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Explosionen und Schüsse: Taliban-Angriffe in Afghanistan

Foto: Musadeq Sadeq/ AP

Krieg in Afghanistan Taliban melden sich mit Angriffsserie zurück

Mit einer koordinierten Angriffswelle in Kabul und im Osten Afghanistans haben die Taliban die Sicherheitskräfte stundenlang in Atem gehalten. In der Hauptstadt beschossen sie internationale Botschaften, darunter die deutsche. Das Signal ist klar: Der Westen muss weiter mit den Aufständischen rechnen.
Von Matthias Gebauer, Hasnain Kazim und Shoib Najafizada

Kabul - Das Versteck des Kommandos war gut gewählt. Vom obersten Geschoss des unauffälligen Rohbaus gleich gegenüber der iranischen Botschaft im Zentrum Kabuls hat man einen sehr guten Überblick über die vermeintlich sichersten Quadratkilometer der Hauptstadt. Fast zum Greifen nah liegt der schwer gesicherte Regierungspalast des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai.

Noch besser ist von hier die deutsche Botschaft zu sehen, der zweigeschossige Betonbau ist nur einige hundert Meter entfernt. Auch die anderen Landesvertretungen der Nato-Staaten sind nicht weit weg. Für die Handvoll Kämpfer der Taliban war dieser Ort deswegen perfekt. Von hier aus starteten sie am Sonntagmittag einen Angriff, der die Hauptstadt für mehrere Stunden in Atem hielt.

Die Operation begann gegen Mittag. Rund zehn Raketen feuerte das kleine Kommando von einer Handvoll Kämpfer auf die häufig als Green Zone bezeichnete Region in der Hauptstadt ab. Es war der Startschuss für eine offenbar gut koordinierte Anschlagserie im ganzen Land. Neben dem Angriff auf das Regierungsviertel attackierte ein anderes Kommando im Westen Kabuls das afghanische Parlament.

Weitere Kleingruppen der Taliban griffen vor allem im Osten des Landes afghanische Armee- und Regierungseinrichtungen an. Die Taliban selbst nannten die Attacken im ganzen Land im im üblichen Propagandastil den Beginn einer großen Sommeroffensive. Selbst wenn das übertrieben erscheint, haben sie sich am Sonntag dennoch eindrucksvoll zurückgemeldet.

Am Abend wurden erste Opferzahlen veröffentlicht. Nach Angaben des Sprechers des afghanischen Innenministeriums wurden 14 Polizisten und neun Zivilisten in Kabul verletzt. "19 Terroristen wurden getötet aber einige kämpfen noch in der Hauptstadt", sagte Sidiq Sidiqi zu SPIEGEL ONLINE. Auf dem Gelände der deutschen Botschaft schlug eine Rakete ein, es entstand aber nur Sachschaden.

Neben afghanischen Kräften waren in der Stadt auch immer wieder internationale Einheiten der Schutztruppe Isaf zu sehen, die die Afghanen bei den Vorstößen auf das Versteck der Taliban auf der Baustelle unterstützten.

Eigentlich sind für die Sicherheit in Kabul seit mehr als zwei Jahren nur noch das afghanische Militär und die Polizei zuständig, das Ausrücken ausländischer Soldaten zeugt von der Brisanz der aktuellen Vorfälle. Trotzdem lobte General John R. Allen, Kommandeur der Isaf-Truppen im Land, das Einschreiten der lokalen Sicherheitskräfte: "Es macht mich sehr stolz, wie die afghanischen Truppen auf die Situation reagiert haben. Sie waren sofort vor Ort, gut organisiert und koordiniert."

Zuletzt war das diplomatische Viertel der Stadt im September 2011 von einem Kommando der Taliban angegriffen worden, damals galt die Attacke der riesigen US-Botschaft in Kabul.

Aufregung in der deutschen Botschaft

Ganz in der Nähe des Taliban-Verstecks liegt auch die deutsche Botschaft, wie alle anderen diplomatischen Vertretungen seit Jahren wie eine Festung mit mehreren Mauern gegen drohende Bombenanschläge geschützt. Hinter den mächtigen Schutzwällen zeugen die bis auf kleine Luftschlitze zugemauerten Fenster von der fragilen Lage in der afghanischen Hauptstadt.

Kurz nach Beginn der Attacke der Taliban erschütterte gegen 13.30 Uhr eine Explosion das Gelände der Botschaft, vermutlich war eine der von der Baustelle abgefeuerten Raketen knapp hinter der Botschaft eingeschlagen, dort wird seit Monaten an einem neuen Gebäude für die deutsche Vertretung gearbeitet. Die Deutschen kamen mit dem Schrecken davon, Mitarbeiter der Botschaft wurden nicht verletzt.

Wie viel Schaden die anderen Raketen der Taliban in Kabul angerichtet haben, war am Nachmittag kaum auszumachen. Nach Angaben aus Nato-Kreisen wurden neben der deutschen Botschaft auch die britische, russische, japanische, amerikanische und französische Landesvertretung attackiert. In allen Fällen aber scheinen die Raketen nur Sachschaden angerichtet zu haben, auch die Vertretung der Uno in Kabul meldete lediglich kleinere Schäden.

Eindrucksvolles Signal der Taliban

Die afghanische Polizei und mehrere Einheiten von internationalen Kräften riegelten das gesamte Gebiet hermetisch ab und begannen mit dem Sturm der besetzten Baustelle. SPIEGEL-ONLINE-Reporter Shoib Najafizada, der seit Beginn der Kämpfe in der Straße nahe der iranischen Botschaft ausharrte, berichtete per Telefon immer wieder von minutenlangen Schusswechseln und von Explosionen. Mehrmals musste er den Standort wechseln, da es in unmittelbarer Nähe zu Gefechten kam.

Ein Sprecher des afghanischen Innenministeriums, der sich wie einige andere Reporter an einer durch Mauern gesicherten Stelle an der Straße verbarrikadiert hatte, sagte, Polizei und Spezialeinheiten der Armee stürmten die Baustelle von Geschoss zu Geschoss. Mehrmals waren auf der Straße Explosionen aus der Richtung der Baustelle zu hören.

Die Operation der Taliban, so jedenfalls die Deutung westlicher Diplomaten und einflussreicher Politiker der afghanischen Regierung, war weitgehend symbolischer Natur. Mit der spektakulären Aktion, rund einen Monat vor dem Nato-Gipfel in Chicago, haben sie sich eindrucksvoll auf der Bildfläche zurückgemeldet. Im Herzen von Kabul bewiesen sie mit der Attacke wieder einmal, dass ihre Kämpfer jederzeit zu koordinierten Attacken mit mehreren Gruppen von Kämpfern innerhalb der mit großem Aufwand geschützten Hauptstadt in der Lage sind.

Angriffe belegen die angespannte Sicherheitslage

Die Fernsehbilder aus Kabul dürften in den westlichen Hauptstädten nur ungern gesehen werden. Die Kampfszenen wollen so gar nicht zu der auch in Deutschland gern verbreiteten These passen, die Lage in Afghanistan habe sich in den letzten Monaten erheblich gebessert. Beim Treffen der Staatschefs in Chicago soll es vor allem um die Details des Abzugs der westlichen Truppen, die geplante Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen und die weitere Unterstützung der Regierung und des Militärs danach gehen.

Dagegen belegen die Szenen vom Sonntag, dass der Machtkampf in Afghanistan noch lange nicht entschieden ist. Die Attacken, sagte ein erfahrener Diplomat, seien "eine Art Lebenszeichen der Aufständischen".

Erst kürzlich hatten die Taliban die mühsamen Anbahnungsversuche für politische Gespräche zwischen ihnen und den USA demonstrativ abgebrochen. Dass sie nun mit einer spektakulären Attacke in Kabul und landesweit zuschlagen, könnte der Auftakt für ein blutiges Jahr 2012 sein.

Mehrere Attacken im ganzen Stadtgebiet

Schließlich war die Attacke im Zentrum von Kabul nur eine von mindestens drei Operationen der Taliban in der Hauptstadt. Im Osten der unübersichtlichen Millionenstadt attackierten mehrere Kämpfer Einrichtungen der Regierung, über Opfer und den Ablauf der Kämpfe dort war jedoch wenig zu erfahren.

Im Westen der Stadt attackierte ein Kommando der Taliban das afghanische Parlament. Offenbar versuchte eine Gruppe von Angreifern zunächst, das Gebäude selbst zu stürmen, wurden aber von Wächtern und einigen Parlamentariern, die umgehend selbst zur Waffe griffen, zurückgeschlagen.

Wie im Zentrum kam es danach zu stundenlangen Kämpfen zwischen den Sicherheitskräften und den Kämpfern, die sich wie im Zentrum in einer der oberen Etagen eines Hauses verschanzten. Die lokale Polizei sprach von mindestens zehn Taliban, die sich in einem Gebäude der afghanischen Nationalbank versteckt hielten und erbittert mit der Polizei kämpfen würden.

Über die Angriffe im Rest des Landes war zunächst nur wenig zu erfahren, allerdings meldeten lokale Journalisten aus Jalalabad im Osten Afghanistans einen Angriff auf die dortige Basis des US-Militärs. In anderen Landesteilen gab es Attacken auf afghanische Regierungseinrichtungen.

"Der Rest der Welt hat aufgegeben"

Für Amrullah Saleh, bis 2010 Chef des afghanischen Geheimdienstes NDS, sind die Angriffe der Taliban, die Kämpfe wie auch die Gespräche mit ihnen Nebenschauplätze. Mit Blick auf den Abzug der alliierten Streitkräfte aus Afghanistan im Jahr 2014 müssten sie nur noch abwarten auf ihre Chance, zurück an die Macht zu kommen. "Die Taliban haben mehr als zehn Jahre Krieg gegen die Nato überstanden. Sie sagen sich: 'Wir haben den Marathon so gut wie überstanden. Es ist nur noch ein Kilometer bis zum Ziel.'"

Es sei also nur noch ein kurzer Weg, wieder über Afghanistan zu herrschen. Diesem Ziel, so Saleh, der als junger Mann auf Seiten der Nordallianz gegen die Taliban kämpfte, sähen sie mit Gewissheit entgegen. Weder der Friedensprozess noch die neuerliche Frühlingsoffensive spielten dabei eine Rolle. Im Gespräch mit dem US-Nachrichtensender ABN zeichnet Saleh ein düsteres Bild: "Es sind nicht die Taliban, die ihre Agenda aufgegeben haben. Es ist der Rest der Welt, der aufgegeben hat."

Ein Taliban-Sprecher, der sich nach eigenen Angaben "im Süden von Afghanistan" aufhielt und dessen Authentizität SPIEGEL ONLINE nicht überprüfen konnte, sagte am Telefon: "Wir werden kämpfen, bis wir erreicht haben, was wir wollen: ein Afghanistan nach den Regeln des Islam." Die Taliban würden inzwischen "wieder mehr Zustimmung" erfahren. Nach seiner Meinung würden die Taliban "wenige Monate nach Abzug des Westens" wieder die Kontrolle über Afghanistan übernehmen.

Tatsächlich sind solche Behauptungen Übertreibungen, um die eigene Schwäche zu kaschieren. Die Demonstration von Macht und Stärke durch solche Aussagen und durch den Angriff auf das Diplomatenviertel in Kabul sind weit größer als der militärische Schaden, den die Taliban anrichten.

mgb/kaz
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