
9/11-Jahrestag: "Was hat der 11. September 2001 der Welt gebracht?"
9/11-Jahrestag "Osama, bitte beende die Gewalt!"
Lieber Osama Bin Laden Abu Abdallah,
ich grüße dich mit dem Frieden des Islam und bitte dich darum, das folgende zu überdenken. Tue dies um Allahs Willen, um seines Propheten Willen, und um der Sicherheit aller Menschen weltweit Willen.
Ich schreibe dir als ein einstiger Waffenbruder. Wir kämpften zusammen. Wir waren bereit, zusammen zu sterben. Bis zum heutigen Tag bin ich stolz darauf, gegen die Sowjets und Kommunisten gekämpft zu haben. Wir waren im Recht, und kein Feind hätte uns aufhalten können.
Das ist heute nicht mehr so.
Nach unserem Sieg verwandelten wir uns in einen Fluch für eben die Menschen, denen wir hatten helfen wollen. Die Afghanen, Mullah Omar eingeschlossen, baten uns, ihr Land und seine Bevölkerung zu beschützen; doch stattdessen wolltest du ihr Land als Startrampe für den Krieg gegen Amerika, Israel, den Westen und die arabischen Regime benutzen. Welchen Vorteil hatte das afghanische Volk davon?
Mehrmals bat Mullah Omar dich, damit aufzuhören, die Amerikaner zu provozieren und geradezu in sein Land einzuladen, aber du ignoriertest ihn. Wie kannst du behaupten, für einen "islamischen Staat" zu kämpfen, und dann dem Anführer, der dir half, deinen Platz einzunehmen, so offen widersprechen?
Ich erinnere dich auch daran (und berichte es hier zum ersten Mal öffentlich), dass der Leiter der Sicherheitsabteilung deiner eigenen Organisation, Abu Muhammad al-Zayyat, vehement Einspruch einlegte gegen deine Pläne für die angeblich "letzte" geplante Operation, die Selbstmordanschläge vom 11. September 2001. Abu Muhammad glaubte, die Anschläge seien unstatthaft ohne Mullah Omars Erlaubnis. Aber andererseits, selbst wenn Mullah Omar seine Einwilligung gegeben hätte: Es hätte nichts an der Tatsache geändert, dass solche Anschläge nicht zu rechtfertigen sind.
"Was hat der 11. September 2001 der Welt gebracht?"
Osama, du warst so freundlich, mich in deinem einfachen Lehmhaus in Kandahar im Sommer 2000 zum Frühstück einzuladen. Ich erinnere mich noch daran, wie deine Kinder barfuß vor uns spielten. Bei unseren Treffen vertrat ich die "Libysche Islamische Kampfgruppe". Und in der Gegenwart von Dr. Aiman al-Sawahiri und anderen Schlüsselfiguren sprach ich mich für die sofortige Einstellung der Gewalt und ein Ende aller Qaida-Anschläge außerhalb Afghanistans aus. Du batest mich darum, dir das logistische Netzwerk meiner Gruppe zur Verfügung zu stellen, um deinen "Dschihad gegen die Juden und Kreuzfahrer" voranzubringen. Ich verweigerte das. Einige Argumente leuchteten dir ein, etwa dass al-Qaida und ihre Gewalt zu gar nichts geführt hatten. Aber dann sagtest du, wie dem auch sei, eine weitere Operation sei bereits auf den Weg gebracht, und du könntest sie nicht mehr stoppen.
Am Morgen des 11. September 2001 wurde die Welt Zeuge der nicht mehr aufzuhaltenden Kette von Ereignissen, die du und al-Qaida in Gang gesetzt hatten. Warum wurde diese Operation ausgeführt? Was hat der 11. September 2001 der Welt gebracht außer Massen von Toten, Besatzungen, Zerstörung, Hass auf Muslime, Erniedrigung des Islam und eine noch härtere Kontrolle der Leben der einfachen Muslime durch die autoritären Regime, die in den arabischen und muslimischen Staaten herrschen?
Ich warnte dich damals, im Sommer 2000, dass deine Aktionen die US-Streitkräfte in den Nahen Osten und nach Afghanistan bringen würden, was zu Massenunruhen und dem Verlust von Menschenleben führen würde. Du glaubtest, ich läge falsch. Die Zeit hat gezeigt, dass ich richtig lag. Deine Aktionen haben Millionen von unschuldigen Muslimen und Nicht-Muslimen geschadet. Wie kann das Islam oder Dschihad sein? Wie lange will al-Qaida noch Schande über den Islam bringen, die Leben gewöhnlicher Muslime zerstören und der Grund für globales Chaos sein?
"Was würde der Islam verlieren, wenn die Gewalt beendet würde?"
In New York haben deine unislamischen Taten Leid, Schmerz, Verlust und Trauer über Tausende Unschuldige und ihre Familien gebracht. Eine Konsequenz ist, dass Muslime, die ein Gotteshaus in New York bauen wollen, heute mit Nazis verglichen werden. Und während der Jahrestag näher rückt, hören wir, dass ein amerikanischer Prediger sogar plant, als Vergeltung Korane zu verbrennen. Muslime, die in demokratischen und freien Gesellschaften leben, erfahren heute am eigenen Leib, was die Folgen deiner unverantwortlichen Aktionen sind.
Ich weiß, du bist ein demütiger Mann, der einen luxuriösen Lebensstil aufgab, um sich selbst dem Zweck zur Verfügung zu stellen, an den er glaubt. Dennoch: Dein Dschihad sollte nun darin bestehen, sicherzustellen, dass al-Qaida den Weg zurück findet auf den Pfad der Gemeinschaft derer, die dem Beispiel des Propheten folgen und die Mehrheit bilden. Deine Pflicht ist es, zu verhindern, dass deine Organisationen noch weiter den Weg des Extremismus hinabschreitet.
Im Licht all dieser Punkte, schlage ich vor, dass al-Qaida eine einseitige Einstellung ihrer Militäroperationen für die Dauer von sechs Monaten verkündet - und zwar mit den folgenden drei Zielen:
Um die Vision der Organisation, ihren Ansatz und ihre Strategie zu überprüfen. Zum Beispiel, indem ihr versucht, die folgenden Fragen zu beantworten: Wie würde sich ein Einfrieren der Militäroperationen al-Qaidas auf den Islam und die Muslime auswirken? Würde das ihren Interessen schaden oder würde es ihnen helfen, Fortschritte in Richtung Frieden und Freiheit zu machen, um ihren Glauben praktizieren und predigen zu können? Was würde der Islam verlieren, wenn die Gewalt beendet würde?
Um zu untersuchen, wie es um die öffentliche Meinung der muslimischen Gemeinschaften in der Welt bestellt ist und wie eigentlich ihre Einstellung gegenüber al-Qaida ist.
Um Rechtleitung von Gelehrten wie zum Beispiel Salman al-Auda einzuholen, die deinen Ansatz und dein Dschihad-Konzept zurückgewiesen haben.
Ich glaube, dass eine solche Strategie der erste Schritt sein könnte, die Besatzung Afghanistans zu beenden und Frieden und Sicherheit in der Region zu erreichen.
Ich glaube, dass ich für eine übergroße Mehrheit der Muslime spreche, die den Namen "Muslim" mit Stolz tragen will, wenn ich dich bitte, die Gewalt zu beenden und deine Ziele und deine Strategie zu überdenken.
In Frieden,
Abu Muhammad al-Libi (Noman Benotman)
10. September 2010
Leicht gekürzt und übersetzt von Yassin Musharbash