50 Jahre Gastarbeiter aus der Türkei Bittere Heimat

Vor 50 Jahren kamen die ersten türkischen Gastarbeiter nach Deutschland - nun klopfen sich Politiker selbst auf die Schultern. Wofür eigentlich? Die Türken haben das Land verändert, doch viele fühlen sich noch immer fremd.
Fähnchen der alten und neuen Heimat: Schon der begriff Integrration führt in die Irre

Fähnchen der alten und neuen Heimat: Schon der begriff Integrration führt in die Irre

Foto: Friso Gentsch/ dpa

Deutschland macht es seinen Einwanderern nicht leicht. Bis heute definieren die Deutschen Nationalität vor allem über Blut, urteilt beispielsweise der britische "Economist". Die einfache Regel, dass Deutscher ist, wer in Deutschland geboren ist oder hier lebt und sich zu Demokratie und Verfassung bekennt, gilt im deutschen Alltag nicht.

Dabei haben die Türken die deutsche Wirtschaft gestärkt, sie stellen Dutzende Millionäre, Künstler, Politiker. Cem Özdemir, Sohn türkischer Gastarbeiter, steht der Partei "die Grünen" vor, der Regisseur Fatih Akinhat türkische Wurzeln ebenso wie der Fußball-Nationalspieler Mesut Özil.

Doch Özdemir, Akin und Özil werden zuallererst als Türken wahrgenommen - und dann erst als Politiker, Künstler, Sportler. "Wer in der dritten oder vielleicht sogar in der vierten Generation in Deutschland lebt, kann nicht mehr als Migrant bezeichnet werden", sagt Maria Böhmer, die Integrationsbeauftragte der Regierung im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE.

Der türkischstämmige Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, Harvard-Absolvent und jahrelang Vorstandsmitglied der FDP, hat in seinem jüngst erschienen Buch "Kein schönes Land in dieser Zeit. Das Märchen von der gescheiterten Integration", das Problem auf die Formel gebracht: "Wir bleiben Kanaken, egal was wir tun."

Nun hat die große Vereinnahmung begonnen, in dieser Woche begeht die Bundesregierung mit einem Festakt den 50. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbe-Abkommens. Am Sonntag stiegen Regierungspolitiker also in München in einen Sonderzug, um an die Ankunft der ersten türkischen Gastarbeiter zu erinnern. Am Mittwoch empfängt Bundeskanzlerin Angela Merkel den türkischen Premier Recep Tayyip Erdogan in Berlin, um den Gastarbeitern für ihre Verdienste um Deutschland zu danken.

Alle wollen dafür verantwortlich gewesen sein, dass Integration in Deutschland, trotz Debatten um Kopftuch und Parallelwelten, trotz Sarrazin, alles in allem ganz gut geklappt hat. Die Politik klopft sich selbst auf die Schultern. Und man fragt sich: Wofür eigentlich?

Das Beste, was sich über die deutsche Einwanderungspolitik der vergangenen 50 Jahre sagen lasse, ist, dass es sie nicht gab, kritisiert Werner Schiffauer, Migrations-Forscher an der Universität Frankfurt/Oder. Wer Politiker wie den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) reden hört, der einen Zuwanderungsstopp für Menschen aus "anderen Kulturkreisen" fordert, mag zu dem Schluss kommen, dass für Integration schon viel getan ist, wenn die Politik wenigstens keinen Schaden anrichtet.

Und sehr viel mehr noch als einige wenige Vorzeige-Migranten, die immer dann genannt werden, wenn erfolgreiche Integration illustriert werden soll, prägen die Hunderttausenden Deutsch-Türken das Land, die Tag für Tag geräuschlos ihre Arbeit verrichten. Männer, die früh morgens aufstehen, um Gemüse vom Großmarkt zu holen. Mütter und Großmütter, die alles dafür tun, ihren Kindern und Enkeln die Ausbildung zu ermöglichen, die sie selbst nicht hatten, als sie vor einem halben Jahrhundert aus anatolischen Dörfern in eine neue Heimat aufbrachen.

Die vielen Einwanderer, die erfolgreich in Deutschland leben, die Familien gegründet haben und im Beruf vorangekommen sind, haben dies nicht wegen, sondern trotz der Politik geschafft. Und man muss auch sagen: trotz der fehlenden Unterstützung durch die Gesellschaft.

Allzu viele Kinder und Enkelkinder von Einwanderern fühlen sich in Deutschland als Außenseiter. Laut einer Studie des Essener Zentrums für Türkeistudien sehen sich zwei Drittel der Deutsch-Türken selbst als Opfer von Diskriminierung. Der Anteil der jungen Türken, die keinen Abschluss haben, ist innerhalb von fünf Jahren von 44 Prozent auf 57 Prozent gestiegen.

Der Begriff Integration führt in die Irre

Die Politik beginnt nur langsam gegenzusteuern. Dabei sind die Maßnahmen, die ergriffen werden müssten, seit Jahren bekannt, sie sind sogar weitgehend unumstritten: Die Kinder von Einwandern brauchen eine besondere Förderung, Sprachunterricht schon im Kindergarten, besondere Aufmerksamkeit in der Schule. Klassen, in denen neuen von zehn Schülern nur brüchig Deutsch sprechen, dürfte es nicht mehr geben, genauso wenig wie Unternehmen, die Bewerber ablehnen, nur weil diese einen ausländischen Nachnamen besitzen.

Die Wirklichkeit ist eine andere, auch deshalb, weil sich Deutschland immer noch schwer tut, zu akzeptieren, dass es längst zum Einwanderungsland geworden ist.

In wenigen Jahren wird der Anteil der Menschen mit ausländischen Wurzeln bei den unter 40-Jährigen in vielen westdeutschen Großstädten bei über 50 Prozent liegen. Will Deutschland seinen Wohlstand erhalten, wird es auf die Kinder und Enkel der Gastarbeiter angewiesen sein. "Lehrer und Behörden müssen lernen, mit der neuen Vielfalt umzugehen", so Böhmer.

Schon der Begriff "Integration" führt in die Irre, denn um die Aufnahme von Ausländern, von Fremden in die deutsche Gesellschaft geht es längst nicht mehr. Die Jungen und Mädchen der zweiten und dritten Generation sind ein Teil von Deutschland, weil sie hier aufgewachsen sind und zur deutschen Wirklichkeit gehören, auch wenn nicht alle einen deutschen Pass besitzen.

Teile der Gesellschaft und Politiker wollen diese einfache Wahrheit noch immer nicht anerkennen. So hält ausgerechnet der für Integration zuständige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) an der Behauptung fest, der Islam sei nicht Teil Deutschlands. Mitarbeiter aus seinem Haus berichten, ihr Chef müsse zu Terminen mit Zuwanderern regelrecht geschleppt werden.

Deutschland hat sich in den vergangenen 50 Jahren enorm verändert. Mit Politikern wie Friedrich wird das neue Deutschland nicht zu gestalten sein.

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