
Machtkampf in Ägypten: Blockade bremst Verfassungsgericht
Krise in Ägypten Mursi setzt auf die Macht der Straße
Es sind Männer mit langen Bärten und Gewändern, die am Sonntag ihren Sieg feiern. Vor dem pompösen Verfassungsgerichtspalast am Ufer des Nils stehen einige Hundert von ihnen, sie drängeln sich in langen Reihen, dazwischen wuseln jüngere Mistreiter mit Funkgeräten und Knöpfen in den Ohren herum, sie organisieren alle paar Minuten perfekt abgestimmte Sprechchöre. "Wir sind die Demokratie", lautet einer der Slogans, "wir sind die Mehrheit". Das von ihnen umstellte Gericht hingegen beschimpfen sie als Überbleibsel des Regimes von Husni Mubarak, besetzt mit "felool", den verbliebenen Anhängern des einst allmächtigen ägyptischen Präsidenten Mubarak, den die Revolution im Nil-Staat mit der Macht der Straße schließlich aus dem Amt fegte.
Die Männer vor dem Gericht, sie sind Muslimbrüder und Anhänger des neuen Präsidenten Mohammed Mursi. Für ihn, den bekennenden Religiösen und früheren Top-Funktionär der Bruderschaft, haben sie gerade einen weiteren Etappensieg im verworrenen Machtkampf in Ägypten errungen. Mit ihrer Blockade des Gerichts, das sie am frühen Morgen regelrecht umstellten, verhinderten sie das Zusammenkommen der Verfassungskammer. Diese wollte über die Rechtmäßigkeit der verfassungsgebenden Versammlung entscheiden, die Mitte der Woche im Eiltempo ein neues Grundgesetz für Ägypten verabschiedet hatte, das nun schon in zwei Wochen in einem Referendum bestätigt werden soll. Es galt als wahrscheinlich, dass das oberste Gericht die Versammlung und damit auch die Verfassung für illegitim erklärt hätte.
Was auf die Blockade folgte, glich einem neuen Höhepunkt in der verfahrenen Situation, in der Ägypten knapp zwei Jahre nach der Revolution dümpelt. Mit harschen Worten - von einem "psychologischen Mordanschlag" und einem "schwarzen Tag in der Geschichte der ägyptischen Justiz" war die Rede - setzte das Gericht seine Arbeit symbolisch auf unbestimmte Zeit aus. Zu einer Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der verfassungsgebenden Versammlung wird es folglich vor dem angesetzten Referendum Mitte Dezember wohl nicht mehr kommen.
Das Votum der Richter nach der Blockade ihres Gebäudes durch die Mursi-Anhänger war dabei symbolisch für die festgefahrene Situation, in der sich der Präsident und seine Anhänger und Kritiker befinden. Eine Kompromisslösung erscheint kaum möglich, zumal die angesehene Vereinigung der Richter Ägyptens, der sogenannte Judges Club, am späten Abend ebenfalls einen Boykott der Wahlen ankündigte. Die Richter hätten die Volksabstimmung eigentlich prüfen und kontrollieren sollen, doch sie sind ebenfalls wegen der harschen Dekrete des Präsidenten aufgebracht gegen die Regierung. Bindend ist das Votum des Judges Club nicht, die regierungstreuen Richter und Mitarbeiter der Justizverwaltung werden wohl trotzdem bei der Kontrolle des Referendums helfen.
Das Gericht ist besetzt mit Richtern aus der Mubarak-Zeit
In der delikaten Lage beschuldigen sich beide Blöcke, für den Stillstand verantwortlich zu sein. Spricht man mit Mursi-Anhängern, schimpfen die über das Verfassungsgericht, das im Sommer das von den Muslimbrüdern dominierte Parlament auflöste, damit die Macht der alten Militärriege stärkten und den Reformprozess bremsten. Tatsächlich ist das Gericht immer noch besetzt mit Richtern aus der Mubarak-Zeit, die mehr oder minder auf Lebenszeit eingesetzt sind. Mit ihren Entscheidungen versuchten sie sich offenkundig gegen die Machtübernahme der Muslimbrüder zu stemmen, sie verteidigen aber auch ihre ganz persönlichen Vorteile, die sie durch ihre Ämter bis heute genießen.
Und so waren die harschen Worte der Richter vom Sonntag auch ziemlich übertriebene politische Statements, denn ungeachtet der Menschenmenge rund um das Gericht sicherte die Polizei die Eingänge, immer wieder kamen Angestellte des Gerichts hinein und auch wieder heraus. Die Richter aber sahen den Menschenauflauf wohl als Provokation, die sie nicht stehen lassen wollten.
Es gehört zu den Absurditäten des Machtkampfs, dass genau diese Richter, die sich an ihre Macht klammern, eine letzte Hoffnung der Demonstranten waren, die seit Tagen wieder zu Tausenden gegen Mursi auf die Straße gehen und den Tahrir-Platz im Zentrum Kairos auch über Nacht besetzt halten. Sie wettern gegen den neuen Präsidenten, der zunächst vor knapp zwei Wochen mit umfangreichen Dekreten alle Macht an sich riss und nun im Eiltempo eine Verfassung schreiben ließ, die Ägypten als islamischen Staat auf der Grundlage der Scharia definiert und vor allem bei den religiösen Minderheiten aber auch bei den Frauen und Bürgerrechtlern Ängste vor einem Rückfall in Zeiten einer strikt religiösen und intoleranten Autokratie der Glaubenshüter schürte. Folglich hoffte man hier, dass die Richter den als allmächtigen Pharao beschimpften Mursi aufhalten könnten.
Mit den Ereignissen von Sonntag stehen die Zeichen in Ägypten mehr denn je auf Sturm. Zwar sind die Mursi-Gegner weiterhin längst nicht so geeinigt, wie es Fernsehbilder von Großdemonstrationen vorgaukeln mögen. Gleichwohl werden sie in den kommenden Tagen bis zum angepeilten Referendum Mitte Dezember versuchen, die Gegner der Muslimbrüder, die hauptsächlich aus der gebildeten Mittelschicht in Kairo stammen, zu mobilisieren. Ein nationaler Dialog über die neue Verfassung, den Mursi bei der feierlichen Zeremonie der Übergabe des Verfassungstextes anmahnte, wird in dieser aufgeheizten Stimmung nicht mehr möglich sein. Vielmehr wirkt das Land gespalten in Anhänger und Gegner des neuen Präsidenten. Überall, wo diese beiden Seiten zusammenstoßen, droht immer auch Gewalt.
Die Muslimbrüder sind bestens organisiert
Der Präsident selber wirkt in der Lage mehr als unentschieden, die Chance für einen Dialog hat er schon verpasst. So verständlich sein Frust über die Blockade der Verfassungsrichter im Sommer auch war, so unklug waren seine Dekrete. Gerade Mursi, vom Mubarak-Regime wegen seiner Aktivitäten bei den Muslimbrüdern mehrmals verhaftet und erst von den Revolutionären des ägyptischen Frühlings aus dem Gefängnis befreit, hätte erkennen müssen, dass er die politische Sackgasse, in der er steckte, nicht mit den Mitteln des alten Regimes aufbrechen kann. Stur aber bestätigte er mit den Erlassen den allgegenwärtigen Verdacht, dass er und die Muslimbrüder die Demokratie nur als Vehikel zur Machtergreifung und der endgültigen Schaffung eines strikt religiösen Staats in Ägypten ausnutzen wollen.
Der Verdacht wurde am Sonntag durch die Äußerungen von führenden Muslimbrüdern unterstrichen. In Tweets und Stellungnahmen wetterten sie gegen das Verfassungsgericht und seine Richter. Gleichzeitig aber kündigten sie an, dass die "überwältigende Mehrheit der Ägypter" die neue Verfassung und damit auch die Idee eines straff religiösen Ägyptens unterstützen würden. Die Prophezeiung ist nicht abwegig, denn zum einen wird die Muslimbruderschaft schon durch ihre in allen Ecken Ägyptens bestens organisierte Logistik alle ihre Anhänger an die Wahlurnen bringen. Auf der anderen Seite stehen die einstigen Revolutionäre, die sich nach dem Fall Mubaraks erstmals zerstritten oder schlicht ausruhten, bis heute keine echte Bewegung geworden sind und über keine echte Organisation verfügen.
Das erwartbare Szenario ist erneut absurd: ein Sieg Mursis durch die Macht der Straße. Abseits der Metropole Kairo mit Universitäten und intellektuell geprägten Teehausdiskussionen stehen die Ägypter auf dem Land einem religiöseren Staat nicht unbedingt kritisch gegenüber, zudem sind sie tief frustriert über den Stillstand seit der Revolution, alarmiert durch die stagnierende Wirtschaft und verärgert, dass die alten Recken des Mubarak-Regimes weiterhin mit Korruption und Vetternwirtschaft reich werden. Folglich kann Mursi Mitte Dezember durchaus mit einer breiten Mehrheit für seine Verfassung rechnen. Aus dem Auge verloren hat er dabei, dass ein weiser Präsident auf eine Verfassung setzen würde, die das post-revolutionäre Land eint und nicht endgültig spaltet.