
Afghanisch-pakistanische Grenze Im Paradies der Glaubenskrieger
In Afghanistan sind die Autos billiger. Rafiullah weiß das genau, er ist in Dschalalabad groß geworden, im Osten Afghanistans: Dort gibt es fast neue Modelle für wenig Geld. Die Wagen wurden irgendwo in der Welt gestohlen und ins Land geschmuggelt. Rafiullah braucht auch ein Auto, hier in Kohistan im Norden Pakistans, wo er seit ein paar Monaten lebt.
Rafiullah, 25, ist ein Aufständischer, er selbst sagt "heiliger Krieger". Hunderte, wahrscheinlich Tausende von ihnen haben sich in den bergigen Norden Pakistans zurückgezogen, um sich zu erholen von den Kämpfen gegen die westlichen Truppen. Pakistan ist ein relativ sicheres Gebiet, die Nato-Soldaten sind weit weg, die pakistanische Armee ist der einzige Gegner hier, "und manchmal sind deren Soldaten ganz nett", sagt Rafiullah. Er hält Kohistan für besonders sicher, "weil es hier im Gegensatz zu den Regionen direkt an der Grenze keine US-Drohnen gibt".
Alle paar Wochen fahre er nach Afghanistan, um Freunde und Verwandte zu besuchen und sich mit Kampfgefährten zu treffen, erzählt Rafiullah. Schon immer habe es einen regen Pendelverkehr zwischen beiden Ländern gegeben. "Jetzt reisen besonders viele nach Afghanistan, weil sie hoffen, dass die westlichen Truppen bald aus unserem Land abziehen und eine neue Zukunft beginnt." Er selbst werde wieder dauerhaft nach Afghanistan gehen, "wenn man mich ruft", sagt er. "Jetzt muss ich dorthin, um ein Auto abzuholen." Leben wolle er vorerst in Pakistan.
Gastfreundschaft im Reich der Extremisten
Aufständische wie Rafiullah werden derzeit umworben, die afghanische Regierung will sie einbinden in die Gesellschaft, sie resozialisieren, der Westen will mit ihren Kommandeuren reden. Es ist eine merkwürdige Situation, denn gleichzeitig bekämpft man sie noch, und die pakistanische Regierung und das Militär bestreiten regelmäßig, dass Pakistan ein sicherer Hafen für Dschihadisten aus Afghanistan sei. Sie behaupten, die Grenze zwischen beiden Ländern werde gut kontrolliert. Aber das ist wohl eine Übertreibung.
Vor allem der Pendelverkehr zwischen Afghanistan und Pakistan müsse besser überwacht werden, fordern hochrangige US-Vertreter. Denn selbst an den offiziellen Grenzübergängen seien die Kontrollen nur unzureichend, ganz zu schweigen von den unübersichtlichen Bergen, wo Patrouillen nahezu unmöglich sind.
Irgendwo hier im Norden soll sich auch al-Qaida-Chef Osama Bin Laden aufhalten, außerdem sein Stellvertreter Aiman al-Sawahiri. Der US-Sender CNN zitierte Anfang der Woche einen namentlich nicht genannten Nato-Mann, wonach die meistgesuchten Männer der Welt sich in der Region Chitral aufhielten, etwa 150 Kilometer nordwestlich von Kohistan. Und zwar nicht in Höhlen, sondern in komfortablen Häusern. Im Juni wurde in Chitral auch ein 52-jähriger Kalifornier mit Nachtsichtgerät, Pistole und einem über einen Meter langen Schwert verhaftet - er wollte Bin Laden töten und das Kopfgeld über 50 Millionen Dollar verdienen.
Auch Kohistan ist ein möglicher Aufenthaltsort des Terroristenchefs. Die Region gilt als Rückzugsgebiet von Extremisten. Kämpfer aus anderen pakistanischen Gebieten und aus Afghanistan halten sich hier auf. Es ist eine gastfreundliche Gegend einerseits - wer kommt und um Verpflegung, Unterkunft oder auch nur einen Tee bittet, wird versorgt. Andererseits ist es eine ultrakonservative Region, dagegen wirkt die Provinzhauptstadt Peschawar geradezu liberal. In Kohistan sind Frauen in der Öffentlichkeit kaum zu sehen, und begegnet man doch einer, wendet sie sich trotz Vollverschleierung sofort ab.
Rafiullah lacht darüber. "So ist halt unsere paschtunische Kultur", sagt er. Sein schwarzer Bart reicht ihm bis zur Brust, er trägt einen strahlendweißen Shalwar Kameez, einen Anzug aus knielangem Hemd und Baumwollhose, und einen dunklen Turban. Er amüsiert sich darüber, dass einem das Fehlen von Frauen in der Öffentlichkeit überhaupt auffällt. "Aber ich kann schon verstehen, dass man das seltsam findet, wenn man aus Islamabad oder New York kommt." Er sagt tatsächlich "Islamabad oder New York", als wären das vergleichbare Städte.
Kohistan könnte ein Urlaubsparadies sein: Berge durchziehen die Landschaft, satt bewaldet, manche mit grünen Terrassen, auf denen Bauern arbeiten. Durch das Tal schlängelt sich ein schmaler Fluss, in dem Kinder baden. Die Flut, die Ende Juli mit dem heftigsten Monsunregen seit Jahrzehnten kam, hatte ihn zu einer reißenden Naturgewalt anwachsen lassen. Das Wasser hatte die Ufer weggerissen und damit auch die Häuser und Autos und Bäume und Stromgeneratoren auf beiden Seiten.
"Was genau sind denn die Taliban?"
Die Region gehört zur Provinz Khyber Pakhtunkhwa. Von der Hauptstadt Islamabad erreicht man Kohistan in etwa neun Autostunden über teils holprige Straßen. An manchen Stellen hat die Flut ganze Dörfer fortgerissen, hier und da steht am Abgrund des neuen Steilufers nur noch ein halbes Haus, die Front ist wie abrasiert, der Boden kann jederzeit wegbrechen; trotzdem leben in den Ruinen Menschen. Geschützt vor dem Wasser, schmiegen sich kleine Häuser in die Bergmassive ein, alle paar Kilometer auch eine Villa.
Rafiullah steigt an einem kühlen Morgen im Oktober in einen alten Toyota Hi-Lux, jenem Fahrzeugtyp, mit dem die Taliban ganz Afghanistan eroberten. Er will zur Grenze und dann weiter nach Afghanistan, um ein Auto von Dschalalabad nach Kohistan zu schmuggeln. Ob er ein Talib ist? Wieder lächelt er. "Was genau sind denn die Taliban?", fragt er zurück. "Taliban heißt Schüler, jemand, der nach Erkenntnis sucht. In diesem Sinne bin ich einer." Er überlegt und ergänzt: "Ansonsten gibt es die Taliban nicht, weder in Afghanistan noch in Pakistan." Und tatsächlich, kaum jemand nennt sich selbst so in diesen Ländern. Trotzdem findet man die Krieger in Nordpakistan schnell, die Menschen in den Städten und Dörfern erzählen ohne zu zögern, wer "zu denen" gehört und wo sie sich aufhalten.
Paschtunen werden kaum kontrolliert
Ein Mann, ebenfalls schwarzer Bart, weiße Kleidung, dunkler Turban, steuert den Pick-up über staubige Bergstraßen zum Karakorum Highway, der kürzere Weg durchs Swat-Tal ist immer noch unterbrochen, die Flut hat eine Brücke weggespült. Über eine Querstraße geht es dann doch noch ins Swat-Tal, weiter auf die Autobahn, dann über Peschawar zum Khyber-Pass. Rafiuallah ist schweigsam, er schaut aus dem Fenster, gelegentlich tippt er auf seinem Mobiltelefon herum, hin und wieder nickt er ein. Fast zehn Stunden sind sie unterwegs bis zu ihrem Ziel, bis nach Torkham, Hauptgrenzübergang zwischen Pakistan und Afghanistan.
Kein Visum? "Kein Problem"
Hier stehen jede Menge Lastwagen, darunter täglich 200 bis 300 mit Gütern für die Nato. Der Nachschub für die westlichen Truppen kommt per Schiff in Karatschi an und geht dann auf dem Landweg nach Afghanistan, ein Großteil über Torkham. Elf Tage lang hatte die pakistanische Regierung die Versorgung kürzlich unterbrochen, nachdem pakistanische Grenzsoldaten von US-Hubschraubern beschossen und getötet worden waren. Extremisten hatten daraufhin mehrere Konvois angegriffen, sie zündeten insgesamt etwa 100 Lastwagen an. Erst als die US-Botschafterin in Islamabad von einem "schrecklichen Unfall" sprach und offiziell um Entschuldigung bat, ließ die Regierung die Lastwagen wieder passieren.
Rafiullah und sein Fahrer lenken an den Lastwagen vorbei. Es ist ein Bild des Irrsinns: auf der einen Spur der Nachschub für die Nato, auf der anderen der Aufständische Rafiuallah, der in Afghanistan gegen jene Soldaten kämpft, für die dieser Nachschub bestimmt ist. Am eisernen Grenztor ist ein Schild angebracht, auf Englisch und Paschtu steht dort: "Möge Frieden auf Erden herrschen". Die Grenzstation wurde mit ausländischer Unterstützung aufgebaut, auch deutsche Polizisten und die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) halfen vor fünf Jahren mit.
Der Fahrer hält ein paar hundert Meter vor der Grenze, Rafiullah will zu Fuß passieren. Auf der anderen Seite wartet ein Freund auf ihn, für die Weiterfahrt nach Dschalalabad. Rafiullah ist afghanischer Staatsbürger, aber da er kein Visum für Pakistan hat, reist er grundsätzlich ohne Papiere. "Das ist kein Problem", sagt er und grinst. Er reibt Zeigefinger und Daumen und sagt: "Man muss die Beamten nur ein bisschen füttern. Und Paschtune sein."
Die pakistanischen Grenzer verdienen je nach Dienstgrad zwischen 6000 und 8000 Rupien im Monat, also zwischen 50 und 67 Euro. Das ist selbst für diese Region wenig Geld. "Ich gebe denen immer 500 Rupien, manche Lastwagenfahrer müssen mehr als 2000 zahlen", sagt Rafiullah. "Nach Reisepässen fragen die meistens nicht, jedenfalls nicht, wenn man wie ein Paschtune aussieht und Paschtu spricht."
Paschtunen empfinden die Grenze als künstliche Trennung
Kinder schieben mit Handkarren von der einen Seite auf die andere, tragen Taschen und Koffer. Während die Schlange von Lastwagen nur langsam vorankommt, gehen Passanten zu Fuß zügig über die Grenze, bei den meisten schauen die Beamten gar nicht richtig hin, niemand will irgendwelche Dokumente sehen. Schmuggler und Krieger haben es hier leicht.
Wer jedoch Punjabi sei, sagt Rafiullah, wer also aus der östlichen Provinz Punjab stamme, werde gefilzt. "Das Militär und der Geheimdienst sind voller Punjabis, das mögen wir Paschtunen nicht." Die fast 2500 Kilometer lange Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan, nach dem britischen Außenminister von Britisch-Indien, Sir Henry Mortimer Durand, Durand-Linie genannt, vermag die Paschtunen nicht zu teilen. Die meisten von ihnen leben auf der pakistanischen Seite, etwa 30 Millionen, und nur halb so viele in Afghanistan, wo sie die größte Bevölkerungsgruppe stellen. "Diese Grenze wurde von Ausländern festgelegt, wir akzeptieren sie nicht", sagt Rafiullah. Und so behandeln auch die Beamten vor Ort diese Grenze: als künstliche Trennung - und als Gelegenheit, um ab und zu etwas Schmiergeld zu kassieren. "Wir müssen nicht über irgendwelche schroffen Berge klettern, um zwischen Afghanistan und Pakistan zu pendeln", sagt Rafiullah.
Der junge Krieger verabschiedet sich. Er hat nur eine Plastiktüte dabei, mit frischer Kleidung für die kommenden zwei, drei Tage. Dann wird er wieder hier stehen, in Torkham, an der Grenze, dann mit einem eigenen Auto, mit dem er zurückkehren wird in das Beinahe-Urlaubsparadies. Er winkt, er begrüßt den Grenzbeamten mit einem kräftigen Schulterklopfer, schüttelt seine Hand, der Händedruck dauert eine Weile, bis sich der Geldschein von seiner Handfläche löst und an der des Beamten kleben bleibt. Dafür wird der garantiert nicht irgendwelche Papiere sehen wollen.
Rafiullah dreht sich nicht mehr um. Er verschwindet nach Afghanistan.