Abrüstungsexperte Burt "Atomwaffen notfalls mit Gewalt verhindern"

Interkontinentalrakete "Topol-M": "Im Kalten Krieg konnten die Leute miteinander reden"
Foto: DMITRY KOSTYUKOV/ AFPSPIEGEL ONLINE: Botschafter Burt, 1991 haben Sie als US-Chefunterhändler den "Start"-Vertrag zwischen den USA und der Sowjetunion eingefädelt, es war ein Meilenstein in der nuklearen Abrüstung. Ist die Welt heute sicherer als vor 20 Jahren?
Burt: Im Kalten Krieg bestand das Risiko eines gewaltigen nuklearen Schlagabtauschs zwischen den Supermächten. Heute gibt es die Gefahr, statt eines bipolaren Rüstungswettlaufs eine Welt voller Atomwaffen zu haben. Dass sie tatsächlich eingesetzt werden, ist heute wahrscheinlicher als noch vor 20 Jahren. Der Schaden wäre zwar geringer, aber wir reden hier immer noch über das Potential, viele Millionen Menschen zu töten.
SPIEGEL ONLINE: Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble hat 2007 als Bundesinnenminister gesagt, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis es zu einem nuklearen Terroranschlag komme - und dass man sich die verbleibende Zeit nicht mit Untergangsstimmung verderben solle.
Burt: Das halte ich für ein wenig übertrieben. Dennoch glaube ich, dass die Wahrscheinlichkeit der Benutzung von Atomwaffen heute größer ist als je zuvor - und das nicht nur wegen der sehr realen Terrorismusgefahr. Mit der steigenden Verbreitung von Atomwaffen brechen die bisherigen Abschreckungsmechanismen zusammen. Zwischen den USA und der Sowjetunion gab es einen ideologischen und strategischen Wettstreit. Ethnische Probleme, historische Rivalitäten oder gar Hass haben nicht existiert. Wenn man sich nun aber Pakistan und Indien anschaut, erscheint es durchaus vorstellbar, dass ein zunächst kleiner Konflikt zu einem nuklearen Schlagabtausch eskaliert. Deshalb ist die Verbreitung von Atomwaffen in instabile Regionen so gefährlich.
SPIEGEL ONLINE: Wie etwa nach Iran?
Burt: Das Problem mit Iran ist nicht, dass ein Atomkrieg mit Israel besonders wahrscheinlich wäre - ich denke, dass Israel Iran effektiv abschrecken kann. Aber wenn Iran sich Atomwaffen zulegt, würde die Türkei sehr wahrscheinlich dasselbe tun, womöglich auch Ägypten und Saudi-Arabien. Ich befürchte, dass es auf ein Wettrüsten zwischen Schiiten und Sunniten, den beiden Glaubensrichtungen des Islam, hinauslaufen könnte. Das ist sehr besorgniserregend.
SPIEGEL ONLINE: Die israelische Regierung hat deutlich gemacht, dass sie die nukleare Bewaffnung Irans notfalls mit militärischen Mitteln verhindern will. Falls das nicht gelingen sollte: Wie groß ist aus Ihrer Sicht die Gefahr, dass es in einer Krisensituation durch ein Missverständnis zum Atomkrieg kommt?
Burt: Im Kalten Krieg gab es zwischen den USA und der Sowjetunion eine Hotline - die Leute konnten miteinander reden, und man wusste, wen man anzurufen hatte. Aber mit wem spricht man in Iran? Mit Präsident Ahmadinedschad? Oder mit Ajatollah Chamenei? Es ist nie ganz klar, wer die Entscheidungen trifft - und ehrlich gesagt ist das nicht nur in Iran der Fall. Nehmen Sie Pakistan. Dort gibt es bereits ein Nukleararsenal, und es kommen immer neue Atomwaffen dazu. Wer trägt für Pakistans Atomwaffen wirklich die Verantwortung? Der Präsident? Der Premierminister? Das Militär? Wir wissen es nicht.
SPIEGEL ONLINE: Erst kürzlich haben Ihre Kollegen von der Nuclear Threat Initiative in einem globalen Sicherheitsindex aufgezeigt, wie schlampig Atomwaffen vielerorts gesichert sind. Was können die Vereinigten Staaten tun, um nukleare Arsenale wie etwa das in Pakistan zu sichern?
Burt: Es gibt wohl keine wichtigere Manifestation staatlicher Souveränität als die Kontrolle über das nukleare Arsenal. Die Antwort lautet deshalb: sehr, sehr wenig. Die USA können Pakistan Technologien zur Verfügung stellen, um den Diebstahl von Nuklearmaterial zu erschweren. Aber insgesamt neigen Regierungen bei diesen Themen zu Misstrauen oder gar Paranoia. Wir wissen wahrscheinlich viel weniger über das pakistanische Nukleararsenal, als man glauben würde.
"Das Wissen für eine Atombombe steht im Internet"
SPIEGEL ONLINE: Auf der Münchner Sicherheitskonferenz hat die "Global Zero"-Initiative, deren US-Chef Sie sind, den Abzug aller in Europa stationierten taktischen Atomwaffen gefordert. Welche Gefahren gehen von diesen Waffen aus?
Burt: Erstens sind sie immer noch an Truppenbasen stationiert, so dass sie schnell eingesetzt werden können - noch genau so wie im Kalten Krieg. Es ist bekannt, dass in einem Konflikt immer die Gefahr von Missverständnissen besteht. Wenn man Atomwaffen an einer Basis zusammen mit Flugzeugen stationiert, gibt es deshalb eine erhöhte Gefahr, dass sie in einer Krise eingesetzt werden. Zweitens sind etwa 500 bis 600 dieser Atomwaffen im Westen Russlands stationiert, in unmittelbarer Nähe zu Staatsgrenzen. Terroristen oder kriminelle Gruppen könnten versuchen, an sie heranzukommen. Deshalb müssen diese Bomben von den Militärbasen abgezogen und sicher untergebracht werden. Das Gleiche gilt für die rund 200 amerikanischen Atombomben, die noch immer in Europa stationiert sind, auch in Deutschland.
SPIEGEL ONLINE: Was könnten Terroristen mit Uran oder Plutonium anfangen? Das Material zu besitzen, ist eine Sache, die Konstruktion einer Atombombe aber doch eine ganz andere.
Burt: Das Wissen für die Konstruktion einer einfachen Atombombe steht im Internet. Der Flaschenhals ist die Beschaffung waffenfähigen Spaltmaterials, sei es hochangereichertes Uran oder Plutonium. Hat man das einmal bekommen, kann man auch eine Bombe bauen.
SPIEGEL ONLINE: Aber die müsste man dann immer noch über die Grenze schaffen und zum Ziel transportieren.
Burt: Schauen Sie sich nur an, wie schwer die USA sich tun, die Einfuhr illegaler Drogen zu verhindern. Wir reden da über tonnenschwere Lieferungen! Seit Detektoren in den Häfen der USA benutzt werden, hat sich gezeigt, dass angereichertes Uran sehr schwierig aufzuspüren ist. Deshalb wäre es falsch, sich nur darauf zu konzentrieren, dass eine Atomwaffe mit einer Langstreckenrakete ins Ziel gebracht werden könnte. Eine einfache Bombe könnte auch auf andere Weise in eine Stadt oder einen Hafen gelangen.
SPIEGEL ONLINE: Nehmen wir einmal an, Terroristen würden tatsächlich eine Atombombe in einer Großstadt zünden. Wären die Folgen wirklich so verheerend, wie einige Mahner behaupten? Nach dem Zweiten Weltkrieg etwa lag in Europa nicht eine Stadt in Trümmern, sondern nahezu der gesamte Kontinent. Dennoch waren 20 Jahre danach die schlimmsten Folgen überwunden, die Wirtschaft hatte sich erholt.
Burt: Dem könnte man entgegenhalten, was nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA und anderen Ländern passiert ist. Einige tausend Menschen waren umgekommen, und die Schockwellen liefen um die ganze Welt. Der Vergleich mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg funktioniert deshalb nicht, weil die Menschen damals wussten, dass der Krieg vorbei war und der Wiederaufbau beginnen konnte. Aber nach einem nuklearen Terroranschlag würde sich die Angst in jede Stadt ausbreiten. Die Leute würden sich fragen: "Sind wir die nächsten?"
"Es muss ein strenges Kontrollregime geben"
SPIEGEL ONLINE: Aber wäre die Angst nicht auch irgendwann wieder verschwunden?
Burt: Vielleicht. Aber vorher käme es unausweichlich zu einer Überreaktion der Regierung. Sagen wir, in New York kämen drei-, vier- oder fünfhunderttausend Menschen durch eine Atombombe um. Das Volk würde mit überwältigendem Druck von der Regierung verlangen, eine Wiederholung einer solchen Tragödie zu verhindern. Wir würden Gefahr laufen, alle bürgerlichen Freiheiten zu verlieren. Die Pressefreiheit, die Redefreiheit - all das würde wahrscheinlich schnell verschwinden, weil die Menschen auf einer nahezu polizeistaatlichen Sicherheit bestehen würden. Das ist für mich die größte Gefahr, die von dieser Art des Terrorismus ausgeht.
SPIEGEL ONLINE: Aber wie wahrscheinlich ist es, dass man den nuklearen Geist zurück in die Flasche bekommt?
Burt: Natürlich werden wir das nukleare Know-how nie wieder loswerden. Aber die Regierungen - vor allem die der nuklear bewaffneten Staaten - müssen miteinander verhandeln und die Menge ihrer Sprengköpfe immer weiter senken. Die USA und Russland müssen vorangehen und ihre strategischen Arsenale auf jeweils 1000 Sprengköpfe reduzieren. Dann könnte man wahrscheinlich auch andere Staaten an den Tisch bekommen.
SPIEGEL ONLINE: Aber die Beispiele Iran und Pakistans zeigen doch: Wer sich die Bombe wirklich zulegen will, ist durch gutes Zureden kaum aufzuhalten.
Burt: Um wirklich alle Atomwaffen loszuwerden - was ein Prozess von mindestens zwei Jahrzehnten wäre -, müsste es ein strenges Kontrollregime geben. Man bräuchte eine Einigung des Uno-Sicherheitsrats, dass im Falle eines Betrugs die internationale Gemeinschaft handelt - in Form von Sanktionen oder, falls notwendig, militärischer Gewalt.