sei ihr »unheimlich
vorgekommen Schritte auf dem Flur, vier Selbstmordverdächtige auf zwei Stationen; nur bei den Polit-Häftlingen schien es ruhig.
Monika Berberich und Inge Viett waren um 18 Uhr, Gabriele Rollnick und Juliane Plambeck vier Stunden später in ihren Zellen eingeschlossen worden. Um 22.30 Uhr übernahm »die kleine Schicht« (Justiz-Jargon) -- ein Beamter. drei Aufseherinnen -- die Verantwortung für 97 Inhaftierte: Drogensüchtige, Ausländerinnen in Abschiebehaft, Kindesmörderinnen, Streunerinnen und zwölf mutmaßliche Terroristinnen.
Kaum ein Laut, als sich zwei Beamtinnen, die eine seit fünf, die andere seit zwei Jahren im Vollzugsdienst, eine Stunde nach Mitternacht auf den routinemäßigen Kontrollgang machen. Eintrag ins Wachbuch: »Überwachung von zwei Suizidverdächtigen.« Kurz nach 1 Uhr betreten die Schließerinnen den U-förmigen Gang der Station 2.
Zelle 33, Insassin Viett: dunkel, die Tür verschlossen. Zelle 38, Insassin Berberich: dunkel, Tür verschlossen. Zur Zelle 43, Insassin Rollnick, und zur Zelle 47, Insassin Plambeck, kommen die Beamtinnen nicht mehr.
Hinter einer Ecke lauern im schwach beleuchteten Gang die vier Frauen auf die nur mit Schlüsseln bewaffneten Schließerinnen. Inge Viett, eine Schußwaffe -- oder eine Attrappe -- in der Hand, die anderen armiert mit Bettspiralen und Rohrstücken einer Toiletten-Leitung. Eine Beamtin schreit, wird überwältigt. Die Vier: »Macht keinen Rabatz. Wenn ihr spurt, passiert euch nichts.«
Die 38jährige Hauptwachtmeisterin und ihre 26jährige Kollegin spuren. Widerstandslos lassen sie sich in den Bibliotheksraum am Gangende führen, werden mit Damenstrümpfen und Halstüchern gefesselt, geknebelt, eingeschlossen. Die Ausbrecherinnen zwängen sich durch ein unvergittertes Oberlicht, hangeln sich an Gitterstäben bis zur Außenmauer vor, dann runter und verschwinden in einem bereitstehenden Fluchtwagen.
Binnen weniger Minuten habe sich das abgespielt, schätzt die Polizei später. Die eingesperrten Beamtinnen dagegen wurden erst 40 Minuten später entdeckt.
Der spektakulärste Häftlings-Ausbruch in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte, nach überkommener Ganoven-Manier abgewickelt (wenn die Schilderungen der Aufseherinnen zutreffen), scheint jedenfalls einwandfrei vorbereitet gewesen zu sein. Selbst mit der Psyche ihrer Wächterinnen waren die Flüchtlinge offenbar so intim, daß der Ausgang ihrer Überrumplungsaktion kaum Risiken barg.
Und so lückenlos die Außenüberwachung durch Monitore, Spiegel und Scheinwerfer zu sein schien, so exakt war die Kenntnis der Abgänger von einem trotz allem nicht einsehbaren Torwinkel. So scharf auch Zellenschlüssel in der Anstalt bewacht worden sein sollen, den Terroristinnen öffneten sich alle Türen.
Betreten schaute diesmal die Welt auf diese Stadt: Open house im fidelen Kittehen, ein Knast, aus dem eine Terroristin zum zweitenmal gar herausspazieren konnte wie »eine Pensionatsschülerin zum Kirchgang« ("Berliner Morgenpost").
Welche Schlamperei, welches menschliche Versagen, welch gerissener Trick letztlich den Coup auch ermöglicht haben mag, erleichtert hat ihn gewißlich der Zustand der Strafanstalt: Kaum ein Großstadt-Gefängnis ist weniger zur Verwahrung gefährlicher Täter geeignet als der ehemalige preußische Offiziers-Karzer im Bezirk Tiergarten. der rote Klinkerbau aus der Gründerzeit, einst Garnisons-. nach dem Krieg Frauengefängnis, verwinkelt, verschachtelt, unübersichtlich.
Demonstrativ und unbehelligt posieren inhaftierte Frauen stundenlang hinterm Gitter auf den Fenstersimsen. Nackte Beine baumeln in der Sonne. Handspiegel erleichtern den Sichtkontakt. Wer eine Botschaft oder auch Handfestes zu übergeben hat, packt"s in den Plastikbeutel am Schwingseil, das hilfreiche Hände von Zellenfenster zu Zellenfenster bis zum Adressaten pendeln.
Und wenn ein Polizist außenrum Streife geht, ruft immer mal eine: »Was macht der Bulle?« Dann kommt im Chor die Antwort: »Muh.«
Vor den Möglichkeiten im Knast an der Lehrter Straße hatten denn auch noch unlängst jene gewarnt, die heute nach den Entlaufenen suchen müssen: Berlins Staatsschützer. Am 8. März und am 7. Mai notierten die Polizisten in vertraulichen Schreiben an den Senat die Schwachpunkte der Alt-Anstalt. Dringlich baten sie, die Mängel zu beheben oder die Politgefangenen wenigstens zu verlegen: »Es ist davon auszugehen, daß diese Inhaftierten jede sich bietende Möglichkeit zur Flucht nutzen werden.«
»Das sicherste wäre, jeden zu fesseln.«
Als Sicherheitsrisiko werteten die Beamten beispielsweise
* Zellentüren und lockere Gitterstäbe. die »bei Gewaltanwendung aus ihrer Verankerung gerissen« werden könnten;
* tote Winkel im Fernseh-Überwachungs-System: »Der Außenschutz ist nur bedingt möglich bei Stand und Baulichkeit dieser Anlage«;
* den personell unzureichend besetzten Wachdienst nach 22.30 Uhr;
* die extensiven Kommunikationsmöglichkeiten der Häftlinge: Zurufe, Kassiber-Austausch, Zusammenschluß »sollten unterbunden werden
* das Fehlen eines Notstromaggregats: Bei einem absichtlich herbeigeführten Stromausfall wäre die Strafanstalt für fast dreißig Minuten völlig ohne Licht und elektronische Sicherung.
Während die nun flüchtigen Damen agierten, als hätten sie mitgelesen, blieb der Bericht weitgehend ohne Wirkung. Zwar wurde die Fenstervergitterung teilweise erneuert. Zu verschärften Haftbedingungen indes mochte sich die Justiz nicht entschließen. »Das sicherste wäre natürlich«, kommentierte Justizsenator Hermann Oxfort, »jeden einzelnen zu fesseln. Sicherheitsbedürfnis und humaner Strafvollzug werden immer im Widerstreit miteinander liegen.«
Daß humaner Strafvollzug Vorrang hat, war nicht immer gängige Meinung, weder in Berlin noch anderwärts. Beispiellose Schutzvorkehrungen« Separierung vom übrigen Anstaltsleben, Ausschluß von Gemeinschaftsveranstaltungen bis hin zur totalen Isolation hielt die bundesdeutsche Justiz noch bis 1974 für durchaus angemessen im Umgang mit Polit-Kriminellen.
Drei Jahre und sechs Monate blieb BM-Anwalt Horst Mahler isoliert in seiner Zelle, BM-Mitglied Heinrich Jansen gar noch länger. Und mehrere Monate lang saß Ulrike Meinhof völlig abgeschirmt von der Außenwelt im »Turm« der Moabiter Haftanstalt.
Die Vollzugsbehörden, über die subtilen Folgen solcher Einschließungspraxis belehrt, mußten Zug um Zug zurückstecken. Nicht nur der bundesweit organisierte Hungerstreik der meisten BM-Häftlinge, auch Proteste aus dem liberalen Lager und nicht zuletzt Gerichte sorgten für Entschärfung der Haftbedingungen.
»Im Gebüsch saß eine dicke Frau.«
Und keineswegs zwangsläufig auf Kosten der Sicherheit mußte es gehen, wenn Baader wieder mit seinen Genossen Tischtennis spielen durfte oder Monika Berberich Gelegenheit zur Teilnahme an einer Diskussionsgruppe oder zum gemeinschaftlichen Fernsehen erhielt. Daß Inge Viett 1973 einen Tele-Abend zu ihrem ersten erfolgreichen Fluchtversuch zu nutzen vermochte, spricht noch lange nicht grundsätzlich gegen Fernsehen in der Strafanstalt.
Wie andererseits auch solch selbstverständliche soziale Kommunikation Polit-Häftlinge begünstigen könne, analysierten im Frühjahr ebenfalls die Haft-Pragmatiker vom Staatsschutz: Die politisch motivierten Straftäter seien durchweg besser gebildet, besetzten in der Knastgemeinschaft Führungspositionen, verfügten über einen starken Rückhalt durch gleichgesinnte Außenstehende und, natürlich, über eine außergewöhnlich eingehende anwaltliche Betreuung.
Da fügte es sich für die Berliner Ermittler ins Raster, daß alle vier Ausgebrochenen in den Tagen vor der Flucht Besuch von ihren Anwälten erhalten hatten. Und Springers »Bild« schrieb vorneweg: »Terroristen und ihre Verteidiger können in deutschen Gefängnissen ungestört Befreiungspläne machen.« Wie dabei die Flucht-Utensilien in die Zelle gekommen sein könnten, wird mehr direkt als dezent angedeutet: Die Anwälte würden »entweder gar nicht oder nur oberflächlich untersucht«.
Die Praxis sieht anders aus. Bevor Rechtsbeistand und Häftling in besonderen Sprechzimmern zusammenkommen, aber auch nach jeder Unterhaltung, müssen sich beide der Leibesvisitation unterziehen. Zusätzlich wird mit einer Sonde nach am Körper verborgenen Metallgegenständen gefahndet. Welche Helfer das Fluchtquartett wirklich hatte, blieb bis Ende letzter Woche trotz 200 000 Mark Belohnung und fast 300 Hinweisen aus der Bevölkerung (Beispiel: »Am Tag vor der Tat saß eine dicke Frau im Gebüsch vor der Anstalt") ungeklärt.
Vom Ausgang der Ermittlungen im eigenen Hause, erklärte Justizsenator Oxfort. wolle er sein politisches Schicksal abhängig machen. Und als, am Freitag letzter Woche, erste Ergebnisse vorlagen, kündigte er prompt für den folgenden Tag seinen Rücktritt an (siehe Seite 18).
Führende Berliner Sozialdemokraten reagierten auf den Schritt mit Häme. Denn die CDU-Forderung nach »demokratischer Selbstreinigung« hatte der FDP-Mann selber stets im Munde geführt, als er einst, als Oppositionsführer. glücklose SPD-Senatoren öffentlich anging.
Horst Korber beispielsweise, Oxforts Vorgänger im Amt, sollte demissionieren, weil seinen Beamten Ekkehard Weil, der Attentäter vom sowjetischen Ehrenmal, entwichen war. Und als Heinz Striek, Finanzsenator im letzten SPD-Senat, vor parlamentarischen Gremien Versäumnisse seiner Verwaltung beim Bau des Spekulations-»Kreisels« eingestehen mußte, war es wiederum Oxfort, der mit der Rücktrittsforderung vorneweg marschierte.
Nachsicht mit Oxfort, hatten dessen Gegner argumentiert, sei um so weniger angebracht, als mit Ausbruchsversuchen der Anarchistinnen täglich habe gerechnet werden müssen. Und in der Tat hatten es Westdeutschlands Terroristen auf Befreiung gefangener Mitkämpfer schon immer abgesehen.
Bereits nach der Verhaftung von Anwalt Horst Mahler, berichtete das frühere Gruppenmitglied Beate Sturm, brütete eine kleine Gruppe über der Frage: »Wie ist das denn mit Tupamaros? Die befreien doch ihre politischen Gefangenen. Es war ganz klar, daß das eine gute Sache war.«
An Einfällen fehlte es den Desperados dabei nicht, auch nicht an fixen Ideen. So sollten schon vor Jahren zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Befreier mit einem Kleinsthubschrauber ins Frauengefängnis Lehrter Straße einfliegen, während der Freistunde im Gefängnishof die Aufseherinnen als Geiseln nehmen und dadurch die Freilassung von drei Genossinnen, darunter schon Monika Berberich, erzwingen.
Technische Daten für das Fluggerät mit VW-Motor lagen vor, Mahler sollte durch die ebenfalls ausgespähte Kanalisation entkommen. Doch die Polizei ließ, als sie von den Plänen erfuhr, vorgesehene Durchgänge vermauern.
Auch der Plan des später geständigen Anarchisten Heinz Brockmann und seiner Freunde vom »2. Juni«, die BM-Mädchen Irene Goergens und Ingrid Schubert aus Moabit herauszuholen, scheiterte: Die Beteiligten, von Baader-Meinhof mit MP und drei Pistolen versorgt, kamen mit einer wackligen Leiter nicht über die Gefängnismauer und mußten, weil sie zuviel Lärm verursacht hatten, mit gestohlenen Autos flüchten.
In Köln-Porz fand sich eine Skizze der damaligen BM-Gefangenen Astrid Proll von ihrer Zelle in der Vollzugsanstalt Ossendorf« in Tübingen wurde eine Druckfolie für Gefängnis-Besuchsscheine beschlagnahmt, und vom Untersuchungs- und Frauengefängnis Frankfurt-Preungesheim hatten anarchistische Einbrecher 127 amtliche Baupläne und Zeichnungen beim Staatsbauamt gestohlen.
Selbst eine leibhaftige Justizperson betätigte sich vor zwei Jahren erfolglos als Fluchthelfer: Ein Pfälzer Oberwachtmeister feilte, weil er sich in der Beförderung übergangen fühlte, aus Rache gegen seine Vorgesetzten im Gefängnis Zweibrücken Nachschlüssel für einen Zellentrakt, in dem drei BM-Häftlinge saßen. Die Ausschleusung platzte in letzter Minute, der Amtsgehilfe wurde festgenommen, weil ein eingeweihter Mitgefangener bei der Gefängnisleitung sang.
In Karlsruhe knobelte eine »Schwarze RAF« an einem Dreh, die schier unüberwindliche Prozeßfestung Stuttgart-Stammheim zu nehmen -- sei es mit Hilfe eines sprengstoffbeladenen Modellflugzeuges, sei es durch einen unterirdischen Fluchttunnel für die BM-Spitze oder gar einen Sturm auf die Haftanstalt. Die Gruppe flog auf, die verhinderten Helfer landeten selbst auf der Anklagebank.
Der Stammheimer Gefängnishof ist daher mit Maschendraht bewehrt -- Sicherheitsvorkehrung gegen Hubschrauberlandungen etwaiger Befreier, das Prozeßgebäude mit einem stahlverstärkten Kunststoffnetz überspannt --Prophylaxe gegen ferngesteuerte Modellflugzeuge mit Bombenlast.
Die inhaftierten BM-Chefs selbst haben den zahlreichen Befreiungsversuchen keineswegs untätig zugesehen. Gleich nach ihrer Verhaftung schickte Gudrun Ensslin einen Kassiber an Ulrike Meinhof, in dem »Geiselnahmen zur Befreiung von inhaftierten Gruppenmitgliedern« verlangt wurden.
Die Kräfte nebenbei durch Sprengstoffanschläge zu verzetteln, solange die Gefangenen in Haft seien, so rügte Bandenführer Baader später noch auf freiem Fuß befindliche Genossen, demonstriere »nichts anderes als politische und organisatorische Schwäche«. Baader, 1970 mit Ulrike Meinhofs Hilfe selber aus Berliner Haft befreit, befahl in einem Kassiber. der 1974 gefunden wurde: »Solang ihr so schwach seid, heißt das die Gefangenen rausholen ... alle Kräfte auf diesen Job zu konzentrieren.«
Zwölf Seiten lang handelte die polizeiliche Abschrift einer Tonbandkassette, die in einem Terroristenversteck gefunden wurde, von Baaders eigener Befreiung: »Sprengstoff« am besten natürlich. Ihr schafft mir vier bis fünf Kilo rein, Stück Zündschnur« zwei Kapseln.« Oder: »Auf dem Beamtenklo zu sägen, wäre möglich.« Oder. »beste« Lösung laut Baader: »Nachts auf dar Dach. Paar Ziegel abheben.«
Doch damals schon erwog er auch eine Befreiung mittels Geiselnahme: »Wenn Ihr stark genug seid, sollt Ihr ... die Besetzung irgendeiner Institution, mindestens 20 bis 30 Geiseln. vorbereiten, falls was schiefläuft, um die Typen gleich wieder rauszuholen.«
Frühzeitig hatte Baader zudem Aktionen ähnlich der Ein-Mann-Geiselnahme des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz, bei der im März letzten Jahres fünf Terroristen freigesetzt wurden, ebenso erwogen wie die Besetzung der Deutschen Botschaft in Stockholm zwei Monate später (zwölf Geiseln). Nur daß er die Kräfte der Anarchos überschätzte: Mit der Forderung nach Freiheit für 26 Häftlinge, darunter die
* Bei seiner Festnahme.
Stammheimer Anführer, provozierten die Botschaftsbesatzer ein Bonner Nein, das Kommando scheiterte (vier Tote).
Aber auch die Strafverfolger trugen, weil Justizordnung oder Rechtslage es gebot, dazu bei, die Reihen der Radikalen wieder zu schließen. So war Wilfried Böse, in Entebbe erschossener Flugzeugentführer, Mitte letzten Jahres in Paris festgenommen und nach Deutschland abgeschoben worden, nachdem ihm der weltweit gesuchte Chef-Terrorist »Carlos« eine Wohnung besorgt hatte. Böse wurde am selben Tag verhaftet, an dem Carlos zwei Sicherheitsbeamte erschoß. Einem Saarbrücker Haftrichter reichte das Belastungsmaterial nicht aus, Böse wurde freigesetzt und schloß sich offenbar Carlos wieder an.
»Untergrund. Mittelgrund, Obergrund.«
Mit polizeilichen Meldeauflagen wurden die Terroristen Margrit Schiller, Ilse Stachowiak und Helmut Pohl vorzeitig aus der Haft entlassen; sie alle tauchten unter, bevor sie erneut verhaftet wurden.
Das BM-Gründungsmitglied Astrid Proll erhielt in Frankfurt wegen einer Kreislauferkrankung Haftverschonung, kurierte sich aus und verschwand wieder im Untergrund. Vier Monate nach Verbüßung von drei Jahren Haft in Pforzheim war Siegfried Hausner schon wieder beim Attentat in Stockholm dabei.
Und in München kehrte Anarchist Roland Otto von einem Gefängnisurlaub auf Ehrenwort nicht zurück: Eine Volkshochschuldozentin hatte eigens für seine Flucht ein Kostümfest arrangiert, auf dem er sich absetzte. Erneut gefaßt wurde er letztes Jahr bei einer Schießerei in Köln, bei der ein Komplize und ein Polizist ums Leben kamen. »Die Justiz läßt sie laufen«, klagte Maihofer, »und wir müssen sie wieder einfangen.«
Das aber erweist sich -- trotz gesteigerten polizeilichen Aufwands -- nach wie vor als schwierig. Denn nach einer Phase der »Null-Aktivität«. die Berlins »Tagesspiegel« letztes Jahr registrierte, hat sich die Anarcho-Szene offenbar revitalisiert. Im Polit-Untergrund, sagt Gerhard Boeden, Leiter der Anti-Terror-Abteilung des Bundeskriminalamts, vollzieht sich »ein neuer logistischer Aufbau«.
Hatte es noch vor Jahren nur wenige relativ große, fest gefügte Gruppen ("RAF«, »2. Juni«, »SPK") gegeben, die sich durch ausgefeilte Terrortechniken und straffe ideologische Führung auszeichneten, so ist die Szene mittlerweile weit »aufgefächert": »Die zentralistisch organisierte totale Untergrundgruppe«, analysiert ein hoher Sicherheitsbeamter, »ist nicht mehr das herrschende Leitbild«; Mini-Gruppen, fünf bis zehn Mann stark, sind jetzt die Regel.
»Der Vollblut-Anarchist«, sagt ein norddeutscher Verfassungsschützer, »ist vom Feierabend-Terroristen abgelöst worden.« Die Mitglieder der neuformierten Gruppen gehören, so ein Bonner Bandenbekämpfer, »teils dem Untergrund, teils dem Mitteigrund, teils dem Obergrund« an.
Mindestens jeweils ein Mitglied führt regelmäßig nach außen hin »eine bürgerliche Existenz«, die etwa dazu prädestiniert, unauffällig Wohnungen anzumieten. »Die legalen Typen«, urteilt der Godesberger Leitende Kriminaldirektor Günter Römelt, »erschließen den Banden bewußte und unbewußte Helfer in allen Bevölkerungskreisen und erschweren den Sicherheitskräften das Erkennen einzelner Bandenmitglieder und die Beweisführung für deren kriminelles Tun.«
Das soziale Spektrum des westdeutschen Anarchismus hat sich zugleich deutlich verändert: Zählten früher vorwiegend Intellektuelle zu den Tätern, kommen Mitstreiter nun aus »allen Schichten": Kripo-Analytiker registrieren jetzt »Hilfs- und Facharbeiter, Abiturienten, kleine Angestellte, Studenten, Handwerker, etwa Kraftfahrzeugmechaniker«.
Zahlenmäßig freilich hat sich das Potential der Terroristen kaum verändert: Auf der Fahndungsliste stehen 30 Aktivisten; gegen 230 mutmaßliche Mittäter -- Geldbeschaffer, Ausweisfälscher, Wohnungsgeber -- laufen staatsanwaltschaftliche Ermittlungen; rund 400 Bundesbürger stehen darüber hinaus im Verdacht, die Gewalttäter zu unterstützen; auf 3500 schätzen die Fahnder die Zahl der Sympathisanten, die »Übereinstimmung mit den Zielen der Terroristen« bekunden.
Innerhalb dieser Gruppe aber vollziehen sich, mit offenbar steigender Geschwindigkeit, konzentrische Bewegungen -- hin zu den harten Kernen. Dort entdecken die Fahnder immer häufiger Täter, von denen sie zuvor, wie Justizminister Hans-Jochen Vogel einräumt, »nie im Traum« gedacht hatten, daß sie einmal »als Mörder auftreten könnten«.
»Die Todesstrafe ist und bleibt abgeschafft.«
Entscheidend gestärkt wurden Westdeutschlands Anarcho-Gruppen jedoch durch zunehmende Kooperation mit ausländischen Organisationen. Während vor einigen Jahren noch Auslandsaktivitäten selten waren, sehen sich Westdeutschlands Strafverfolger inzwischen einer Art »Terroristischer Internationale« konfrontiert -- mit »Anlehnungsmächten« in Nahost und Afrika, die den Gewalttätern, so BKA-Experten, »als Nischen dienen, in die sie sich zurückziehen und in denen sie sich regenerieren können
Ob beim Überfall auf das Wiener Opec-Quartier« ob beim Geiseldrama von Entebbe -- immer wieder zeigt sich, daß die halbe Welt zum Operationsfeld westdeutscher Terroristen geworden ist. Darin, daß sich auf diese Weise die Aktivitäten westdeutscher Täter »verteilen«, mögen Experten allerdings »keinen Vorteil« sehen -- im Gegenteil. Minister Maihofer ist sicher, daß die westdeutschen Anarchos »personelle und logistische Vorleistungen für internationale Terroraktionen« erbracht haben, um sich selber damit »internationale Unterstützung für geplante eigene Aktionen in der Zukunft zu sichern«.
Als Spezialisten für internationale Kontakte dienen den westdeutschen Anarchisten, so mutmaßen ihre Verfolger, Männer wie der einstige BM-Anwalt Jörg ("Jogi") Lang, 36. und dessen gleichfalls untergetauchter Kollege Siegfried Haag, 31.
Lang spielt in der Gruppe um den venezolanischen Star-Terroristen Ilitsch Ramirez Sánchez alias Carlos, vermuten die Fahnder« »eine wichtige Rolle«. Daß er mindestens einmal zu Gast beim libyschen Staatschef Gaddafi war, steht für sie »so gut wie fest": Lang diene der Carlos-Gruppe »als eine Art Chefdiplomat«.
Im September 1974 war Genosse »Jogi« statt zur Hauptverhandlung vor der Staatsschutzkammer des Landgerichts Stuttgart in Sachen Unterstützung der Baader-Meinhof-Gruppe in den Untergrund gegangen, weil er »die Notwendigkeit« sah, »den antifaschistischen Kampf fortzuführen und den Imperialismus anzugreifen«. Seine Frau,die ihn während seiner Untersuchungshaft geehelicht hatte, entglitt samt gemeinsamem Kind ebenfalls dem Auge des Gesetzes.
Im Jahr darauf verschwand Siegfried Haag, nachdem ihm vorgeworfen worden war, er habe für die RAF Waffenlieferungen organisiert. Haag hat »das Zeug zum Chef und die Intelligenz und Energie für große Sachen«, schätzt ihn ein Fahnder ein, »aus dem kann man fünf Baaders machen«. Mal wurde Haag die Leitung des Stockholm-Kommandos, mal die Vorstandschaft einer 24köpfigen »Revolutionären Zelle« zugeschrieben -- selten freilich lag mehr als Spekulation zugrunde.
Gleichwohl werden Lang und Haag allemal von Terroristen-Bekämpfern zitiert, wenn es darum geht, zu mahnen, die relative Ruhe in der Bundesrepublik sei trügerisch. Lang und Haag -- so vermuten die Fahnder -- seien es auch gewesen, die »den Griffel in der Hand gehabt« haben, als bei der Athener Airbus-Kaperung die Liste der zu Befreienden geschrieben wurde. »Daß der Haag den Baader nicht rauszuholen versucht hat«, wundert sie nicht: »Der hat ihn zu oft Arschloch genannt.«
Wie auch immer: »Der Terrorismus«, meint Minister Maihofer,"wird uns auch und gerade wegen seiner Internationalisierung selbst bei äußersten Anstrengungen auf allen Ebenen noch auf Jahre beschäftigen.«
Und schon präpariert sich die Opposition, der Regierung Versäumnisse bei der Terroristen-Bekämpfung vorzuhalten. Schon jetzt werden fixe Lösungen ausgeboten.
Eine totale Kontrolle der Kontakte zwischen Verteidigern und Häftlingen, so Oppositionssprecher Vogel, hätte das »größte Loch« gestopft und wahrscheinlich auch ein Entweichen der vier Anarchistinnen erheblich erschwert. Richard Stücklen, CSU-Landesgruppenleiter im Bundestag, brachte prompt einen alten Bayern-Wunsch nach »der Todesstrafe« wieder auf.
Irritiert erkundigte sich der Bundeskanzler denn auch letzten Mittwoch in der Kabinettsitzung« welche Neuerungen eigentlich die Novelle zum Strafvollzug gebracht habe. Besonders besorgt zeigte sich der Kanzler darüber. daß der Ruf nach der Todesstrafe nicht mehr einfach beiseite gewischt werden könne mit der unbestrittenen Erkenntnis, daß sie keinerlei abschreckende Wirkung habe. Denn allmählich würden neue Gründe für deren Einführung nachgeschoben.
Die Todesstrafe, dies sei die neue Argumentation, mache die Bundesregierung nicht mehr erpreßbar« weil es dann keine Terroristen mehr aus den Gefängnissen zu befreien gäbe. Dieser bequeme Weg aber erscheint dem bedrängten Kanzler fatal. »Meine Position ist klar«, resümierte Schmidt mannhaft, »die Todesstrafe ist und bleibt abgeschafft.«