
Afghanistan Beobachter fürchten massiven Wahlbetrug
Kabul - Noch bevor die ersten Wahllokale geöffnet wurden, griffen die an: Überschattet von Gewalt hat Afghanistan am Samstag zum zweiten Mal seit dem Sturz des Taliban-Regimes 2001 ein neues Parlament gewählt. Wegen der schlechten Sicherheitslage blieben allerdings mehr als 1500 Wahllokale geschlossen. Die Wahlkommission (IEC) musste zudem Unregelmäßigkeiten einräumen. Beobachter befürchten massiven Betrug.
In Kabul verlief die Wahl zwar weitgehend ruhig, dafür gab es umso heftigere Beschwerden. In einem zentralen Wahllokal in der Hauptstadt kam es am Morgen zu einer beinahe handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen dem Uno-Gesandten Stefan de Mistura und dem afghanischen Politiker Ramazan Bashardost. Vor laufenden Kameras attackierte der Afghane den Gesandten der Uno zuerst verbal. "Sie sind ein Lügner", rief der Kritiker von Präsident , "die ganze Wahl ist gefälscht, überall hier wird getrickst."
Später präsentierte Bashadost vor Reportern Belege für seine Vorwürfe: Die angeblich wasserfeste Tinte für die Finger der Wähler war abwaschbar - die Markierung soll eine mehrfache Stimmabgabe verhindern. Nach Angaben der Wahlbeschwerdekommission wurden in zwei Kabuler Wahlbüros diese Probleme registriert.
Ebenso waren selbst im relativ stabilen Kabul viele Markierungsmaschinen, mit denen bereits benutzte Wahlkarten gekennzeichnet werden, schon nach Stunden defekt und wurden nicht mehr benutzt. Laut der Wahlbeschwerdekommission wurden aus mehreren Regionen des Landes verspätete Öffnungen von Wahllokalen, fehlende Stimmzettel und Einschüchterungen gemeldet.
Klar ist schon jetzt, dass es massenhaft Beschwerden geben wird, viele davon sind berechtigt. In den vergangenen Tagen waren Tausende gefälschte Wahlkarten entdeckt worden. Aufgrund der nicht funktionierenden Kontrollinstanzen wurden mit großer Wahrscheinlichkeit viele Fälschungen auch genutzt. Hunderte Kandidaten beschwerten sich, dass sie wegen der schlechten Sicherheitslage keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Wahlkampf führen konnten.
Die Schlangen vor den Wahllokalen in Kabul seien wesentlich kürzer gewesen als bei der Präsidentenwahl im vergangenen Jahr, berichteten Beobachter aus der Hauptstadt. Ersten Auswertungen zufolge gingen nur rund 40 Prozent der Afghanen zur Wahl. In einer Umfrage kurz vor dem Urnengang hatten noch 70 Prozent der Befragten angegeben, sie wollten ihre Stimme abgeben.
Schwere Gefechte in mehreren Distrikten
Ein Grund für die geringe Wahlbeteiligung dürfte die schlechte Sicherheitslage sein. Besonders heftig waren die Taliban-Attacken rund um das deutsche Feldlager in Kunduz in Nordafghanistan. "Wir hatten am Morgen schwere Gefechte und Raketenbeschuss in mehreren Distrikten, mindestens sieben Wahllokale mussten geschlossen werden", sagte Gouverneur Mohammed Omar.
Gruppen von Taliban attackierten laut Omar auch mindestens drei Wahlstationen in der als Hochburg der Aufständischen bekannten Gegend Chahar Darreh südwestlich des deutschen Camps. Dort kam es nach Angaben der Behörden zu heftigen und teilweise stundenlangen Gefechten der Polizei mit den Angreifern.
Auch in zwei weiteren Distrikten von Kunduz wurde erbittert gekämpft statt gewählt. Gouverneur Omar berichtete, dass in Aliabad südlich von Kunduz und Imam Saheb im Norden mindestens 14 Taliban bei Schießereien getötet worden seien. Auch bei der Polizei habe es Opfer gegeben. Dort mussten die Wahlstationen für mehrere Stunden geschlossen werden. Insgesamt gab es nach Regierungsangaben mehr als 40 Tote, darunter 27 Aufständische.
Die Bundeswehr war an den Kämpfen nicht beteiligt. Gouverneur Omar berichtete zwar, die Deutschen hätten anlässlich der Gefechte in Chahar Darreh aus dem Camp heraus Ziele mit schwerer Artillerie beschossen. Von der Bundeswehr hieß es aber, die afghanische Armee habe diese Schüsse abgegeben. Die Truppe meldete lediglich, dass am Morgen bis zu sieben Raketen im weiteren Umfeld des Lagers eingeschlagen seien.
Der Uno-Gesandte zieht eine "gemischte" Bilanz
Rund 63.000 afghanische Soldaten und 52.000 einheimische Polizeibeamte sollten während der Wahl für Sicherheit sorgen. Insgesamt waren mehr als 10,5 Millionen Afghanen aufgerufen, die Volksvertretung Wolesi Dschirga neu zu bestimmen, mehr als 2500 Kandidaten traten an.
Während des Urnengangs habe es 303 gewalttätige Zwischenfälle gegeben, teilte die Nato-Truppe mit - die Wahl sei somit sicherer gewesen als die Präsidentschaftswahl im August 2009, bei der 479 Zwischenfälle gemeldet worden seien. Der Uno-Gesandte de Mistura zog nach eigenen Worten eine "gemischte" Bilanz. "Die Sicherheit war nicht gut", sagte er der britischen BBC. Es habe "viele Zwischenfälle" gegeben, was aber erwartet worden sei. "Wir müssen sehen, inwieweit das die Wahlbeteiligung beeinträchtigt hat."
Kritiker der Wahl dürfen nicht mehr mit der robusten Unterstützung ihrer Klagen aus der internationalen Gemeinschaft rechnen. Sowohl die Nato als auch die einzelnen in Afghanistan engagierten Länder brauchen einen Erfolg - selbst wenn dieser nur herbeigeredet wird. Denn eine freie und faire Wahl gilt als Voraussetzung für weitere Schritte in Richtung Abzug der Truppen. Dieses Ziel ist mittlerweile so fest fixiert, dass die afghanische Realität oft ausgeblendet wird.
Den Afghanen steht nun eine langwierige Auszählung der Wahlzettel bevor, das offizielle Endergebnis wird erst für den 31. Oktober erwartet.