Philosophin Ágnes Heller über die Wahl "Orbán zerstört die Seele Ungarns"

Viktor Orbán
Foto: LEONHARD FOEGER/ REUTERSSeit Jahrzehnten ist die Philosophin Ágnes Heller eine laute Stimme gegen den Totalitarismus - und eine der prominentesten Kritikerinnen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Als junges Mädchen überlebte sie im Budapester Ghetto den Holocaust und eine geplante Erschießung durch die faschistische und antisemitische Partei der Pfeilkreuzler. Später studierte sie bei dem marxistischen Philosophen György Lukács und gehörte später zur reformmarxistischen "Budapester Schule".
Nach einem Berufsverbot Anfang der Siebzigerjahre und immer größeren persönlichen Schikanen durch das kommunistische Regime ging sie 1977 zusammen mit ihrem damaligen Mann Ferenc Fehér ins Exil nach Australien. Später zog Heller in die USA, wo sie an der New School for Social Research in New York Hannah Arendts Lehrstuhl für Philosophie innehatte.

Ágnes Heller
Foto: Alexander SmoltczykNach dem Ende der sozialistischen Diktatur kehrte sie nach Ungarn zurück und lebt seitdem in Budapest. Heute ist Heller 88 Jahre alt, publizistisch noch sehr aktiv und setzt sich in Schriften und Büchern mit den modernen Formen des Totalitarismus auseinander.
Ende des vergangenen Jahres sorgte ihr Vorschlag, die ungarische Opposition solle gemeinsam zur Wahl antreten, auch unter Einbeziehung der ehemals rechtsextremen Partei Jobbik, für eine große Kontroverse.
SPIEGEL ONLINE: Frau Heller, bei der Parlamentswahl in Ungarn am Sonntag ist eingetreten, wovor Sie gewarnt haben: Viktor Orbán hat erneut sehr hoch gewonnen und wird vermutlich sogar eine Zwei-Drittel-Mehrheit bekommen. Wie kommentieren Sie das Wahlergebnis?
Heller: Jeder mit Acht-Klassen-Abschluss hat sich das vorher ausrechnen können. Wenn es nur zwei oppositionelle Parteilisten und in jedem Direktwahlkreis nur einen Oppositionskandidaten gegeben hätte, hätte man Orbán besiegen können. Stattdessen hat die Opposition über ihre ideologischen Unterschiede diskutiert. Wenn ihre Anführer erst einmal im Gefängnis sitzen, dann können sie sich ihre ideologischen Unterschiede gegenseitig durch die Mauern zuklopfen.
SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie wirklich, Orbán will seine Kritiker und Gegner ins Gefängnis bringen?
Heller: Ich glaube nichts, sondern ich nehme Orbáns Worte ernst. In seiner Rede zum Nationalfeiertag am 15. März hat er allen Kritikern angedroht, er werde sich nach der Wahl politische, moralische und juristische Genugtuung verschaffen. Für ihn sind die Oppositionsparteien und Nichtregierungsorganisationen Vertreter einer globalen, gegen Ungarn gerichteten Verschwörung. Das heißt, sie sind Landes- und Hochverräter. Und was macht man mit denen? Man steckt sie ins Gefängnis.
SPIEGEL ONLINE: Ungarn ist immerhin Mitglied der Europäischen Union und von russischen oder türkischen Verhältnissen weit entfernt.
Heller: Ja, so denken auch viele EU-Politiker und die EU-Bürokraten. Es sei alles nur halb so schlimm, es habe ja immerhin eine Wahl gegeben, Orbán habe sie mit großer Mehrheit gewonnen. Ich denke, man sollte die Botschaften von Orbán nicht kleinreden und sich keine Illusionen machen. Man sollte die Dinge beim Namen nennen. Ich warne davor, dass hier ein machthungriges Ungeheuer am Werk ist, das die Dinge bis zur Eskalation treibt.
SPIEGEL ONLINE: Ist Ungarn Ihrer Ansicht nach noch eine Demokratie oder schon eine Diktatur?
Heller: Der "Orbánismus" ist ein extremer Typ der verschiedenen politischen Gebilde, die die moderne Massengesellschaft erzeugt hat. Eine Tyrannei, die alle vier Jahre in Wahlen abgesegnet wird. Sie stützt sich auf eine reich gewordene Klientel, deren Loyalität erkauft ist. Ihre Massenwirkung entfaltet sie durch ihre extremistische Ideologie. Deren Elemente sind ein rassistischer Nationalismus, Feindbildproduktion, die Erzeugung eines Bedrohungsgefühls, der permanente Kampf gegen etwas oder jemanden, der Ungarn vernichten will, wobei Orbán der Beschützer und Retter ist. Die Seele des Volkes wird mit Hass und Furcht vergiftet.
SPIEGEL ONLINE: Geht von Orbáns Ordnung eine Gefahr für Europa aus?
Heller: Ja. Ungarn ist für Orbán inzwischen zu eng geworden, er denkt in großen Dimensionen. Er möchte ein Führer in der europäischen Politik werden. Das schien vor zehn Jahren noch absurd, heute ist es das nicht mehr. Der "Orbánismus" ist ein sich schnell ausbreitender, gefährlicher Virus, an dem nicht nur die ungarische Freiheit, sondern auch alles, was die europäische Aufklärung ausmacht, sterben kann. Ich kann nur sagen: Achtung, Europa!
SPIEGEL ONLINE: In Orbáns Parteienfamilie, der Europäischen Volkspartei, zu der auch die CDU und die CSU gehören, sind viele Politiker überzeugt, dass ein gewisser Ausgleich mit Orbán doch gelingen könnte. Was denken Sie?
Heller: Weder innen- noch außenpolitisch hat es in den letzten acht Jahren einen solchen Ausgleich gegeben. Ich habe das schon früh vorausgesagt. Machthunger kennt keine Grenzen. So wie wir früher vergeblich auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz gehofft haben, so wenig kann man jetzt auf eine Orbán-Ordnung mit menschlichem Antlitz hoffen.
SPIEGEL ONLINE: Im Rückblick auf die letzten acht Jahre der Orbán-Herrschaft erscheinen die Umwälzungen, die Ungarn erlebt hat, in ihrer Massivität und Radikalität manchmal ungeheuerlich. Wie konnte das geschehen?
Heller: Orbán kam 2010 an die Macht, weil die Vorgängerregierungen schlecht und schwach waren. Einmal an der Macht, ließ er sofort die Gesetze ändern und die Verhältnisse umkrempeln, angefangen von den Medien bis hin zur Justiz. Der größere Kontext der ungarischen Entwicklung sind Konflikte, vor den viele Beobachter, darunter auch ich, seit Jahren warnen. Etwa der Konflikt in der EU zwischen Zentrum und Peripherie oder das Problem der Brüsseler Bürokratie...
SPIEGEL ONLINE: ... gegen die Orbán so gerne hetzt.
Heller: Es bedarf nicht eines Viktor Orbán, um festzustellen, dass es eine Brüsseler Bürokratie gibt, die den Menschen Europa und das Wesen des Europäischseins nicht vermitteln kann.
SPIEGEL ONLINE: Warum konnte Orbáns Regierung so oft gegen europäische Werte verstoßen, ohne dass dies bisher wirksame Sanktionen der EU nach sich zog?
Heller: Es gibt keine europäische Verfassung, demzufolge kann man auch keine festgeschriebenen europäischen Werte verletzen. Wenn es eine solche Verfassung gäbe, wäre vieles einfacher.
SPIEGEL ONLINE: Sie selbst sind immer wieder Ziel verbaler Attacken und Kampagnen in regierungstreuen Medien. Haben Sie Angst?
Heller: Nein. Ich habe schon viel Schlechteres erlebt in meinem Leben. Ich sorge mich nicht um mich, sondern um Ungarn. Orbán lehrt die Menschen zu hassen. Er zerstört die Seele dieses Landes.