
Afghanische Sicherheitskräfte: MG-Crashkurs in der Wüste
Afghanische Sicherheitskräfte In acht Wochen ans Gewehr
Der Termin steht. Bis spätestens Ende 2014 übernehmen einheimische Sicherheitskräfte die Kontrolle in Afghanistan. So will es Präsident Hamid Karzai, so haben es Uno, USA und der Rest der Delegierten im Juli 2010 in Kabul beschlossen. Bis dahin, so der Plan, soll der Großteil der westlichen Truppen vom Hindukusch abgezogen und die Ausbildung der afghanischen Einheiten abgeschlossen sein. Soweit die Theorie.
Die Praxis in dem durch mehr als 30 Jahre Krieg geschundenen Land sieht anders aus. Von einer eigenständigen Überwachung der Sicherheit sind Afghanistans Armee und Polizei weit entfernt. Drei zentrale Probleme behindern die Entwicklung.
-
Korruption: Vor allem der afghanischen Nationalpolizei eilt ein legendär schlechter Ruf voraus. Laut dem britischen "Independent" wurde allein zwischen Januar 2009 und Mitte 2010 rund ein Fünftel der leitenden Polizei-Angestellten wegen Korruption belangt oder geriet unter den Verdacht der Käuflichkeit. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher liegen. Im aktuellen Korruptionsbericht von
Transparency International belegt Afghanistan weltweit den zweiten Platz, schlimmer ist es nur in Somalia.
Entsprechend gering ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Unabhängigkeit der Sicherheitskräfte. Daran ändern auch Anti-Korruptionsprogramme der Regierung wenig. Laut den Beschlüssen der Kabuler Afghanistan-Konferenz müssen alle Regierungsbeamten künftig ihre Finanzen offenlegen. Teilen der Sicherheitskräfte werden ihre Einsatzregionen im Losverfahren zugeordnet - um das Risiko der Einflussnahme durch Schmiergeld zu verringern. Die Strafen bei erwiesener Käuflichkeit wurden verschärft. Trotzdem bleibt die Korruption eines der Hauptprobleme beim Aufbau eines funktionierenden Sicherheitsapparats.
-
Schlechte Ausbildung: Die Zahl der Sicherheitskräfte steigt, nicht zuletzt mit dem Blick auf einen baldigen Abzug der westlichen Truppen, rapide. Bei einem Briefing im
Pentagon verkündete Nato-Sprecher Jack Kem im Mai einen deutlichen Anstieg, sowohl in den Reihen der Nationalpolizei, als auch bei der Armee. Demnach wuchs die Zahl der afghanischen Soldaten seit November 2009 um 67.000 Mann auf 164.000. Dazu stehen 126.000 Polizisten zur Verfügung, 18 Monate zuvor waren es noch 95.000 gewesen. Rund 400.000 Sicherheitskräfte sollen einmal als Afghan National Security Forces (ANSF) in den 34 Provinzen für Ordnung sorgen.
Für viele Experten handelt es sich dabei jedoch vor allem um einen quantitativen Anstieg, während die Qualität der Truppe weiter zu wünschen übrig lässt.
So zeichnet die Entwicklungsorganisation Oxfam in einem im Mai veröffentlichten Lagebericht ein düsteres Bild von der Situation der ANSF. Danach konzentriere sich etwa die achtwöchige Basis-Ausbildung der Soldaten vor allem auf Gefechtssituationen, während Organisation, Planung und Logistik kaum thematisiert würden. Bei gemeinsamen Einsätzen seien die afghanischen Soldaten damit auf die ständige Kontrolle durch Streitkräfte der internationalen Schutztruppe Isaf angewiesen. Nicht zuletzt behindere die hohe Analphabeten-Quote ein selbstständiges Arbeiten der Einheiten.
Noch dramatischer präsentiert sich laut Oxfam der Ausbildungsstand der Nationalpolizei. Zwar durchliefen, anders als noch bis 2009, inzwischen alle Anwärter ein Pflicht-Trainingsprogramm. Dieses ist jedoch schon nach sechs Wochen beendet, bei manchen Einheiten sogar bereits nach der Hälfte dieser Zeit. Auch hier werde die klassische Polizeiarbeit zugunsten des Umgangs mit der Dienstwaffe vernachlässigt. Viele Afghanen, so schließt Oxfam, sehen in den Polizisten keine vertrauenswürdigen Gesetzeshüter, sondern "gesetzlose, bewaffnete Männer".
-
Unterwanderung durch die Taliban:
Ende Mai detonierte ein Sprengsatz am Rande eines deutsch-afghanischen Sicherheitstreffens in der Provinzhauptstadt Talokan. Zwei Soldaten der Bundeswehr starben, fünf weitere wurden verletzt. Nach bisherigen Erkenntnissen wurde für die Attacke eine Mine im Amtssitz des Gouverneurs versteckt und ferngezündet. Ohne Komplizen in den Reihen der Sicherheitskräfte wäre ein solcher Anschlag kaum durchzuführen.
Der Vorfall fachte die Diskussion um mögliche Anhänger der Taliban in den afghanischen Streitkräften neu an. Nach einer Schätzung des afghanischen Geheimdienstes NDS, die dem SPIEGEL vorliegt, gibt es innerhalb der afghanischen Nationalarmee und der Polizei 130 bis 150 sogenannte Schläfer. Laut "New York Times" wollen die USA rund 80 Spezialisten nach Afghanistan schicken, um die potentiellen Attentäter aufzuspüren und ein Kontrollsystem für zukünftige Rekruten aufzubauen. Denn das Potential für neue Gewalttaten ist groß: Bis zu sieben Prozent aller afghanischen Soldaten und Polizisten identifizieren sich nach NDS-Schätzungen mit dem Gedankengut der Taliban.
Seit 2002 läuft die Ausbildung der afghanischen Einheiten durch ausländische Streitkräfte bereits, nun bleiben noch rund zweieinhalb Jahre, um einen annähernd eigenständigen Sicherheitsapparat aufzubauen. Denn geht der Abzug der westlichen Einheiten geplant zügig voran, birgt er ein enormes Risiko: Die Übergabe der Verwaltung an schlecht ausgebildete lokale Kräfte würde nicht nur ein Macht-, sondern auch ein Sicherheitsvakuum hinterlassen. Laut Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen könnten die Taliban in einem solchen politischen Klima rasch wieder an Einfluss gewinnen. Den Abzugsplan der USA jedenfalls wiesen die Radikalen als "ausschließlich symbolischen Akt" zurück, der sofortige Abzug sei die Lösung des Konflikts.