
Ägyptens Opposition Im Zorn vereint
Bilal kann nur noch flüstern. Zuerst war er bloß heiser, dann kam das Krächzen. Jetzt ist seine Stimme praktisch verschwunden. Das hindert Bilal nicht daran, die Slogans der Demonstranten wenigstens mit dem Mund nachzuformen: "Das Volk will den Sturz des Systems" - immer wieder: "Das Volk will den Sturz des Systems". Und jeden Tag, an dem Bilal in Ägyptens Hauptstadt Kairo gegen das Regime von Husni Mubarak demonstriert, scheint dieses Ziel ein Stückchen näher zu rücken.
Seit sechs Tagen ist Bilal fast ständig auf der Straße unterwegs. Auch einige Nächte hat er auf dem "Platz der Befreiung" ausgeharrt, in eine Wolldecke gehüllt, im Schein von Lagerfeuern. Den Platz im Zentrum Kairos haben die Demonstranten am vergangenen Freitag nach stundenlanger Schlacht von der Polizei erobert und seitdem nicht wieder hergegeben. Hier schlägt das Herz der , die den Abgang des ewigen Präsidenten zum Ziel hat.
Bilal trägt einen orangefarbenen Schal, daran kann man ihn fast immer gut erkennen. Wer Bilal in diesen Tagen durch seine Heimatstadt begleitet, erlebt einen beseelten Revolutionär. Seine Familie denkt, er sei bei der Arbeit, seinem Chef ist es egal, dass er statt zu arbeiten lieber demonstriert. Er wusste ja, wen er eingestellt hat. Denn Bilal Diab ist zwar erst 23 Jahre alt, aber er ist ein Veteran des Volksaufstandes gegen die Herrschaft Mubaraks.
Im April 2008 nahmen die Sicherheitsbehörden Aktivisten in Haft, die zum Generalstreik aufgerufen hatten. Ein paar Tage darauf sprach der damalige Premierminister Ahmed Nazif an Bilals Universität. Bilal stellte den Premier öffentlich bloß - indem er ihn aufforderte, die Gefangenen freizulassen. Danach wurde Bilal in alle wichtigen TV-Talkshows des Landes eingeladen. Ob es nicht ein Beweis für eine lebendige Demokratie sei, dass er sich äußern durfte, wurde er gefragt. "Ich musste mich einschleichen, um etwas sagen zu können", entgegnete er. Ein Preis für seine Unbotmäßigkeit war, dass die Universität ihn verspätet graduieren ließ.

Bilal sympathisiert mit mehreren oppositionellen Parteien und Bewegungen. Er will sich nicht festlegen. Er hat seine eigene Facebook-Seite, über die auch er zu den aktuellen Demonstrationen aufrief - jedenfalls so lange, bis die Regierung das Internet in Teilen abschaltete.
Das Regime mag Facebook, Twitter & Co. blockieren, sagt Bilal. "Aber wir blockieren dafür die Regierung." Tatsächlich ist das Land am Nil seit fast einer Woche in Aufruhr. Es gab über hundert Tote, die meisten starben durch Polizeigewalt. In den Straßen steht das Militär, die Opposition greift nach der Macht - nur Präsident Mubarak zeigt sich unbeeindruckt. Jeden Abend machen neue Gerüchte die Runde: Mubarak sei schon geflohen, er werde die Demonstranten niederschießen lassen, das Militär bereite einen Coup vor. Die Stimmung ist fiebrig. Bilal ist trotzdem sicher, dass das Regime vor dem Ende steht. Seit es kein Internet mehr gibt, mobilisiert er selbst im direkten Gespräch.
Beim Start der Revolte haben Online-Netzwerke eine wichtige Rolle gespielt. Es gibt eine Facebook-Seite, die an den durch Polizisten getöteten Blogger Khalid Said erinnert. Sie hat Hunderttausende Anhänger. Als dort zur ersten Massenkundgebung am 25. Januar aufgerufen wurde, dem "Tag der Polizei", sagten 70.000 ihre Teilnahme zu. "Das war wichtig", sagt Bilal. Anders als im April 2008 konnten die Unzufriedenen so ziemlich sicher sein, dass sie nicht alleine sein würden - und nur die Masse bietet etwas Schutz gegen die brutale Polizei. Es kamen mindestens 30.000.
"Jetzt sind wir schon in einer anderen Phase", sagt Bilal. "Die Leute kommen auch ohne Aufforderung, jeder weiß, dass wir weitermachen, bis Mubarak stürzt."
Am Sonntag war Bilal wieder auf dem "Platz der Befreiung". Hier ist das Zentrum des Protests. Auf einer Mauer sitzt eine verschleierte Frau in einem roten Gewand. Sie mag 35 Jahre alt sein, und krault ihrem Sohn die Haare, der sich auf ihren Schoß gelegt hat und sich ausruht. Einige Aktivisten kehren Unrat der vergangenen Nacht zur Seite. "Wir sind zivilisiert", sagen sie. Ein Mann mit Gesichtsverband will seine Geschichte erzählen. Ein anderer berichtet von den Toten, die es gab, als vor dem Innenministerium die Polizei mit scharfer Munition zu schießen begann. Und inmitten dieses Durcheinanders finden sich immer wieder kleinere Gruppen zusammen, einigen sich auf einen Schlachtruf und drehen eine Runde um den Platz. Die Menge schwillt an, und bis zum Sonnenuntergang werden, wie an den Tagen zuvor, Zehntausende versammelt sein.
Bilal winkt und grüßt, er hat viele neue Freunde gefunden. Da stehen die Anhänger von , dem Herausforderer Mubaraks. Und dort die von der Bewegung des 6. April. Bilal muss lachen: "Es ist ein bisschen wie Facebook - nur analog."
Eine Million Menschen zur Mega-Demo am Dienstag
Viele Ströme speisen die ägyptische Revolte, nicht nur die Generation Facebook. Einer von ihnen entspringt ein paar Kilometer vom "Platz der Freiheit" entfernt, im fünften Stock eines alten und etwas heruntergekommenen Gebäudes, im vertäfelten Büro des Intellektuellen und Oppositionellen Abd al-Rahman Jusuf.
Jusuf, 40, ist ein gutaussehender Mann. Er trägt einen dezenten schwarzen Pullover und lutscht neongelbe Halspastillen. Auch er ist heiser, wie könnte es anders sein. Sein Schreibtisch ist wuchtig, die Unterlage aus Krokodilleder-Imitat.
Jusuf ist Poet, das steht sogar auf seiner Visitenkarte. Auf YouTube kann man ihn seine Gedichte vortragen hören, gegenüber Mubarak nimmt er kein Blatt vor den Mund. Bis Dezember war er eine Art Sprecher der Bewegung von ElBaradei, jetzt ist er einfaches, aber prominentes Mitglied. Bevor ElBaradei am vergangenen Donnerstag aus Wien einflog, um sich an die Spitze der Oppositionsbewegung zu setzen, sprach Jusuf auf dem "Platz der Befreiung."
Jusuf steht für ein etwas anderes Lager als Bilal, man könnte ihn als Repräsentant der Zivilgesellschaft einordnen. Diese Gruppe ist ebenfalls diffus, aber etwas organisierter als die Facebooker. Parteien und Gewerkschaften kann man dazurechnen. Dieses Spektrum ist etwas weniger spontan, etwas älter, weniger internetbasiert.

Dabei arbeitet auch Jusuf online. Seine Mailing-Liste erreicht Zehntausende. "An das gesamte ägyptische Volk", beginnt eine der jüngsten E-Mails, die er verschickt hat, "ich rufe euch auf, an den Demonstrationen teilzunehmen. Die Stunde der Wahrheit ist gekommen." Jetzt ist auch er offline, wie fast das ganze Land.
Auch Jusuf glaubt, das Ziel sei nahe. "Mubarak", sagt er, "bleiben Tage, höchstens Wochen." Was ihn antreibt ist sein Glaube, dass das Volk die Geschicke des Landes bestimmen muss, dass man es nicht beiseiteschieben darf, wie es Mubarak tue. "Macht ohne Kontrolle", lautet sein Credo, "weckt in den Menschen das Schlimmste".
Ein Freund bringt Kräutertee, Jusuf schlürft. Natürlich weiß er, dass nicht das gesamte ägyptische Volk gegen Mubarak auf die Straße geht. Dass die Mehrheit der Protestler unter 35 Jahre alt ist. Dass nicht alle, die demonstrieren, dasselbe Ziel verfolgen. "Aber das ist natürlich", macht er geltend. "Da sind Rechte, da sind Linke. Wichtig ist, dass wir die Fesseln der Angst abgelegt haben und unsere Regeln selber machen."
Am Sonntagabend hat ElBaradei erstmals offen nach der Macht gegriffen. Er wolle eine Regierung der nationalen Einheit bilden, gemeinsam mit den Muslimbrüdern und nach Gesprächen mit dem Militär. Jusuf steht bei dem Auftritt an seiner Seite auf dem "Platz der Befreiung". Kurz darauf sind erstmals Pro-Baradei-Sprechchöre zu hören. Aber nicht alle fanden den Auftritt des Nobelpreisträgers inspirierend.
Trotzdem ist ElBaradei jetzt die zentrale Figur der Opposition. Auch Aktivisten wie Bilal können sich damit anfreunden, dass er verhandelt - wenn er denn etwas erreicht, was nicht wie ein fauler Kompromiss aussieht. Nur ist völlig unklar, ob das gelingt. Die Stimmung ist dennoch gut unter den Demonstranten. Viele haben ihre Ängste abgelegt. Faktisch haben sie bereits die volle Demonstrationsfreiheit in Mubaraks Diktatur erzwungen.
Doch es bleibt die Sorge, dass das Regime mit voller Wucht zurückschlagen könnte. Einige Aktivisten wollen daher vorerst bei klandestinen Strukturen bleiben. "Wir haben ein kleines Büro in Kairo", sagt eine Aktivistin. Der Ort sei nur wenigen bekannt. Von dort werde Kontakt gehalten, auch in andere Städte Ägyptens, wo die Lage noch angespannter ist. In Gruppen von sechs Leuten seien sie organisiert, die gewählten Anführer hielten wiederum den Kontakt zu den anderen Gruppen.
Nun mobilisiert die gesamte Opposition für eine neue Großkundgebung, am Dienstag soll eine Million auf die Straße gebracht werden. Abd al-Rahman Jusuf, Bilal Diab und die ungenannte Aktivistin werden dabei sein. Und hoffen, dass Mubarak endlich stürzt.