
Kidnapping-Opfer Abu Sisi: Im Zug nach Kiew verschwunden
Agententhriller in Nahost Der lange Arm des Mossad
Kiew/Gaza - Es war ein klirrend kalter Februartag, an dem Dirar Abu Sisi zum letzten Mal lebend gesehen wurde. Der palästinensische Ingenieur aus dem Gaza-Streifen war in der Ukraine, um den Umzug dorthin vorzubereiten: Er, seine ukrainische Frau Veronika und die sechs Kinder wollten endlich raus aus dem Gaza-Streifen. Während Abu Sisi sich um die notwendigen Papiere kümmerte, wohnte er bei seinen Schwiegereltern im ostukrainischen Charkow. Am 18. Februar stieg der 42-Jährige dort in einen Zug in Richtung Kiew. Er wollte seinen Bruder treffen, der seit vielen Jahren in Amsterdam lebt und für das Wiedersehen in die Ukraine geflogen war. Doch Abu Sisi kam nie in Kiew an.
Was genau in jenem Zeitraum geschah, in dem Abu Sisi verschwand, ist bislang nur in Umrissen bekannt: Zwei Männer in Zivil sollen in der Nacht auf den 19. Februar den Waggon bestiegen haben, in dem Abu Sisi nach Kiew fuhr. Das berichteten ein Schaffner und der Zugbegleiter nach dem Verschwinden des Palästinensers. Die Fremden hätten den Passagier gegen ein Uhr nachts mit sich genommen und seien aus dem Zug gestiegen. Später widerriefen die Eisenbahner ihre Aussagen. Seither wollen sie nichts gesehen haben.
Die plötzliche Vergesslichkeit der Zugbegleiter könnte eine einfache Erklärung haben: Aus westlichen Geheimdienstkreisen ist zu hören, dass ukrainische Agenten den Palästinenser entführt haben sollen. Kurze Zeit später hätten die Europäer ihr Opfer an die Israelis übergeben, die das Kidnapping bei den ukrainischen Kollegen geradezu in Auftrag gegeben hätten.
Israel habe Abu Sisi als hochrangigen Hamas-Mann und Geheimnisträger ausgemacht, so ein Informant. "Wenn der Mossad einen solchen Aufwand treibt und den Mann seit nunmehr sechs Wochen verhört, dann weiß er etwas, was Israel unbedingt aus ihm herausbekommen will", so der Insider, der anonym bleiben möchte. Wäre Abu Sisi nur ein "Ärgernis", hätte man ihn liquidiert.
Jerusalem vermute, dass er Informationen zum Schicksal des vor viereinhalb Jahren von der Hamas entführten israelischen Soldaten Gilad Schalit haben könne, so eine andere Quelle. Seit der Entführung des heute 24-Jährigen verhandeln Israel und die Hamas - teils mit deutscher Vermittlung - über einen Gefangenenaustausch. Gegen die Freilassung des mutmaßlich im Gaza-Streifen festgehaltenen Soldaten will die Hamas über 1000 Palästinenser aus israelischen Gefängnissen entlassen sehen. Jerusalem hat die Hoffnung, Schalit in einer Kommando-Aktion zu befreien, nie ganz aufgegeben. Doch dazu müssten seine Sicherheitskräfte wissen, wo der junge Mann festgehalten wird - eine Information, die sie sich anscheinend von Abu Sisi erhoffen.
Veronika Abu Sisi trifft auf eine Mauer des Schweigens
Von all diesem ahnte Veronika Abu Sisi Mitte Februar noch nichts. Doch als sie hörte, dass ihr Mann nicht zu dem Treffen mit seinem Bruder erschienen war, wurde ihr daheim im Gaza-Streifen mulmig. Als er am Tag später immer noch nicht aufgetaucht war, schlug sie Alarm. Sie sprach bei der Uno und israelischen Menschenrechtsanwälten vor, versuchte herauszubekommen, was ihrem Mann zugestoßen war.
Ihre größte Angst: Ihr Mann könnte einem politischen Mord zum Opfer gefallen sein. Der Fall des Hamas-Waffeneinkäufers Mahmud al-Mabhuhs, der im Januar 2010 von einem israelischen Killerkommando in Dubai getötet wurde, ist im Gaza-Streifen noch lebhaft in Erinnerung. Auch der Fall eines nahezu spurlos in einem israelischen Gefängnis verschwundenen Mannes dürfte die Sorge Veronika Abu Sisis um das Schicksal ihres Mannes geschürt haben. Im Mai vergangenen Jahres wurde bekannt, dass ein sogenannter Mister X in einem Hochsicherheitsgefängnis in Israel festgehalten wird - schon seit Jahren und ohne dass je Anklage erhoben wurde.
Die Angst, ihr Mann könne getötet worden sein, erwies sich am 27. Februar als unbegründet. Acht Tage nach seinem Verschwinden meldete sich Abu Sisi bei seiner Frau: In einem kurzen Telefonat berichtet er, er werde in einem Gefängnis im israelischen Aschkelon festgehalten.
Nun glaubte Veronika, zu wissen, woran sie war: Ihr Mann sei vom israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad gekidnapped und nach Israel verschleppt worden, erzählte sie Reportern und Menschenrechtsaktivisten. Um herauszufinden, was genau geschehen war, trat Veronika Abu Sisi eine gefährliche Reise an. Sie ließ ihre sechs Kinder in der Obhut ihrer Schwiegermutter und krabbelte durch einen Schmuggeltunnel vom Gaza-Streifen nach Ägypten. Von dort aus flog sie nach Kiew - nur um dort auf eine Mauer des Schweigens zu stoßen.
Zwar gestand eine Sprecherin des ukrainischen Außenministeriums Anfang März ein, dass Abu Sisi "unter unbekannten Umständen" verschwunden sei. Doch der Geheimdienst SBU wollte von nichts wissen. Der Dienst habe nichts Außergewöhnliches bemerkt, hieß es Woche um Woche.
Licht ins Dunkel kam erst, als Israel am 20. März zugab, man habe Abu Sisi in seiner Gewalt. Dank der Klage einer Menschenrechtsorganisation war zuvor eine Nachrichtensperre, die es der israelischen Presse und in Israel akkreditierten Korrespondenten verbot, über Abu Sisi zu berichten, in Teilen aufgehoben worden. Doch weite Teile des Falls sind immer noch mit Berichtsverbot belegt. So ist bis heute unbekannt, was Abu Sisi offiziell vorgeworfen wird.
Als der Gaza-Krieg ausbrach, hatten sie genug
Dirar und Veronika: Die beiden hatten sich 1998 kennengelernt. Sie, damals 19 Jahre alt, war Violin-Schülerin an der Musik-Schule von Charkow, er arbeitete nebenan am Institut für Agrarwissenschaften an seiner Doktorarbeit. Noch im selben Jahr heirateten die beiden, sie konvertierte ihm zuliebe zum Islam, machte sich bereit, in den Gaza-Streifen umzusiedeln. Zwölf Jahre lang lebten sie dort: Er arbeitete als Manager des einzigen Elektrizitätswerks des Küstenstreifens, sie widmete sich ihrer stetig wachsenden Kinderschar. Sie wären glücklich gewesen, doch die politische Lage machte den Alltag zur ständigen Gefahr: Israels Blockade des Gaza-Streifens, Raketen, Bomben, Mangelwirtschaft.
2008, als der Gaza-Krieg begann, hatten sie genug. "Am Donnerstag hatte ich unser sechstes Kind zur Welt gebracht, am Samstag begann der Krieg. Wir beschlossen, zurückzugehen in mein Heimatland", sagte die 32-Jährige der "Kyivpost". Ihren Mann beschreibt sie als "absolut unpolitisch".
Vorerst ist Veronika wieder bei ihren Eltern eingezogen. Sie sitzt in deren Plattenbauwohnung in Charkow und sorgt sich. Vergangene Woche durfte ihr Mann erstmals zwei von ihr beauftragte israelische Anwälte treffen. "Sie sagen, er habe Probleme mit dem Herzen, eine Nierenentzündung und erhöhten Blutdruck", so Veronika Abu Sisi. Ihr Mann habe 13 Kilo abgenommen.
Wie lange ihre Kinder noch auf die Heimkehr des Vaters warten müssen, steht in den Sternen. Am Sonntag schmetterte ein Gericht einen Widerspruch gegen Abu Sisis anhaltende Inhaftierung ab.